Johann-Heinrich-Voß-Preis

The »Johann-Heinrich-Voß-Preis für Übersetzung« (Prize for Translation) has been awarded by the German Academy for Language and Literature since 1958 for the »outstanding achievements in translation,« with a particular emphasis on the translation of literature into German.
The prize is awarded annually at the spring conference of the German Academy.
The Johann Heinrich Voß Prize has been endowed with €20,000 since 2002.

Stefan Moster

Translator
Born 16/8/1964

Für die subtilsten Bedeutungsnuancen wie für Klang und Rhythmus des finnischen Textes findet er überzeugende Entsprechungen im Deutschen.

Jury members
Daniel Göske, Susanne Lange, Gabriele Leupold (Vorsitz), Terézia Mora, Ernst Osterkamp, Ulf Stolterfoht und Anne Weber

Laudatory Address by Susanne Gretter

„Die Magie der Übersetzung“

An einem Julitag im Jahr 2008 sitzt Stefan Moster mit zweihundert Menschen in einer Schulturnhalle im finnischen Kustavi. Jedes Jahr findet dort im Sommer ein Literatur-Festival statt. Eine Woche lang wird ein Schriftsteller gefeiert, der Weltliteratur schrieb, den aber außerhalb von Finnland fast niemand kennt. Der Schriftsteller heißt Volter Kilpi, er lebte von 1874 bis 1939 und ist in Kustavi geboren und aufgewachsen.

Aus der ersten Reihe blickt Moster auf eine Sprossenwand, an der ein Tau befestigt ist. Ein Schauspieler legt es sich über die Schulter und stemmt sich hinein, als zöge er eine schwere Last.Dabei trägt er Teile der Erzählung „Der Wanderer auf dem Eis“ vor. Sie stammt aus dem zweiten Teil der Schärentrilogie, an der Volter Kilpi insgesamt dreizehn Jahre gearbeitet hat. Moster horcht auf. „Diese Sprache meinte es ernst“. Das fällt ihm sofort auf. „Sie setzte alle Mittel ein, um ihrem Gegenstand gerecht zu werden, war sich der Bedeutung von Rhythmus und Klang bewusst und wagte sich zugleich an das Pathos heran, das man nicht scheuen darf, wenn man Existentielles zu sagen hat. Zugleich besaß diese Sprache einen Ton, der aufmerken und dahinter einen eigenwilligen Geist vermuten ließ.“

Stefan Moster weiß sofort, diesen Autor will ich übersetzen. Vermutlich springt in diesem Moment bereits etwas vom Pathos Kilpis‘ auf ihn über. „Du musst das machen“, habe da jemand zu ihm gesagt. Und das sei Kilpi selbst gewesen. Es scheint fast so, als wäre Volter Kilpi allein zu diesem Zweck nach knapp siebzig Jahren noch einmal von den Toten auferstanden, um auf einer Bank in der ersten Reihe einer Schulturnhalle neben dem 44-jährigen Übersetzer aus Mainz Platz zu nehmen, ihm die Hand auf die Schulter zu legen und ihm beschwörend ins Ohr zu raunen „Du musst das machen“.

Zu dieser Zeit ist Stefan Moster bereits ein gefragter Übersetzer, einer der besten aus dem überschaubaren Kreis der Finnisch-Übersetzer. Außerdem ist er inzwischen selbst als Schriftsteller hervorgetreten. Seinen ersten Roman, „Die Unmöglichkeit des vierhändigen Spiels“ würdigte die Literarische Welt so: er „glänzt mit klugen Weltbeobachtungen und erinnert in seiner Sprache an Joseph Conrad“.

Doch 2008 fühlt er sich Volter Kilpi noch nicht gewachsen, er muss ihn vertrösten: „Ich sagte nicht nein, aber wenn man weiß, dass man etwas nicht kann, darf man es nicht tun. Es brauchte noch zehn Jahre und ca. vierzig übersetzte Bücher, bis ich das Gefühl hatte, mit dem nötigen Rüstzeug ausgestattet zu sein“, wird Moster später in einem Interview berichten.

Ich habe Stefan Moster Anfang der Nullerjahre kennengelernt. 2003 erschien unser erstes gemeinsames Buch. Ich sage das so, denn ich spürte von Anfang an eine gewisse Komplizenschaft in der Zusammenarbeit mit ihm. Es war Petri Tamminens „Der Eros des Nordens“, das Original war bei Otava erschienen, dem Verlag von Volter Kilpi, bekannt für anspruchsvolle Literatur. Wörtlich übersetzt hieß das Buch „Falsche Einstellung“. Mit dem Titel „Eros des Nordens“ wollten wir es wohl ein wenig auf finnisch frisieren.

