Johann-Heinrich-Voß-Preis

The »Johann-Heinrich-Voß-Preis für Übersetzung« (Prize for Translation) has been awarded by the German Academy for Language and Literature since 1958 for the »outstanding achievements in translation,« with a particular emphasis on the translation of literature into German.
The prize is awarded annually at the spring conference of the German Academy.
The Johann Heinrich Voß Prize has been endowed with €20,000 since 2002.

Friedhelm Kemp

Writer and Translator
Born 11/12/1914
Deceased 3/3/2011
Member since 1980

... für seine umfangreiche Tätigkeit als Vermittler fremder Literaturen, besonders der zeitgenössischen französischen.

Jury members
Kommission: Rudolf Hagelstange, Hans Hennecke, Karl Krolow, Horst Rüdiger, Walter Franz Schirmer, W. E. Süskind

Mitglieder des Erweiterten Präsidiums

Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Für einen, der zwar gerne schreibt, auch nicht ungern spricht, dem aber die öffentliche Rede nicht frei von den Lippen will ‒ für einen solchen entsteht eine wunderliche Lage, wenn er, so liebenswürdig mit den lindesten Katzenfellen des Lobes gestriegelt, aus gleichsam vorgewärmter Empfindung vom Blatt seinen Dank aussprechen soll. Sie werden es mir deshalb gewiß erlassen, das nicht leicht zu klärende Gemisch von innerer Erhobenheit und zugleich Beschämung, von Ungehaltenheit (über diese beiden Regungen), von peinsamer Verlegenheit und unbestreitbarer Vergnügung hier vor Ihnen zu ergießen. Denn schließlich überwiegt, in jeder Hinsicht, das Vergnügen. Erlauben Sie mir also, über dieses mich ein wenig zu verbreiten, weil es sozusagen ein ins Quadrat Erhobenes ist: Vergnügen über Vergnügen; ganz ungetrübt, nur mit ein wenig Verwunderung untermischt. Ich möchte das näher erklären.
Wenn ich mich heute frage, was denn zum Übersetzen mich veranlaßt und durch die Jahre hin dabei festgehalten hat, so wüßte ich keinen anderen Grund anzugeben als den, daß mir dieses Handwerk von Anfang an ein eigenes Vergnügen bereitet hat. Daß es gerade die französische Sprache und ihre Literatur sein sollten, die mich vor allem reizten, dazu bedurfte es freilich eines besonderen Anstoßes. Anfangs galt meine Neigung eher dem Englischen, das heißt der englischen Dichtung: Byron, Shelley, William Blake. Dann aber, eines Tages, mischte sich Baudelaire ein.
Ein Offizier der französischen Besatzungstruppen des Rheinlands hatte nach dem Ersten Weltkrieg eine kleine Auswahl der Fleurs du Mal zurückgelassen, und eben diese Miniaturausgabe fiel uns eines Nachmittags beim Aufräumen des elterlichen Bücherschrankes in die Hände. Ich mag damals etwa sechzehn Jahre alt gewesen sein und wußte keineswegs, wer das war:
Charles Baudelaire; es genügte, daß er Gedichte geschrieben hatte, denn Gedichte schienen mir schon damals ‒ und scheinen mir auch heute noch ‒ zu den lebenswichtigen Gütern zu gehören. Ich bat also um eine Probe, und seither begleiten mich diese unvergeßlichen Worte:

»Sois sage, ô ma Douleur, et tiens-toi plus tranquille.
Tu réclamais le Soir; il descend; le voici:
Une atmosphère obscure enveloppe la ville,
Aux uns portant la paix, aux autres le souci.«

