Johann-Heinrich-Voß-Preis

The »Johann-Heinrich-Voß-Preis für Übersetzung« (Prize for Translation) has been awarded by the German Academy for Language and Literature since 1958 for the »outstanding achievements in translation,« with a particular emphasis on the translation of literature into German.
The prize is awarded annually at the spring conference of the German Academy.
The Johann Heinrich Voß Prize has been endowed with €20,000 since 2002.

Andreas Tretner

Mit seinem außerordentlich vielseitigen Wirken als Übersetzer erschließt er seit Mitte der
1980er Jahre die russische, bulgarische und tschechische Literatur
für eine deutschsprachige Leserschaft.

Jury members
Daniel Göske, Susanne Lange, Gabriele Leupold (Vorsitz), Terézia Mora, Ernst Osterkamp, Ulf Stolterfoht und Anne Weber

Laudatory Address by Anselm Bühling

Auf dem Fluss

Hinter Ihnen die tödlichen Verfolger [...] und vor Ihnen auf einmal ein Fluss, randvoll gefüllt mit Zeit, mit vielen Spiegelbildern obenauf. [...] Sie werfen sich ins Wasser. Doch das Ufer, das zunächst nur ein paar Schwimmzüge entfernt scheint, will offenbar Fangen mit Ihnen spielen, Sie schwimmen und schwimmen, und es bleiben immer dieselben paar Züge bis zum Ufer. [...] Strampelnd schlucken Sie Wasser, und über Ihrem Kopf schlagen die Wellen zusammen. Sie öffnen die Augen: gelbe Wand mit Algenzweiglein und Sonnenkreis in funkelnder Trübnis. Sie kämpfen noch ein Weilchen weiter, bis schlagartig eine unerhörte Leichtigkeit von Ihnen Besitz nimmt. Alle Sorgen fallen ab, es ist fantastisch. Wieso habe ich mich eigentlich so abgestrampelt, schießt es Ihnen durch den Kopf, wenn alles so leicht und wunderbar ist!

Verehrte Anwesende,

diese dramatische Flussüberquerungs-Szene stammt aus Andreas Tretners Übersetzung von Michail Schischkins Roman Venushaar. Ich musste der Kürze halber viel aus dem Weg räumen – unter anderem einen Tischtennisball, einen Wolf, eine Ziege, Kohlköpfe und einen Diplomatenkoffer. Trotzdem haben Sie vielleicht eine Ahnung davon bekommen, was Tretners Sprache auszeichnet: Hier sitzt jedes Wort. Die Sätze sind aufgeladen, aber frei von Ballast. Dieses Deutsch lebt; es hat Farben und Schattierungen, Klang und Rhythmus, man kann es sehen, hören, riechen, schmecken und fühlen.

Das Queren des Flusses hat Andreas Tretner selbst als Bild für das Übersetzen verwendet, als er im Wintersemester 2020/21 seine Antrittsvorlesung zur August-Wilhelm-von-Schlegel-Gastprofessur an der FU Berlin hielt. Wer übersetzt, muss nicht nur sich selbst über den Fluss retten, sondern etwas hinüberbringen. Und das nicht nur in eine Richtung. ‚Entweder den Leser ins Fremde bringen oder die Autorin ins Eigene‘ – so einfach ist das nicht und war es in Wirklichkeit nie. Und hier kommen Wolf, Ziege und Kohlkopf wieder ins Spiel: Wenn nicht mehr als nötig verloren gehen soll, muss man immer wieder hin und her. „Übersetzt wird irgendwo auf dem Fluss“, so sagt es Andreas Tretner.