Und dementsprechend haben wir es promoted, mit einem „Lakonisch, Finnisch, Schräg“.

Ich gehörte zu den Verlags-Lektor*innen, die sich plötzlich für finnische Literatur interessierten, die im Windschatten der inzwischen etablierten skandinavischen Literatur aufgetaucht war. Da gab es etwas zu entdecken. Für meine neue Ambition fehlte mir allerdings jede Voraussetzung. Finnland, das waren für mich die Filme von Aki Kaurismäki mit seinen wortkargen Protagonisten. Melancholische Menschen, ausgestattet mit viel schwarzem Humor und einem Kühlschrank voller Alkohol. Ich wusste so gut wie nichts über die Geschichte der finnischen Literatur.Auch kannte ich die Sprache nicht, wusste nichts über deren Ursprung, über deren Besonderheiten in Satzbau, Grammatik. Finnisch funktioniert wie ein Baukasten, bei dem die Endungen wichtig sind, habe ich von Stefan Moster gelernt. Es gibt kein Genus, kein er, kein sie und kein es. Es gibt keine Präpositionen. Man könne sich beim Übersetzen nicht ans Original anlehnen, müsse völlig aus dem Finnischen herausgehen, ganz ins Deutsche hinein.

Stefan Moster geht bei seinen Übersetzungen immer „ganz ins Deutsche hinein“. Und so konnte ich als eine, die des Finnischen nicht mächtig war, frei zu Werke gehen. Den deutschen Text auf seine Qualität, auf seine Sprachwirkung hin betrachten. Seinen Klang, seine Tonalität wirken lassen.

Apropos Klang: Auf die Frage eines Journalisten, was denn der bisherige Höhepunkt seiner Arbeit gewesen sei, sagte Moster 2020: „Ich empfinde es als Höhepunkt, wenn ich mit Musikern zusammenarbeiten darf.“ Zwei seiner eigenen Romane handeln von Musik, er hat das Libretto für eine moderne Oper geschrieben, und im Herbst des Jahres wird ein erzählendes Sachbuch mit dem Titel „Vom Glück im Chor zu singen“ erscheinen. Ist an dem Schriftsteller und Übersetzer Stefan Moster vielleicht ein Musiker verloren gegangen? Wer weiß? Aber mit seinem musikalischen Empfinden, seinem Gespür für Rhythmus und Klang, gibt er als Übersetzer seinen Texten den je eigenen Ton mit. Seine klangliche und sprachliche Variationsfähigkeit kommt aus der Musik.

Doch zurück zu unserer Zusammenarbeit: Wie kommen wir Lektor*innen ohne Finnisch-Kenntnisse zu den Büchern, die wir unbedingt veröffentlichen sollten? Durch Empfehlungen – Empfehlungen von Menschen unseres Vertrauens. Stefan Mosters Empfehlungen zeichneten sich nie durch Überschwänglichkeit aus, als ginge es darum, den nächsten Übersetzungsauftrag an Land zu ziehen, das hatte er gar nicht nötig. Immer machte er auch auf Schwächen im Text aufmerksam.

Nicht zimperlich war er, wenn er von einem Text abriet. Als wir ihn einmal um eine rasche Einschätzung zu einem Titel baten, der auf der Frankfurter Buchmesse heiß gehandelt wurde, antwortete er prompt: „Alles ziemlich düster, streckenweise redundant, durchweg ambitioniert, passagenweise gelungen, aber durchsetzt von grauenvollen Klischees und insgesamt eher grobschlächtig zusammengehämmert. Kann sein, dass ein echter Krimi-Enthusiast das trotzdem einigermaßen erträglich findet, mir ging es v.a. dort, wo es Längen hatte und erst recht dort, wo es einen auf schwer maskulin machte, ziemlich auf den Geist. Positiv ausgedrückt: Der Autor hat Technik und Erzählökonomie noch nicht ganz im Griff, ist aber schwer beeindruckt von sich selbst und unerschütterlich in der Überzeugung, Großes geleistet zu haben.“

Das Buch ist ein Jahr später in einem anderen Verlag erschienen, gehört hat man nichts mehr davon.