Die Eingangsstrophe des Gedichtes Recueillement, das damals, gewiß kaum halb verstanden, doch darum nur um so verlockender, zum ersten Mal an mein Ohr drang. Am gleichen Abend noch wurden, mit Hilfe des kleinen „Langenscheidt“, die unbekannten Vokabeln zusammengeklaubt und eine Übersetzung des Gedichtes versucht. Sie war wohl nicht besser, als sie unter diesen Umständen sein konnte: ein wenig ängstlich und unbeholfen, vielleicht auch allzu bedacht, die Regelmäßigkeit der äußeren Form um jeden Preis zu retten. Fast dreißig Jahre später ergab sich eine Veranlassung, diesen Versuch wieder hervorzuholen und zu prüfen, was davon zu behalten sei. Viel war es eben nicht, aber doch nicht ohne Rührung zerstörte ich die frühen Zeilen, um zu einer neuen Fassung zu gelangen, die ich Ihnen ‒ Baudelaire zum Dank ‒ vorlesen darf.

»Sammlung

Nun mußt du still dich halten, o mein Schmerz, und folgsam sein.
Du rufst den Abend; sieh, er steigt hernieder:
Ein dunkler Mantel hüllt die Stadt jetzt ein,
Und Friede kehrt und bittrer Gram kehrt wieder.

Indes die Sterblichen, auf deren Rücken
Die Geißel niedersaust des Henkers Gier,
In Sklavenfesten sich die Reue pflücken,
Mein Schmerz, gib mir die Hand, und komm von hier,

Fern dem. Sieh, wie sich grau die toten Jahre neigen
In welken Kleidern aus der dunklen Himmel Schweigen,
Wie aus Gewässern lächelnd aufglänzt ein Bedauern,

Die Sonne einschläft unter einem Brückenbogen,
Und horch: gleich eines langen Leichentuchs
Erschauern Kommt, o mein lieber Schmerz, die sanfte Nacht gezogen.«