Andreas Tretner wird im thüringischen Gera geboren und wächst dort auf. Im Jahr seiner Geburt, 1959, wird in der DDR der Bitterfelder Weg zur Entwicklung der sozialistischen Kulturpolitik ausgerufen. Das Motto lautet „Greif zur Feder, Kumpel“. Der kleine Andreas weiß davon nichts, aber er setzt Walter Ulbrichts Forderung, die Arbeiterklasse müsse „die Höhen der Kultur stürmen und von ihnen Besitz ergreifen“ für sich ganz persönlich um. In einer Umgebung, die nicht viel Abwechslung bietet, entdeckt er Bücher als Zugang zur Welt. Hier findet er Ablenkung und Anregung, hier kann er neue Perspektiven erkunden, sich in andere Menschen und Zeiten versetzen, und an Orte, die sonst nicht einfach zu erreichen sind. Die Sprache wird zum rettenden Ufer.

Mit neun oder zehn Jahren bekommt er erstmals ein Buch in die Hand, in dem diese Sprache nicht Deutsch ist. Der Sohn der Nachbarin hat es aus Moskau mitgebracht. Mit zwei Jahren Schulrussisch und einem Wörterbuch fängt er zu lesen an, Wort für Wort, Satz für Satz. Was er verstanden hat, schreibt er auf, und irgendwann hat er Tschechows Erzählung Kaschtanka übersetzt.

So lässt sich die Welt entdecken, so kann man sie sich verständlich machen. Vielleicht sogar anderen, und womöglich sogar als Beruf. Andreas Tretner bewirbt sich für ein Sprachmittler-Studium mit den Sprachen Englisch und Spanisch an der Universität Leipzig und wird angenommen. In der ersten Studienwoche erfährt er dann, dass er stattdessen Russisch und Bulgarisch studieren wird. „Wir haben dort monatelang Parteitagsreden gedolmetscht“, erzählt er in einem Interview, das er vor zwei Jahren dem Onlinemagazin novinki gab. Er erträgt das Studium, wie er selbst sagt, „als geborener Stoiker und dank gewisser Nischen“.Eine solche Nische ist das Bulgarische. Es ist nicht so ideologisch besetzt wie das Russische, die Sprache des Großen Bruders. Hier werden keine Phrasen gestanzt, es geht um Verständigung statt Verlautbarung, es gibt den Austausch im kleinen Kreis. Er schreibt seine Diplomarbeit über den bulgarischen Schriftsteller Jordan Raditschkow, und mit diesem Autor beginnt seine Laufbahn als literarischer Übersetzer. Der Kurzgeschichtenband Dem Herrgott vom Wagen gefallen erscheint 1987 bei Reclam Leipzig. Dort arbeitet Tretner dann auch als Lektor für slawische Literaturen. Übersetzungen genau zu lesen und abzugleichen, zu sehen, wie man es macht und wie vielleicht besser nicht, am Text zu arbeiten und zu feilen, das ist eine gute Schule.

Bald nach der Wende wird Reclam Leipzig von Reclam Stuttgart übernommen und Andreas Tretner beschließt, von nun an sein eigener Vorgesetzter zu sein. In einer Zeit des Umbruchs lässt er sich in jeder Hinsicht auf Neues und Ungewisses ein. Dazu gehört auch sein Interesse an der russischsprachigen Literatur, die zu dieser Zeit entsteht. Dass Namen wie Viktor Pelewin, Wladimir Sorokin, Michail Schischkin und Alexander Ilitschewski heute hier ein Begriff sind, ist nicht zuletzt ihm zu verdanken. Er hat diese Autoren sehr früh wahrgenommen und sich aktiv dafür eingesetzt, sie dem deutschen oder überhaupt dem internationalen Publikum zugänglich zu machen.

Sie gehören Tretners eigener und der nachfolgenden Generation an, und ihre Texte sind von einer Zeit geprägt, die in der ehemaligen Sowjetunion noch grundstürzendere Veränderungen mit sich brachte als im Osten Deutschlands.