Von mir aus gesehen fielen die ersten Jahre unserer Zusammenarbeit in einePionierzeit der neuen finnischen Literatur im deutschen Sprachbereich, die natürlich nicht nur bei Suhrkamp erschien.

Stefan Moster gab Petri Tamminens „Verstecken“ (2005) poetische Zartheit. (Während wir etwas gröber von dessen lakonisch-melancholisch-finnischem Humor sprachen.) Er versah den dialoglastigen Kriminalroman „Schwarzer Himmel“ (2012) des finnischen Erfolgsautors Tapani Bagge mit dem passenden forciert amerikanischen Slang. (Wir verkauften ihn mit einem „Cool, dreist, finnisch“.) Er gab der arbeitslosen Protagonistin von Mikko Rimminens „Der Tag der roten Nasen“ (2014) einfühlsam und tastend ihre Sprache wieder, holte sie aus ihrer wortkargen Einsamkeit zurück. Er folgte Rosa Liksom, die in ihrer postmodernen Satire „Crazeland“ (1999) gleich drei verschiedene Dialekte einsetzte. Und fand dafür eindringliche deutsche Entsprechungen. Eine übersetzerische Herausforderung, die er bravourös meisterte.

Während wir in den Verlagen Stefan Mosters Vermittlungsarbeit also noch flapsig konterkarierten und uns bemühten, aus jeder Autorin und jedem Autor einen „Kaurismäki der Literatur“ zu machen, hatte sich gezeigt, dass es sich bei der finnischen Literatur, die er uns vorschlug, um europäische, um Weltliteratur handelt.

2014 wurde dem auch Ausdruck gegeben: Finnland war das Gastland auf der Frankfurter Buchmesse. 220 Neuerscheinungen hatten die Finnen im Gepäck, ich habe Stefan Moster nicht gefragt, wie viele davon er übersetzt hat.

Ich sage es etwas pathetisch, aber Pathos ist hier angebracht: Ohne Stefan Moster hätte dieser Auftritt nicht stattgefunden. Ohne seine Vermittlung hätte sich die finnische Literatur auf dem deutschen Buchmarkt nicht in so kurzer Zeit etablieren können. (Ich weiß, er würde mir jetzt gern widersprechen.)

2018, also zehn Jahre, nachdem Stefan Moster beim Literatur-Festival in KustaviKilpis Auftrag vernommen hat,fragt ihn der Verleger Nikolaus Gelpke nach dem maritimen Klassiker der finnischen Literatur. Das ist die Gelegenheit! Es ist dem mare-Verlag und seinem Verleger hoch anzurechnen, dass er Stefan Mosters Vorschlag nachgegangen ist und „Im Saal von Alastalo“ 2022 publizierte.

Wie gewaltig diese übersetzerische Herausforderung gewesen sein muss, geht schon aus dem Brief hervor, den Volter Kilpi 1931 an seinen Verleger bei Otava schreibt, in dem er ihm ein neues Manuskript ankündigt. „Das Buch wird kein Roman, sondern eher ein Epos in Prosa“, schreibt er. Es sei eine „panoramahafte Schilderung des Lebens im südwestfinnischen Schärengebiet“ und er hoffe, „dass für die Leser nach und nach die ganze Gegend mit ihren charakteristischen Menschen und allen Facetten des Lebens … lebendig Gestalt annimmt und mit Händen greifbar wird.“ Aber er warnt auch gleich: „Meine Prosa ist nicht logisch und rational, sondern dithyrambisch und rhythmisch expressiv. Eine leichte Lektüre wird mein Buch nicht werden …“

Die „Facetten des Lebens“, von denen Kilpi spricht, entfalten sich in einem Raum von etwa 55 qm, in dem 28 Männer zusammenkommen, um über den Bau einer Bark zu verhandeln. Ein Dreimaster, der hochseetauglich ist und der ihnen und ihrem finnischen Schärenort zu Wohlstand verhelfen soll. Bis zu dem Punkt, an dem sie sich einigen und den Vertrag zum Bau der Bark unterschreiben, vergehen sechs Stunden – der Roman endet in der Übersetzung nach mehr als tausend Seiten. Viel mehr passiert oberflächlich betrachtet nicht. Es gibt genau genommen und im üblichen Sinne: keine Handlung. Aber: die Männer beäugen sich, machen sich ihre Gedanken, über sich, über die anderen, über Gott und die Welt. Und da, wo sich das abspielt, in ihrem inneren Monologisieren, da findet die eigentliche Handlung statt, sie überschlägt sich förmlich. Allein die Überlegungen, die einer der Männer über fast 100 Seiten bei der Wahl der richtigen Pfeife anstellt, erzählen eine ganze Lebensgeschichte, entwickeln einen ganzen Kosmos, und den seiner anwesenden Kollegen gleich mit.