Das kleine Vorkommnis dieses Findens, Lesens und Übersetzens hat für mich immer etwas Providentielles behalten. Es blieb nicht bei dem einen Gedicht, andere folgten in den nächsten Wochen und wurden ebenfalls nachgebildet. Dem kleinen Auswahlband ist diese allzu energische Anteilnahme nicht gut bekommen; er ging aus dem Leim und mußte nachgebunden werden. Dann wurde eine wohlfeile Gesamtausgabe der Fleurs du Mal beschafft und, wenn auch nicht vollständig übersetzt, so doch Gedicht für Gedicht durchexerziert und jede unbekannte Vokabel ausgezogen. Damit war der Köder verschluckt, der Hamen saß fest, und ich hatte nur noch der Leine zu folgen, die mich bis an diese Stelle führen sollte.
Nun wurden Baudelaires übrige Schriften nach und nach mit dem gleichen pedantischen Enthusiasmus durchkaut und einverleibt. Von hier aus führten nahe Fährten zu Flaubert, zu Verlaine, Rimbaud und Mallarmé. Das ging sehr bald ins Breite: ich studierte Romanistik und promovierte auch, auf Karl Vosslers Anregung, mit einer Arbeit über Baudelaire; zu guter Letzt wurden noch, als wäre dies nachzuholen, die Fleurs du Mal ganz übertragen; allerdings in Prosa, für die Exempla Classica des Fischer-Verlages.
Ich sagte, halb scherzhafterweise, diese erste Begegnung mit den »Blumen des Bösen« habe für mich etwas Providentielles behalten. Aber wo anders sollen wir denn so etwas wie die Hand einer Vorsehung in unser Leben eingreifen sehen als in jenen oft sehr unscheinbaren Augenblicken, da wir in eine neue Richtung gedreht und in ein Gleis gebracht werden? Vielleicht hat auch Novalis recht, wenn er einmal bemerkt, daß Schicksal und Gemüt eigentlich Namen eines Begriffes seien. Bei mir jedenfalls war die Anmutung, die von einigen Versen Baudelaires ausging, stark genug, mich zu führen, zu bilden, zu schützen und zu bewahren. Zu führen ‒ durch Verführung; denn ich habe Baudelaire damals aufs Wort geglaubt und mit seinem Werk eine Weltansicht akzeptiert, der ich heute in fast allen wesentlichen Stücken widersprechen würde, ohne daß dieser Dichter damit aufhörte, für mich als eine Art Schutzheiliger zu gelten. Ein sonderbarer Heiliger! werden Sie denken: kaum einer, den ich mir zum Schutzpatron für meinen halbwachsenen Sohn wünschen möchte. So aber sehen die Heiligen nun einmal aus, die jungen Menschen als Schwellenhüter und Mystagogen begegnen. Fragen Sie Dichter wie Jules Supervielle und Henri Michaux, wer ihnen den Sinn für die Poesie geweckt habe, und sie werden auf ihre Begegnung mit Lautréamont und seinen Chants de Maldoror verweisen. Fragen Sie Paul Claudel, wer denn für ihn der Wegbereiter zur Dichtung und zum Glauben gewesen sei, und er wird, wie er im Offertorium seiner großen Dichtung über die Messe getan, die Gestalt Rimbauds beschwören. Nicht die Braven, die Sittigenden, nicht die Stifter-Aprentschen Lesebuch-Autoren drängen uns in das Abenteuer unserer Bestimmung, und ich denke mir, ein jugendliches Ungenügen, das, um auf der Erde sich einzugewöhnen, auf eine Zeit seiner eigenen Himmel und Höllen bedarf, würde sich heute etwa Hans Henny Jahnn zum Schutzgeist erwählen, oder auch Bertolt Brecht ‒ und zwar durchaus den frühen, »baalischen« Brecht. Zu Goethes Zeiten hätte man sich vielleicht auf Jean Paul berufen, vor allem auf seinen Schoppe-Leibgeber und den Luftschiffer Giannozzo, an deren bizarrer weltverachtender Laune Dichter wie Stifter und Keller in ihrer Jugend sich entzündet haben.
