The »Johann-Heinrich-Voß-Preis für Übersetzung« (Prize for Translation) has been awarded by the German Academy for Language and Literature since 1958 for the »outstanding achievements in translation,« with a particular emphasis on the translation of literature into German.
The prize is awarded annually at the spring conference of the German Academy.
The Johann Heinrich Voß Prize has been endowed with €20,000 since 2002.
Translator
Born 16/8/1964
Für die subtilsten Bedeutungsnuancen wie für Klang und Rhythmus des finnischen Textes findet er überzeugende Entsprechungen im Deutschen.
Jury members
Daniel Göske, Susanne Lange, Gabriele Leupold (Vorsitz), Terézia Mora, Ernst Osterkamp, Ulf Stolterfoht und Anne Weber
Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Mitglieder der Jury, liebe Susanne,
wenn ich Seminare für Menschen gab, die sich dafür interessierten, Literatur aus dem Finnischen zu übersetzen, aber noch nicht mehr als erste Erfahrungen gesammelt hatten, fing ich immer damit an, dass ich ein Gedicht austeilte und darum bat, es innerhalb von fünf Minuten ins Deutsche zu übersetzen. Oft entschied ich mich für eine Haiku-artige Miniatur des Dichters Risto Rasa, die aus sieben gängigen Wörtern besteht und folgendermaßen lautet:
Tyyni lahti.
Yhdessä tuhat purjetta
odottaa tuulta.
Eine aus meiner Sicht akzeptable Übersetzung wäre:
Stille Bucht.
Tausend Segel warten
gemeinsam auf Wind.
Sie hören: sehr einfach. Ein schlichtes Bild. Nichtsdestotrotz herrschte im Raum große Aufregung, wenn die Seminarteilnehmer:innen sich an die Übersetzungsarbeit machten. Sie rechneten mit einer Tücke, dachten, ich hätte ihnen eine versteckte Schwierigkeit untergeschoben.
Das war freilich nicht der Fall, ich wollte ihnen nicht in sadistisch-didaktischer Manier vor Augen führen, wie anspruchsvoll das Übersetzen selbst scheinbar simpler Texte sei. Mir ging es um etwas völlig anderes.
Nach fünf Minuten ließ ich alle der Reihe nach ihre Übersetzungen vorlesen. Dabei ergab sich jedes Mal das gleiche Bild: Bei zehn Teilnehmern hörten wir zehn verschiedene Versionen. Oder wenigstens acht. Und dies bei einem vollkommen transparenten Text von sieben Wörtern.
Die Gründe sind nachvollziehbar: Das Wort „tyyni“ heißt eigentlich nicht „still“, sondern „windstill“, aber dies auch wieder nicht ganz, weil es z. B. auch eine unbewegte Wasserfläche bezeichnet und außerdem verwendet werden kann, um Ausgeglichenheit oder Gelassenheit auszudrücken. Des weiteren sind Fragen bezüglich der Wortstellung zu beantworten, insbesondere die, ob der sich über die zweite und dritte Zeile erstreckende Satz tatsächlich komplett unauffällig gebaut ist oder nicht doch in seiner Wortfolge eine kleine Abweichung von der Konvention aufweist, und dann muss man sich noch fragen, ob man den bestimmten Artikel einsetzt und wenn ja, ob vor Bucht und Wind oder ob nur vor Bucht oder nur vor Wind.
Nun, es kamen alle Varianten zur Anwendung, und meine Absicht bestand nicht darin, zu zeigen, welche die einzig wahre wäre, sondern dass es so viele Varianten wie Übersetzerinnen gab. Meine Botschaft an jede Einzelne von ihnen lautete: Du übersetzt. Du, so wie du bist, mit allem, was du mitbringst, mit deinem Sprachgebrauch, mit deiner Leseerfahrung, mit deinem Literaturbegriff, mit deiner Sicht der Welt, mit deinen Wahrnehmungen und Empfindungen. Du als Individuum.
Dies nämlich ist der Ausgangspunkt des Übersetzens: Die Erkenntnis, dass ich es bin, der übersetzt, ich in meiner Individualität.