Weil die 28 Männer, die hier zusammenkommen, Seefahrer, dazu Fischer und Bauern sind, stößt man in diesem Roman auf Fachbegriffe aus der Welt der Seefahrt, Fischerei und Landwirtschaft. Und weil der Roman zwar mit den literarischen Mitteln des Modernismus arbeitet, mit inneren Monologen und Bewusstseinsströmen, wie wir sie von James Joyce kennen, diese Geschichte sich aber nicht, wie „Ulysses“, am 16. Juni 1904 in Dublin abspielt, sondern an einem Herbsttag des Jahres 1864 in den finnischen Schären, benutzen die Männer Wörter, die man heute gar nicht mehr kennt. Sie sprechen in einem in Vergessenheit geratenen Dialekt. Und weil der Autor – wie Stefan Moster in seinem Nachwort schreibt – im Umgang mit dem Finnischen „von geradezu hemmungsloser Kreativität“ ist, die „Wortarten wechselt, wie es ihm passt, in seinen mäandrierenden Sätzen einen umfangreichen Wortschatz aktiviert und – wo ihm das nicht gelingt - neue Wörter bildet“, wartet auf den Übersetzer eine schier unlösbare Aufgabe.

Wie umgehen mit diesen Sätzen, die länger sind als „jeder Satz, den jemals ein Schriftsteller in Finnland verfasst hat“? Mit Satzkonstruktionen, die doppel- oder gar mehrdeutig sind? „Ein paar Mal habe ich einen ganzen Monat mit einem einzigen Satz gerungen, bis er sich so fügte, wie er sein sollte“, verrät Stefan Moster.

Er recherchiert, liest Literatur über die Schifffahrt, die Geschichte der Schären. Er muss Wort-Archäologie betreiben, er ist viel in Archiven unterwegs. In Helsinki gibt es ein Dialektmuseum. Er wälzt Wörterbücher. Aber: Wörter und Begriffe, die es im Finnischen nicht gab, kann es eigentlich auch nicht im Deutschen geben, er muss sie erfinden, außerdem müssen sie klanglich funktionieren. Klang und Bedeutung der Wörter sind nicht voneinander zu trennen. Herrliche Begriffe wie „Gesichtsmöbel“ (für die Pfeife), „Kopfknäuel“, „Verstandeskahn“, „Mundbravheit“, „fläuseln“ (wie die Flöte eines Engels) fallen dem Wortschöpfer und Klanggeber ein.

Drei Jahre hat Stefan Moster an dieser Übersetzung gearbeitet. „Was mich mit der Dauer am meisten versöhnte, war der Gedanke an den Verfasser und an das Glück der Leser*innen“, sagt er.

Als das Buch erschien, schrieb Aldo Keel in der NZZ: „Was für ein Fest der Sprache! Seite um Seite überrascht uns Kilpis rhythmisch expressive Prosa aufs Neue mit wilden Metapherketten, kunstvoll gedrechselten Satzgirlanden, Wortschöpfungen und einem Wortschatz Shakespeare’schen Umfangs. Ein Bravourstück übersetzerischen Könnens.“

„Ich verfüge über einen solchen Wortschatz gewiss nicht“, merkte Stefan Moster an. „Für die Dauer der Übersetzung von Kilpis Roman verfügte ich aber offenbar doch darüber.(…) Das ist die Magie der Übersetzung.“

Im Herbst erscheint im mare Verlag der dritte Teil der Schären-Trilogie: „Zur Kirche“. Für das Glück von uns Leser*innen ist gesorgt.Im „Saal von Alastalo“ saßen die Männer sechs Stunden zusammen. Drei Stunden dauert es jetzt, bis das Kirchboot an einem Sonntag die Schärenbewohner auf ihren Inseln eingesammelt hat und sie nach Kustavi zur Kirche übersetzt.

Lieber Stefan, ich wünsche Dir beim Übersetzen noch viele magische Momente und gratuliere Dir ganz herzlich zum Johann-Heinrich-Voß-Preis.