Soviel hier von Baudelaire, um ihm zu danken. Es versteht sich, daß trotz eifrigen Studiums seiner Verse und der eines Mallarmé oder Valéry mein Umgangsfranzösisch lange Zeit hindurch recht mangelhaft blieb, und widrige Umstände verhinderten auch, daß ich Frankreich selber vor dem Abschluß meines Studiums kennenlernte; bis es dann zwangsweise und in einem Kostüm geschah, das seinen Träger dort nicht gerade beliebt machte. Und doch verdanke ich es einer Begegnung eben jener Jahre, daß mir nun auch die lebenden Dichter Frankreichs, darunter Saint-John Perse, und zugleich die des sechzehnten Jahrhunderts näherkamen. Was aber die erwähnte Unerfahrenheit im Gebrauch der Alltagssprache betrifft, so halte ich diese für kein sonderliches Unglück; sie läßt sich bei einem längeren Aufenthalt im Lande und mit Hilfe guter Freunde meist rasch beheben. Der Königsweg zum Herzen einer Sprache, und von dort in alle ihre Adern und Provinzen, führt jedoch meiner Überzeugung und Erfahrung nach heute wie gestern über ihre Literatur, durch ihre Dichtung; der Umweg ist auch hier, wie bei so vielen Dingen des Geistes, der nächste ins Wesen der Sache.
Dies also war die Vergnügung und ihre Methode: ich wollte einen Dichter kennenlernen und verstehen und erwarb mir darüber, als ein unentbehrliches Hilfsmittel, die Kenntnis der Sprache, in der er gedichtet hatte. Als nächstes Hilfsmittel bot sich ohne weiteres die nachgestaltende Übersetzung an. Der Vorgang kam einer Eroberung, einer Aneignung gleich, die spielenderweise bis zur Identifizierung gehen konnte. Aber tut ähnliches nicht schon jeder Leser, wenn er seinem Autor innerlich nachspricht und ihn so für sich übersetzt? Das Übersetzen, .dem ich mich ergeben hatte, war gewissermaßen ein potenziertes Lesen, und ich wüßte auch gar kein besseres Verfahren, sich einen ausländischen Dichter zu erschließen, als alles von ihm zu lesen und wenigstens einiges zu übersetzen, sei es nur als Fingerübung und zum Hausgebrauch. Indem man sich derart tätig verhält, ihm nahezukommen glaubt und zuletzt den ganzen Abstand vom Original zum eigenen blassen Nachriß ermißt, wird man seiner vollen Gestalt ansichtig, und schließlich gibt es in der ganzen Landschaft seines Werkes kaum einen wichtigen Punkt, an dem man nicht gewesen wäre. Ob nun, was man dabei zustande bringt, eher als ein Versagen oder ein Gelingen anzusprechen ist, ob es vor andere Augen taugt oder nicht, das scheint mir erst an zweiter Stelle von Belang. Ja die Einsicht ins Versagte, wenn aus dem Brunnenmund des Werkes ein übermächtiger Anstrom uns und unsre Versuche hinwegschwemmt, überwiegt an Fruchtbarkeit oft das vorzeigbare bescheidene Gelingen. Wenn nur eine wirkliche Begegnung stattfindet, Erfahrung geleistet, Einsicht errungen wird, so ist jedenfalls ein Gewinn zu verzeichnen, der früher oder später auch seine Früchte bringt. Allerdings täte man gut, vieles lange in seinen Mappen zu lassen, manches nie daraus hervorzuholen. Ich selber gedenke hier dankbar der Jahre nach 1945, wo die Verleger noch rar waren und man so viel Muße hatte, daß von dem damals Eingebrachten noch heute zu zehren ist. ‒
Man hat das Übersetzen gerne, und sicher mit Recht, als einen Dienst am Werk des Autors bezeichnet; größer vielleicht noch scheint mir der Dienst, den es der eigenen Sprache leistet. Gibt es doch seit der griechischen keine europäische Literatur, die sich nicht in einem vielstufigen Prozeß der Übernahme, Aneignung und Verwandlung des anderwärts Vorgeleisteten entwickelt hätte. Sehr große originale Schöpfungen zum Beispiel der deutschen Literatur sind aus fortentwickelten Entlehnungen erwachsen; denken Sie nur an Wolframs Parzival, Fischarts Geschichtsklitterung oder Kleists Amphitryon. Nun soll man aber dieses Bild vom ewig dienenden Übersetzer auch nicht überfordern und das Verdienstliche daran nicht allzu sehr herausstreichen; solches Dienen ist doch schließlich eine freigewählte Rolle, und das Hauptvergnügen dabei liegt in der Verwandlung. Allem Sprachenkönnen und Übersetzertum haftet leicht etwas Äffisches, Geckenhaftes an; aber es gilt auch das schöne Wort Karls V.: »So viele Sprachen einer kann, so viele Male ist er ein Mensch.« Und wer von uns wünschte nicht, wenn die Pflichten und Bindungen des Alters ihn auf höchstens zwei bis drei seiner ursprünglichen Möglichkeiten einengen, dank der Sprachen und Bücher nebenbei im Wechsel noch mehrere andere Menschen zu sein?