Diese Tatsache lässt sich nicht übergehen oder tilgen. Damit muss man leben, und das bedeutet, dass man sich bewusst macht, wer man als übersetzender Mensch ist, wozu man neigt und wozu nicht, was man gut kann und was nicht so gut, welche literarischen Landschaften man durchwandert hat und welche nicht. Wer nur die Südtiroler Alpen kennt, sollte nicht vorschnell urteilen, wenn er zum ersten Mal die norddeutsche Tiefebene besichtigt, sondern deren Reize peu à peu entdecken, bevor er sich über Flachheiten auslässt.
Viele neigen intuitiv dazu, den Übersetzer als eine neutrale Instanz zu sehen, als Funktionsmechanismus, in den der Originaltext eingespeist wird und aus dem er adäquat transformiert wieder herauskommt. Zumindest gehen sie davon aus, dass die Eigenheiten des Übersetzers hinter der Eigenheit der Autorin verschwinden soll. Und in der Tat: Meine Aufgabe besteht darin, dem Werk einer anderen Person zu dienen. Das aber geschieht nicht durch Zurücknahme meiner Person, sondern im Gegenteil durch die Aktivierung meiner persönlichen Kapazitäten: Indem ich meine individuelle Sprachkraft einsetze, sie aber nach den Vorgaben des zu übersetzenden Textes reguliere. Manchmal muss ich mich zügeln, weil es mich zu einer rilkeschen Formulierung drängen würde, die jedoch so wenig ins Original passt wie ein Panther in die Voliere. Manchmal muss ich mich anspornen, weil der Ausgangstext sich in Höhen schwingt, in die ich mich aus eigenem Antrieb nicht wagen würde. Immer bin ich voll und ganz involviert, immer gebe ich alles, was ich zu bieten habe – allerdings mit der Absicht, am Ende vollkommen unsichtbar zu sein.
Das ist zweifellos paradox. Wie so manches, was mit dem Übersetzen zu tun hat. Das Erstaunlichste am Übersetzen ist ja auch, dass es funktioniert, obwohl so vieles dagegen zu sprechen scheint.
Für das Übersetzen spricht vor allem seine Notwendigkeit. Wäre die Literatur für mich als junger Mensch nicht von unmittelbarer, konkreter, existenzieller Bedeutung gewesen, wäre ich nicht Übersetzer geworden. Hätte ich es nicht schon immer und gewissermaßen instinktiv für sinnvoll gehalten, zu erfahren, wie in anderen Kulturen auf die Welt und auf den Menschen geschaut wird, wäre ich nicht Übersetzer geworden. Übersetzen ist angewandter Idealismus, der auf der Überzeugung beruht, dass sich die Anstrengung der Empathie und die Mühen des Verstehens lohnen. Sie hören: Hier spricht ein älterer Mensch, dem vielleicht gerade noch die Erfahrung erspart bleiben wird, von der KI überflüssig gemacht zu werden, und der rechtzeitig in die ewigen Jagdgründe eingehen wird, bevor die Völkerverständigung auf diesem Planeten vollends abgeschafft worden ist. Hier spricht allerdings auch einer, der sich weigert, seinen Idealismus aufzugeben, und sich darum weiterhin mit voller Energie der Aufgabe des Übersetzens, der Arbeit an der Empathie widmet.
Das klingt nun so, als hätte da einer unbedingt diesen Beruf ergreifen wollen. Die Wahrheit lautet: Ich wurde Übersetzer, weil ich in allem anderen gescheitert bin. Vor allem aber, weil ich eigentlich Schriftsteller werden wollte, mir dies aber zu anmaßend vorkam. Ich empfand es als einen Verstoß gegen das Demutsgebot, meine eigenen Wortschöpfungen unter die Leute zu bringen, wohingegen das Übersetzen zu bedeuten schien, Literatur in der Rolle des Dienenden machen zu dürfen.
Damals ahnte ich nichts von der Anmaßung, die beim Übersetzen nötig ist. Denn wie sollte man sonst zu der Überzeugung kommen, die geeignete Person zu sein, ein wertvolles literarisches Werk so zu übertragen, dass deutschsprachige Leserinnen und Lesern ein Lektüreerlebnis haben, das dem finnischer Leserinnen und Leser gleicht?
Von der Verantwortung, die man beim Übersetzen auf sich lädt, ganz zu schweigen.
Ohne Anmaßung kommt man auch beim Übersetzen nicht aus, bloß paart sie sich hier mit der Demut auf eine Weise, wie es nicht eben in jedem Lebensbereich der Fall ist.
