Johann-Heinrich-Voß-Preis

The »Johann-Heinrich-Voß-Preis für Übersetzung« (Prize for Translation) has been awarded by the German Academy for Language and Literature since 1958 for the »outstanding achievements in translation,« with a particular emphasis on the translation of literature into German.
The prize is awarded annually at the spring conference of the German Academy.
The Johann Heinrich Voß Prize has been endowed with €20,000 since 2002.

Hanns Grössel

Translator and Journalist
Born 18/4/1932
Deceased 1/8/2012
Member since 2010

... der seine Wirksamkeit als »Öffnen literarischer Grenzen« versteht.

Jury members
Kommission: Richard Alewyn, Martin Beheim-Schwarzbach, Hans Hennecke, Horst Rüdiger, Harald Weinrich

Mitglieder des Erweiterten Präsidiums

Vom Öffnen literarischer Grenzen

Sehr geehrter Herr Präsident, lieber Professor Korlén, meine Damen und Herren!
Zu danken kann einem leichtwerden, und es kann einem schwerfallen, und für beides kann es Gründe geben.
Der Darmstädter Akademie für den Übersetzerpreis zu danken, wird mir leicht, wenn ich ihn als eine individuelle Annehmlichkeit betrachte. Ich habe 6000.- DM bekommen; Professor Korlén hat sehr Schmeichelhaftes über meine Arbeiten gesagt, und außerdem kann ich in dem Preis die offizielle Anerkennung einer Beschäftigung sehen, die sich aus eher privaten Umständen und Vorlieben ergeben hat.
Meine Eltern haben während des Zweiten Weltkriegs an der deutschen Sankt Petri-Schule in Kopenhagen unterrichtet. Auf diese Weise bin ich zwischen zwei Sprachen aufgewachsen ‒ dem Deutschen zu Hause, dem Dänischen auf der Straße ‒, und die Zweisprachigkeit war lange ein selbstverständlicher Teil meines Lebensgefühls. Erst sehr viel später, als ich studiert hatte und im Verlag arbeitete, habe ich meine dänischen Sprachkenntnisse reaktiviert und sie literarisch angewandt, und erst die Verlagsarbeit hat mich dazu gebracht, mich auch mit dem Schwedischen zu beschäftigen.
Zu unseren Hausnachbarn in Kopenhagen gehörte ein älterer Herr, an den ich mich erst nach dem Kriege wieder erinnerte. Es war ein deutscher Journalist, der damals schon jahrzehntelang in Dänemark gelebt hatte und ein äußerst kultiviertes Dänisch sprach. Sie werden seinen Namen nicht kennen: er hieß Hermann Kiy und ist 1963 im Alter von vierundachtzig Jahren gestorben. Im Rückblick wird diese Hausnachbarschaft seltsam stimmig, denn Hermann Kiy hat vor und nach dem Ersten Weltkrieg sehr viel aus dem Dänischen, auch aus dem Norwegischen und Schwedischen übersetzt ‒ unter anderem Bücher von Martin Andersen Nexö, Svend Fleuron, Knut Hamsun und Jens Peter Jacobsen.
Obwohl der statistische Höhepunkt für deutsche Übersetzungen aus den skandinavischen Sprachen bereits 1895 überschritten war, hatten Übersetzer aus den Literaturen nordischer Länder damals genügend Arbeit. Noch 1913 konnte der Kritiker Kurt Münzer in der Zeitschrift »Das literarische Echo« schreiben: »Diese Bücher aus dem Norden, die erst einzeln anrückten, in Zwischenräumen, kamen nun als Masse, als Strom, pausenlos, ein Heereseinbruch. Noch steht ihnen alles offen: Verlagsanstalten, Redaktionen, unsere Herzen.«
Von dieser Offenheit, dieser Aufnahmebereitschaft ist heute, nach mehr als sechzig Jahren, so gut wie gar nichts übriggeblieben. 1970 und 1971 machten die Übersetzungen skandinavischer Belletristik innerhalb der schöngeistigen Übersetzungsproduktion bundesdeutscher Verlage durchschnittlich jeweils zweieinhalb Prozent aus. 1972 fiel die dänische, 1974 auch die norwegische Literatur als selbständige Größe aus der Statistik ganz heraus, weil die Zahl der daraus übersetzten Titel unter zehn im Jahr gesunken war; nur die schwedische Literatur hielt sich in der 1974er Statistik noch mit 1,1 Prozent der gesamten übersetzten Belletristik.