Solche Lust an der Verwandlung ist ja nicht nur Lust an der Verkleidung, der bloß äußerlichen und augenblicklichen Veränderung, sondern ein unaufhaltbares Verlangen nach Entfaltung, Wachstum, ein jugendlicher Drang des Reifwerdens ‒ denn, nicht wahr, man hofft doch, solange jung zu bleiben, als man fähig bleibt, je nach Gelegenheit ein anderer zu sein, und desto reifer zu werden, je mehr es einem gelingt, zwischen diesen halb realen, halb imaginären Doppelgängern ein Verhältnis der kritischen Reflexion aufrechtzuerhalten.
Diese Aufforderung zur Reflexion ergeht ja in vielfältiger Weise gerade auch an den Übersetzer, und hieraus schöpft er seine fruchtbarsten Erfahrungen. Hat er sich lange in einem fremden Sprachraum aufgehalten, dessen Gebräuche und Denkweisen durchgeprobt, war er gar bei einem großen Gedicht, das er nun im Eigenen nachspiegeln möchte, so geht es ihm bei der Heimfahrt in die Muttersprache wie jedem Reisenden, der nach langer Abwesenheit zurückkehrt: das Altvertraute schaut ihn nun fremd an und weist ihm, auch aus der Nähe, die noch nicht wieder Verknüpfung geworden ist, eine entrückte Gestalt. Diese mag nicht ohne Größe sein, aber ihre Verschlossenheit bewirkt doch sehr leicht, daß sie uns blaß und ärmlich vorkommt, dürftig und unvermögend, und hieraus entspringen dann die häufigen, meist etwas einfältigen Klagen, wie doch die fremde Sprache alles soviel geistreicher, nuancenreicher, farbiger und lebendiger auszudrücken verstehe. Man kann sich noch nicht entschließen, in der eigenen wieder völlig daheim zu sein und als Sohn des Hauses über ihre Schätze zu verfügen. Dazu bedarf es einer Rückverwandlung und Wiedereingewöhnung, bis man des Angeborenen von neuem mächtig wird. Sogleich aber rückt nun die fremde Sprache ihrerseits wieder in die Ferne und muß aufs neue herangeholt werden. Dann gilt es, für eine Weile den Abstand zu bestimmen, den man zwischen diesen beiden Welten aufrechtzuerhalten wünscht, um sich dort, hin- und herblickend, ans Werk zu machen.
Dieses Hin- und Herblicken bleibt dann in Wahrheit doch, etwas quälenderweise, ein unaufhörliches Hinübergehen und Wiederkehren, und man kommt sich zuweilen gleichsam als ein passe-muraille vor, als einer, dem das Verfahren bekannt ist, wie man durch Mauern geht, die doch gemeinhin für undurchdringlich gelten. In der Mauer selber aber, an diesem Ort der baren Unentschiedenheit, darf man um keinen Preis steckenbleiben, und deshalb wird man seinen eigentlichen Fußpunkt zuletzt wieder in die eigene Sprache zurückverlegen. Man ist ja nun allmählig in der glücklichen Lage, sie fast gleichzeitig als etwas Vertrautes und doch Abgerücktes zu empfinden; man kommt nicht wie der Dichter in der Quelle, in der Strömung ihres Sprechens daher, sondern verhält sich wie der Rutengänger, der die heimlichen Wasseradern auf spürt, um sie seinen Zwecken dienstbar zu machen. Mit diesen unterirdischen Wassern der eigenen Sprache muß man verständigt bleiben, immer wieder aber auch aus ihren offenen Brunnen sich tränken ‒ das heißt: man kann als Übersetzer sich gar nicht gründlich genug in der eigenen Literatur und unter deren Denkmälern umtun, weil man anders Gefahr läuft, Übersetzenderweise in etwas zu geraten, das zwar wie Sprache aussieht, aber kaum wie solche sich anhört.
Denn dies nun, um auf ein Letztes zu kommen, ist wohl für den Übersetzer selber das eigentliche Ziel und der höchste Gewinn: zu erfahren, was Sprache ist; nicht diese oder jene Sprache zu erlernen und mehr oder minder »perfekt zu beherrschen«, nicht diesen oder jenen Autor herüberzubringen und bei uns einzubürgern, sondern etwas vom Wesen der Sprache zu ahnen und an ihrem Leben teilzuhaben. Gerade wenn der Übersetzer, wie eben beschrieben, sich zwischen zwei Sprachen bewegt, wenn er der eigenen Sprache gegenüber sich aufgefordert sieht, ihr immer wieder abzulisten, was freiwillig herzugeben