In Russland hat das eine katastrophale Entwicklung genommen: Die Gesellschaft ist mit dem Verlust der Gewissheiten und Existenzgrundlagen, mit dem Aufbrechen der traumatischen Vergangenheit, nicht zurechtgekommen. Sie ist daran gescheitert, sich selbst in die Verantwortung zu nehmen. So konnten aus dem alten Machtapparat Strukturen erwachsen, die sich des Staates bemächtigt und ihn zu einer kriminellen Organisation umgebaut haben, die heute die Ukraine und die ganze Welt bedroht.

Von den acht lebenden Autoren, die Andreas Tretner aus dem Russischen übersetzt und hier bekannt gemacht hat, lebt heute keiner in der Russischen Föderation, und alle haben ihre ablehnende Haltung zum Überfall auf die Ukraine öffentlich deutlich gemacht – wie auch zahlreiche weitere Autorinnen und Autoren. Das ist nur eine Fußnote. Aber sie gehört hierher, denn sie zeigt: Die russischsprachige Literatur von Gewicht wird auf absehbare Zeit eine Literatur der Diaspora und des Exils sein.

In den Jahren nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion ist die Aufbruchsstimmung mindestens ebenso groß wie die Verheerungen. Die Literatur eignet sich in kürzester Zeit die Verfahren der Moderne und Postmoderne an. Sie saugt Einflüsse aus dem Westen auf und arbeitet sich an den Haupt- und Nebenströmungen der eigenen Tradition ab. Sie versucht, mit der Vergangenheit zurande zu kommen und all das Neue, Unerhörte, Faszinierende und Erschreckende ringsum aufzunehmen. Alles ist noch da, aber nichts ist an seinem Platz. Die Zeichen haben nicht mehr die erlernte Bedeutung.

Quasi in Echtzeit aus einer Literatursprache übersetzen, die nach langem Stillstand Hals über Kopf voran will: Dazu reicht es nicht, sich an dem zu orientieren, was in der Übersetzungstradition schon vorbereitet ist. Man muss auf den Fluss, ohne zu wissen, wo man sich genau befindet und wo man auf der anderen Seite ankommen wird. Andreas Tretner hat das gewagt und für das Übersetzen aus dem Russischen neue Wege erschlossen. Das Deutsche kommt bei ihm von dorther zu sich selbst. Es tut plötzlich Dinge, von denen es nicht mehr – oder noch gar nicht – wusste, dass es sie kann; und das spielend, wie nebenbei. Es verdichtet sich aufs Äußerste, spart sich das Subjekt oder Verb, schwelgt in Partizipien. Es teilt das Wichtigste zwischen den Wörtern mit. Es entlädt sich in weitschweifige Passagen voller herrlicher Redundanzen. Es wechselt vom skaz, dem mündlichen Erzählton, in das steife Kanzleiidiom und aus diesem in die Vulgärsprache. Sätze, die sich über mehrere Seiten hinziehen, gelingen ebenso überzeugend wie das rudimentäre Gestammel eines vereinsamten Erdgrubenbewohners in Wladimir Sorokins Roman 23000. Der Marketing-Jargon der frühen Neunziger in Viktor Pelewins Generation P wird genauso stilsicher getroffen wie frühneuzeitliche Sprachpassagen in Michail Schischkins Die Eroberung von Ismail. Anything goes, wenn man es kann.

Andreas Tretner ist Sprachkünstler und besessener Rechercheur. Und vor allem hat er die Fähigkeit, sich auf einen Text ganz und gar einzulassen – ihm an die Substanz zu gehen und das zum Vorschein zu bringen, was ihn auszeichnet. Ich kann Ihnen das an den Übersetzungen aus dem Russischen am besten nahebringen, weil ich selbst mit dieser Sprache arbeite. Aber es gilt genau so für die Übersetzungen aus anderen Sprachen, – etwa die wunderbare Novelle Das Basssaxofon des tschechischen Autors Josef Škvoreckýoder Angel Igovs Roman Die Sanftmütigen, der die Karriere eines jungen bulgarischen Funktionärs in den Jahren der Stalinisierung nachzeichnet und einen kollektiven Erzähler hat.