Wenn ich solche Zahlen bedenke und eigene Erfahrungen dazunehme, dann fällt das Danken mir schwerer, und der Preis droht, zum Trostpreis zu werden: der letzte Roman, den ich aus dem Dänischen übersetzt habe, ist 1972, der letzte, den ich aus dem Schwedischen übersetzt habe, 1973 erschienen. Und der Übersetzervertrag für einen weiteren dänischen Roman liegt ‒ von beiden Seiten unterschrieben, aber von beiden Seiten unerfüllt ‒ seit 1969 bei meinen Akten; die »Reihe Fischer«, worin er erscheinen sollte, ist eingestellt worden.
Da kein Geschäft zustandegekommen ist, verrate ich auch keine Geschäftsgeheimnisse, wenn ich aus diesem Vertrag zitiere. Den Verlag verpflichtet er nur zum Zahlen eines Honorars, nicht zum Veröffentlichen der Übersetzung; elfmal hingegen wird in dem Vertrag festgelegt, was der Übersetzer zu tun hat, welche Rechte er dem Verlag überträgt ‒ nämlich alle wozu er sich verpflichtet und verpflichtet ist, was ihm nicht zusteht. Einzig der § 10 des Vertrages spricht ihm ausdrücklich ein Recht zu, und zwar das Recht, »dem Verlag die Erwähnung seines Namens als Übersetzer zu versagen«, wenn durch dessen Änderungen und Bearbeitungen »der Stil der Übersetzung derart beeinträchtigt« wird, »daß hierdurch das Urheber-Persönlichkeitsrecht des Übersetzers verletzt sein könnte«. Rücksichtsvoller läßt sich kaum das Privileg umschreiben, aus der Rechtlosigkeit in die Anonymität einzugehen.
Ich will nicht vergessen, welches Honorar der Übersetzer ‒ immer noch meinem Vertrag aus dem Jahre 1969 zufolge ‒ für seine Tätigkeit erhält; es beläuft sich auf »DM 12,- pro übersetzter Seite zu 30 Zeilen und 60 Anschlägen« ‒ zwölf Mark für eine maschinebeschriebene Seite. Der Verband deutschsprachiger Übersetzer hat 1975 eine Umfrage unter seinen Mitgliedern veranstaltet und ermittelt, daß in diesem Jahr für eine solche Seite Übersetzungstext mindestens noch dieselben zwölf, im überwiegenden Durchschnitt jedoch fünfzehn Mark bezahlt wurden. Eine relative Erhöhung der Honorare mag also zu verzeichnen sein, die absoluten Zahlen aber sind nach wie vor so skandalös niedrig, daß als einzig angemessene Reaktion darauf alle literarischen Übersetzer in den Streik treten müßten.
Mit diesem Streik wären die literarischen Grenzen geschlossen, die zu öffnen und offenzuhalten der Übersetzer da ist ‒ aber nicht nur er; auf einen Schlag herrschte der Zustand, dem wir uns jetzt schon stufenweise nähern: der Zustand der literarischen Provinz. Er äußert sich darin, daß von zeitgenössischer fremdsprachiger Literatur immer weniger übersetzt wird ‒ und zwar gerade von derjenigen immer weniger, deren Neuerungen auf die Fortentwicklung unserer eigenen Literatur anregend wirken könnten. Um die übersetzerische und editorische Aufarbeitung des klassischen Bestandes an ausländischer Literatur ‒ und wären es nur die Klassiker der Moderne ‒ steht es nicht besser. Wohin ein solcher Zustand führt, hat sehr deutlich Ernst Robert Curtius gesagt: »... Aneignung der großen Meister [...] Einformung einer geistigen Substanz in das liebe Ich. Wenn man das verabsäumt, wird die Suppe immer dünner.«
Sie wird um so dünner, die Suppe, als wir keine laufende Berichterstattung über ausländische Neuerscheinungen haben, weder in der Presse noch in Rundfunk und Fernsehen. Ein Buch wird erst dann besprochen, wenn es in deutscher Übersetzung vorliegt (unter Umständen also nie) ‒ mit dem Ergebnis, daß die Rezensions-Aktualität von heute die literarische Aktualität von gestern, oft sogar vorgestern ist. Ebenso sehr fehlt es an kompetenter Übersetzungskritik ‒ ganz zu schweigen von einer Zusammenarbeit unserer Literaturzeitschriften mit denen des Auslands: eine solche Zusammenarbeit gibt es nicht.
Sicherlich lassen sich zur Erklärung dieses Zustandes mehrere Ursachen anführen, eine aber ganz bestimmt nicht, daß es nämlich für derartige Aufgaben keine geeigneten Leute gebe. Die geeigneten Leute gibt es obendrein in ausreichender Zahl: es sind die literarischen Übersetzer, und man brauchte sie nur in die Lage zu bringen, solche Aufgaben wahrzunehmen. Bei den derzeit üblichen Honoraren können sie es freilich nicht: entweder müssen sie das Übersetzen im Nebenberuf betreiben, also ihre übrige Zeit auf einen angemessener bezahlten Broterwerb verwenden ‒ und dafür gibt es genügend Beispiele ‒, oder aber sie versuchen, hauptberuflich davon zu leben, und werden dann von einem gefährlichen Kreislauf bedroht: weil die Honorare so niedrig sind, darf keine Auftragslücke entstehen, und die Arbeit gerät unter immer stärkeren Druck.