sie sich sperrt, so kommt er zuletzt darauf, daß dies, womit er umgeht, darin er sich bewegt, nicht in erster Linie als ein Werkzeug sich anbietet, als ein Vorrat oder bloßes Material bereit liegt, sondern daß er hier vielmehr in etwas völlig anderes hineingeraten ist: in ein ‒ nun, wie soll ich es nennen? ‒ in ein ezechielisches Rad von Kräften, eine Turba von Quellgeistern und Qualitäten, um es Jakob-Böhmisch zu sagen, in ein Spannungsfeld von Möglichkeiten, einen Ackerschoß latenter Fruchtbarkeiten, wo alles Verborgene auf Erweckung wartet. Und so offenbart die Sprache sich ihm als das vollkommenste Gleichnis für die Spontaneität des Geistes ‒ nicht nur als Gleichnis, sondern als der höchste geschichtliche Ausdruck dieser Spontaneität selber. Die dies verkennen oder mißachten, verfallen leicht einer der beiden weitestverbreiteten Häresien unserer Tage: den Montagekünsten der Sprachbenutzer oder den Verflüssigungen und Verflüchtigungen der Sprachzersetzer. Beide sind, scheint mir, dem Aberglauben erlegen, die Sprache sei ein beliebig traktierbares Material, beide scheinen mir Erben einer Ars combinatoria, welche die Gesetze des Geistes im Grund für mechanische hielt. Sind sie jedoch nicht beide Opfer einer sehr vulgären Täuschung? Weil Sprache in ständig wachsendem Maße vornehmlich mit den Augen vernommen wird und da die Büchermacher meist mehr von Gedrucktem als Gehörtem ausgehen, so haben auch sie sich verführen lassen, den in Lettern festgehaltenen Niederschlag der Sprache für diese selbst und also Wörter für Worte zu halten. Nimmt man hinzu, daß uns in der Tat allenthalben eine auf den Effekt berechnete, manipulierte Sprache begegnet, mit deren Hilfe uns eine Ware, eine Meinung, ein Glaube aufgedrängt werden soll, so ist der Ekel vor diesem widrigen Artefakt durchaus begreiflich. Wer wird aber darum den ungestalten Wechselbalg gleich für das wahre Kind nehmen und glauben, er ließe sich durch Zerstückeln oder Zerkochen zu gesundem Wachstum und anmutiger Beweglichkeit bringen? Die Zerstückler halten die Sprache für einen begrenzten Vorrat von festgelegten oder doch ein für allemal festzulegenden Zeichen, für ein mehr oder minder hartes und festes Material, mit welchem sich schließlich auch Maschinen füttern ließen. Die Zerkocher hingegen spekulieren auf die Latenz des Chaos, des Amorphen in allem Formgewordenen; sie wollen den doch unvermeidlichen, geschichtlich gewordenen Zeichen- und Mitteilungscharakter jeder Rede, so weit es geht, aufheben und durch grenzenlose Sprach- und Sprachenvermengung einen unerhörten Über- oder Untersinn provozieren. Beispiele brauche ich nicht eigens anzuführen; sie sind Ihnen allen geläufig und werden täglich in neuen Varianten hervorgebracht.
Ich möchte nun demgegenüber zwei Sprachmeister zu Zeugen auf ruf en, einen älteren des sechszehnten Jahrhunderts und einen jüngeren lebenden, Franzosen beide, und beide in mehr als einer Sprache bewandert. Es heißt da in einem der Essays des Michel de Montaigne: J’aime Vallure poétique, à sauts et à gambades. C’est une art, comme dit Platon, legere, volage, demoniacle. Was sich etwa übersetzen ließe: »Ich mag die Gangart der Dichtung wohl leiden, ihr Hüpfen und Springen. Es ist, wie Plato sagt, eine leichtfüßige, eine flüchtige und beflügelte, eine dämonische Kunst.« Montaigne ist, wie er selber erzählt, bis in sein siebtes Lebensjahr in der lateinischen Sprache aufgewachsen; sein Vater hatte die nötigen Vorkehrungen getroffen, daß selbst die Wärterinnen und die übrigen Bediensteten des Hauses, die etwa mit dem Kinde Umgang hatten, genügend Latein lernten, um sich mit ihm in dieser Sprache zu verständigen. Dann erst erwarb er sich die Kenntnis des Französischen sowie der italienischen und spanischen Sprache. Welches sind nun die Kennzeichen, die Montaigne an der Dichtkunst rühmt? Offensichtlich vor allem ihre höhere Beweglichkeit: ihr Springen, Hüpfen, Fliegen, ihre Leichtigkeit, ihr dämonisches Wesen; wobei dieses Dämonische eben im Sinne Platons zu verstehen ist. Une art demoniacle deutet sowohl auf den Ursprung als auf die Artung der Poesie hin: auf ihren enthusiastischen Charakter und darauf, daß sie aus einem luftigen Zwischenbereich zwischen Göttern und Menschen stamme. Ein späterer Leser Montaignes, Johann Georg Hamann, hat diese Definition der Dichtkunst, mit gutem Recht, als eine der Sprache überhaupt aufgefaßt und vorgetragen.