Schickt man sich an, Literatur zu übersetzen, stößt man gleich zu Beginn auf ein Problem, das sich auch mit der Bereitschaft zur Anmaßung nicht leicht lösen lässt: Man weiß nicht, ob man es überhaupt kann. Eine Fremdsprache zu beherrschen ist eine Sache, aber der komplexe kognitive Vorgang des Übersetzens ist etwas anderes. Zwischen Neigung und Begabung besteht gewiss ein Verbindung, aber identisch sind die beiden nicht, und die Begabung zum Übersetzen äußert sich nicht so unmissverständlich wie zum Beispiel Musikalität oder das Talent zum Zeichnen. Man muss die Begabung erst entdecken. Und jemand muss einem dabei helfen.
Wenn ich in meinen Seminaren für junge Übersetzende ausgerechnet ein Gedicht von Risto Rasa zum Einstieg wählte, dann nicht nur wegen dessen Transparenz, sondern wohl auch aus alter und überaus bedeutsamer Verbundenheit, denn der erste finnische Text, den ich selbst jemals übersetzt habe, war eine schlichte Miniatur desselben Dichters. In einem Universitätsseminar zur finnischen Lyrik ließ uns die Professorin hin und wieder einzelne Gedichte übersetzen. Eines von Risto Rasa wartete in der letzten Zeile mit einem kniffligen Übersetzungsproblem auf. Der Grund lag in der Verschiedenheit der Sprachen. Wenn bestimmte Möglichkeiten der finnischen Grammatik ausgereizt werden, kann man dem im Deutschen kaum beikommen, ohne dass es umständlich klingt.
Natürlich habe ich die vor fünfunddreißig Jahren mit der Hand geschriebene Übersetzung des Gedichts in meinen Unterlagen nicht mehr finden können, aber ich erinnere mich an den kniffligen Schluss. Es geht in dem fünfzeiligen Text darum, dass jemand mit dem Tretschlitten einen Winterweg entlang fährt, vermutlich auf einen zugefrorenen See hinaus, bis er das Gefühl hat, weit genug von allem entfernt zu sein. Dann heißt es: „ich setze mich auf den Schlitten, schließe die Augen, / überlasse die Führung dem Licht.“
Jedenfalls hieß es so in meiner Übersetzung, die ich mit der gebotenen Schüchternheit und etwas lampenfiebriger Stimme vorlas, denn ich wusste, dass ich in der letzten Zeile etwas riskiert hatte, indem ich von der wörtlichen Entsprechung abgewichen war - zugunsten des Atmosphärischen und des Poetischen. Und tatsächlich reagierte die Seminarleiterin, die selbst Lyrikübersetzungen veröffentlicht hatte, darauf. Sie zuckte zusammen und sah mich mit durchdringendem Blick an, fast so, als hätte ich etwas Ungehöriges getan.
Durchaus möglich, dass sie mich lobte, daran kann ich mich nicht mehr erinnern, aber ihr erstaunter Blick ist mir im Gedächtnis geblieben, weil ich darin den Ursprung meiner beruflichen Laufbahn sehe. Der Blick sagt: Du hättest eventuell das Zeug dazu.
Neulich besuchte ich eben diese Frau, der ich den entscheidenden Blick verdanke. Sie wird dieses Jahr 90, über lange Jahre haben wir bei verschiedenen Projekten zusammengearbeitet, sogar einen Lyrikband gemeinsam übersetzt. Immer hat sie sich dafür interessiert, was ich mache, woran ich arbeite, auch jetzt, bei meinem Besuch. Es hätte nahe gelegen, ihr von der bevorstehenden Verleihung des Johann-Heinrich-Voß-Preises zu berichten. Allein ich konnte es nicht. Es lag mir auf der Zunge, aber es wäre mir gewissermaßen kleinlich vorgekommen, und ich glaube, das hatte damit zu tun, dass ich das, was sie für mich getan hat, für so viel größer halte als selbst diesen Preis mit seinem einschüchternd großen Namen.
Verstehen Sie mich nicht falsch! Ich will hier keineswegs geringschätzig erscheinen. Aber es ist gut, die Dinge im Leben in die richtige Ordnung zu bringen, zumal wenn es um Dankbarkeit geht. Außerdem kann ich Ihnen versichern, dass ich für die Auszeichnung, die mir heute verliehen wird, äußerst dankbar bin. Und nicht nur das. Ich freue mich auch sehr darüber.