In beiden Fällen bleibt keine Zeit für das, was in jedem hochspezialisierten Beruf selbstverständlich sein sollte, für die Fortbildung. Der literarische Übersetzer muß in der Literatur, aus der er übersetzt, auf dem laufenden bleiben, muß ausländische Neuerscheinungen und literarische Publikationen lesen; sein Auftraggeber, der Verlag, erwartet außerdem von ihm, daß er nicht nur die Entwicklungen seiner jeweiligen Fremdsprache verfolgt, sondern auch an seiner Zielsprache ständig arbeitet. Doch statt ihn als den Spezialisten zu bezahlen, als den er ihn in Anspruch nimmt und dessen Spezialkenntnisse und -erfahrungen ihm zugutekommen, entlohnt ihn der Verlag wie einen Saisonarbeiter, mit der unverbindlichen Aussicht auf Beschäftigung bei der nächsten Ernte ‒ falls er keinen billigeren verpflichten kann.
Vor einem Monat hat der Verleger Siegfried Unseld in der Fernsehsendung ASPEKTE geäußert, die angemessene Honorierung des Übersetzers sei in einer Verlagskalkulation nicht unterzubringen; Preise für Übersetzer und Subventionen von ausländischer Seite müßten die Finanzierungslücke auffüllen. Wenn ich mir diese Überlegung zueigen mache, dann fällt das Danken mir äußerst schwer. Strenggenommen wird es mir unmöglich gemacht, denn auch der Übersetzerpreis der Darmstädter Akademie wäre dann keine Ehrengabe, sondern nur eine späte Nachzahlung für Übersetzungen, an denen ich seinerzeit unter Preis gearbeitet habe.
Für die Frage jedoch, wie sich der Zustand literarischer Provinz überwinden läßt und wie die literarischen Grenzen geöffnet werden können, empfinde ich die Äußerung von Herrn Unseld als eine sehr nützliche Klärung. Zum einen deshalb, weil er die augenblicklichen Übersetzerhonorare ausdrücklich für unangemessen erklärt; vor allem aber deshalb, weil er durch seinen Appell an die öffentliche Hand die Übersetzung fremdsprachiger Literatur zur öffentlichen Sache, zur Sache der Öffentlichkeit macht. Längst ist ja der Augenblick gekommen, wo Übersetzung und Veröffentlichung eines bedeutenden fremdsprachigen Werkes wegen allzu geringer Verkaufschancen unterbleiben. Es ist auch kein Geheimnis, daß die Lektorate unserer belletristischen Verlage unterbesetzt und ihre Lektoren überlastet sind ‒ »Literaturkulis«, wie Hans-Jürgen Schmitt sie unlängst in der »Frankfurter Rundschau« genannt hat. Zumal an Kennern fremder Sprachen und Literaturen fehlt es in den Verlagen ‒ an Leuten, die einerseits die literarische Produktion eines Landes kritisch beobachten können, andererseits in der Lage sind, geeignete Übersetzer heranzuziehen und deren Arbeit zu überprüfen.
Angesichts dieser Situation ist es eine sinnvolle Idee, mit Hilfe öffentlicher Mittel dafür zu sorgen, daß ein gewisser Grundstock an wichtiger Literatur des Auslands in deutscher Übersetzung geschaffen und laufend ergänzt wird. Freilich dürfte die Auswahl nicht privatwirtschaftlichen Erwägungen überlassen bleiben; die Öffentlichkeit, die mitfinanziert, müßte auch ein Mitspracherecht dabei haben, das sie über literarische Arbeitsgremien auszuüben hätte. Besetzt sein müßten solche Gremien, die übrigens auch innerhalb einer Akademie für Sprache und Dichtung gebildet werden könnten, mit Kritikern und Literaturwissenschaftlern ‒ besetzt sein müßten sie nicht zuletzt mit Übersetzern. Nicht nur ihr sozialer Status würde bei dieser Arbeit verbessert; sie würden, was mindestens ebenso entscheidend ist, aus dem Status des Handlangers in den des Vermittlers geraten und könnten so sehr viel aktiver als jetzt am öffnen literarischer Grenzen mitarbeiten.
Ich hatte eine Dankrede zu halten. Statt der Dankrede haben Sie sich eine Rede darüber angehört, warum das Danken einem schwerfallen kann. Ich danke Ihnen.