Zweifellos handelt es sich hier um eine Erfahrung. Ich möchte dies erhärten durch einige Sätze, mit denen ein zeitgenössischer Dichter zu umschreiben versucht hat, was dieses im Wandel Immergleiche sei, das jedem dichterischen Akt als dessen Grund und dessen Rechtfertigung vorausliegt: »Immer war da als erstes eine Art Rhythmus, die Befolgung eines entfernten, doch unverkennbaren Maßes... Wenn ich mich aller Theorien und falschen Sicherheit entschlagen hatte, vernahm ich wiederum dieses tiefe Pochen, das ebenso schwer zu beschreiben wie unbestreitbar ist, diesen dumpfen Wirbel unsichtbarer Trommeln oder einfach diesen Atem eines schlafenden Wesens, seltsame Dinge und gewissermaßen ganz nah, Gesetze, die Hauch oder Melodie geworden sind, Gebote, die als Sternbilder erglänzen in der Tiefe der Wälder, und all dieses kommt dem Gemeinten noch nicht näher, bleibt einzelhaft eng und schwächlich; ich sollte vielmehr sagen: das Schreiten eines Gottes, die Atemzüge eines Gottes, die vernehmbar werden bei großer Stille des Innern, im Tosen einer Sturmnacht ebenso wie auf der Schwelle der reinsten Frühe, in Grauen und Verirrung nicht minder als während einer Rast voll heiterer Gelöstheit. Und sollte ich nunmehr, einer größeren Genauigkeit zuliebe, dieses leise Pochen, diesen leichten Schritt des Ungreifbaren noch genauer bestimmen, so müßte man wohl, wenn auch auf Kosten der Klarheit, zwei Vorstellungen miteinander vereinigen, die unvereinbar scheinen: Leben und Ordnung, Leben und Vollkommenheit. Unter Leben verstehen wir gerne einen unüberwachten Drang, eine mitunter wilde Mächtigkeit, die Wunden und Gefahren nicht scheut; die Vollkommenheit hingegen scheint uns der Todesstarre nahe zu sein. Und nun sollen wir uns vorstellen, es gäbe eine unerschöpfliche Mächtigkeit, die dennoch nie die gesetzten Grenzen überschreitet, nie ins Ungezügelte ausartet, eine Vollkommenheit voller Schwingungen, eine atmende Ordnung ‒ eine ewige vielleicht, denn jedesmal, wenn sie dem Sinn sich darbot, war sie gleicherweise frisch, lebhaft und neu, ein ewiger Quell. Diese Ordnung scheint der Zeit entrückt zu sein und doch nicht zu erstarren, »gleich einer ersten Begegnung, die ewig das Überraschende, das Erstaunende der ersten Begegnung behielte...«
Diese Sätze finden sich in einem Traktat des Lyrikers und Essayisten Philippe Jaccottet, den die Franzosen vor allem als den Übersetzer des Gesamtwerkes von Robert Musil kennen und schätzen. Elements d’un Songe heißt dieser vor zwei Jahren erschienene Traktat, dessen Meditationen an die Musilschen Betrachtungen über den »anderen Zustand«, das »tausendjährige Reich« anknüpfen. Von Hüpfen und Springen ist hier freilich nicht die Rede, aber von einem Atmen, Schreiten, Strömen, von beweglicher Ordnung und von dem Entzücken an ihr. Das Dämonische wird hier göttlich genannt, doch ist damit nichts anderes gemeint; gemeint ist, was Saint-John Perse in seiner großen Dichtung »See-Marken« beschwört, wenn dort einer »göttlichen Ferse« und ihres Pochens Erwähnung geschieht; er denkt dabei an den Lotos-Fuß des indischen Schiwa, der tanzend die Welt aus dem Chaos hervorruft, tanzend sie erhält und tanzend wieder vernichtet: Et du talon divin, cette pulsation très forte, et qui tout gagne ‒ »Und von göttlicher Ferse sehr stark dieses Pochen, das fortschlägt in allem«. Gemeint ist, weiterhin mit Saint-John Perse zu reden, im Atem der Winde über die Welt hin:

»Eine neue Sprache, angeboten von allen Seiten, eine Odemfrische
über die Welt hin
Wie des Geistes eigener Odem, wie das Ding ureigen in seinem
Hervorgang,
Gleich aus dem Sein her ihr Wesen; gleich aus dem Ursprung
ihre Geburt:
Ha! der ganze Erguß des heilsamen Gottes uns übers Gesicht, und
welch schimmernder Windhauch
Blauende Gräser entlang...!«

Eine neue Sprache, und zugleich die alte, die Sprache selbst: ce sacre d’un plaisir qui constitue l’essence même du principe poétique, diese Weihe der Lust, des Wohlgefallens, der hohen Vergnügung, welche das eigentliche Wesen des Dichterischen ausmacht.
Und damit bin ich wiederum bei jenem Vergnügen angelangt, von dem ich ausgegangen war. Ich will nun zwar das meinige am Übersetzen keineswegs immer ein plaisir sacré nennen, aber an jener Lust, aus der und um deretwillen alles geschieht, in solchem unschuldigen Geschäfte teilzuhaben, scheint mir kein unwürdiges Beginnen. Soviel über das Angenehme meines Tuns, doch hängt das Förderliche aufs engste damit zusammen. Ist, wie wir doch glauben, die Glückseligkeit aller das wahre Ziel unseres gemeinsamen Daseins auf dieser Erde, so kann es sich nicht anders verhalten: was einer sein Leben lang aus echtem Vergnügen, aus Lust zur Sache treibt, das darf ‒ wenn anders diese Sache eine gemeinsame ist; und welche wäre dies mehr als die Sprache? ‒, das darf, sage ich, auch für etwas Förderliches gelten. Ist doch alles, was ganz ohne Vergnügen, lustlos, aus bloßem Pflichteifer, nur um der Notdurft willen getan wird, vom vollkommenen Genuß und der vollkommenen Freude, um deretwillen wir leben, auf klägliche und beklagenswürdige Weise geschieden. Und wenn ich nun hier stehe, so bin ich meinesteils überzeugt, dies habe keinen anderen Grund als den, daß ich, indem ich mich dem Übersetzen ergab, vor allem darauf bedacht war, das zu tun, was mir das größte Vergnügen bereitete. Akademien, die wissen, worauf es ankommt, sollten nur vergnügliche Geister in ihrem Schoß versammeln; nach der Würdigkeit braucht dann nicht lange gefragt zu werden: der Vergnügte, der ja auch der Genügsame ist ‒ er läßt sich am Besten, eben an seinem Vergnügen, genügen ‒, der wahrhaft Vergnügte ist ohnehin der würdigste Mensch. Auch können Akademien ganz offensichtlich gar nicht anders als das über Gebühr zu beloben und zu belohnen, was des Vergnügens wegen geschieht ‒ des Geistes wegen, des Windes.