Beim Wechsel zwischen den Sprachen, so erzählt Tretner in dem schon zitierten Interview, habe er „manchmal das Gefühl, auch die Techniken wechselnzu müssen, wie ein Künstler, der Holzschnitte und Kupferstiche macht“. Er spricht dort auch über die Krise, die jedes Mal eintritt, wenn er sich nach der Abgabe einer Übersetzung in ein neues Buch hineinfinden muss, das jemand anders geschrieben hat. Diese Krise, sagt er, sei „sinnvoll und unerlässlich [...], weil man sich von Mal zu Mal neu erfinden muss in seiner Sprache“.

Sich von Mal zu Mal neu erfinden in seiner Sprache – diese Wendung bringt Tretners Kunst auf den Punkt. Sie drückt aus, worin für ihn der Reiz des Übersetzens liegt. Und sie erklärt, was seine Übersetzungen immer wieder zu einem sprachlichen Erlebnis werden lässt.

Noch vibriert der Satz
vor lauter Möglichkeiten
Lachend
tauschen die Wörter ihre Plätze.

Ich warte aufmerksam ab,

bis das Spiel sein Ende hat
Und jedes Wort Habtacht steht,
mit gespanntem Bogen.

So beschreibt die Dichterin Fedia Filkova, die selbst Ilse Aichinger, Ingeborg Bachmann und Friederike Mayröcker ins Bulgarische übersetzt hat, den künstlerischen Umgang mit der Sprache, und so hat Andreas Tretner ihre Zeilen ins Deutsche übertragen.

Als wir uns neulich getroffen haben, ließ Andreas im Gespräch das Wort „Alleinstellungsnot“ fallen. Ich habe es mir aus zwei Gründen gemerkt: Erstens wegen der Leichtigkeit, mit der er spontan den Ausdruck fand, der die Sache auf den Begriff bringt. Und zweitens, weil er selbst ganz frei von dem ist, was dieser Ausdruck beschreibt. Er bringt das, was er zu geben hat, in den produktiven Austausch ein und sucht die Zusammenarbeit. 2014 hat er sieben profilierte Kolleginnen und Kollegen davon überzeugt, Wladimir Sorokins vielstimmigen Roman Telluria als „Kollektiv Hammer und Nagel“ mit verteilten Rollen zu übersetzen. So wird die Polyphonie in der deutschen Fassung durch unterschiedliche Übersetzerstimmen getragen. Es gehört viel dazu, diesen Einfall nicht nur zu haben, sondern ihn zu einem glücklichen Ende zu bringen, am geeigneten Werk und mit der passenden Orchestrierung.

Andreas Tretner hat entscheidend dazu beigetragen, den Dialog zwischen den unterschiedlichen Übersetzungskulturen in Ost- und Westdeutschland in Gang zu halten. Er befasst sich immer wieder mit dem Leben und Werk anderer Übersetzer – etwa in seinen Beiträgen zum Germersheimer Übersetzerlexikon UeLEX, als Mitautor des Films Spurwechsel. Ein Film vom Übersetzen und als Mitkurator der Peter Urban gewidmeten Ausstellung Urbans Orbit. Einblicke in den Nachlass eines Übersetzers.

Zum Blick zurück gehört auch der Blick nach vorn. In Übersetzerwerkstätten, Seminaren und Mentorenprogrammen gibt Andreas Tretner das Handwerk an andere weiter. Und er ist dabei ein Glücksfall für die, die bei ihm lernen. Denn er speist sie nicht mit vorgefertigtem Wissen ab, sondern interessiert sich ernsthaft für ihre Arbeit, geht in den Dialog und ermutigt sie, ihr Bestes zu geben.

Andreas Tretner ist ein Mittler im besten Sinn. Er kann mit eigenen Worten fremde Stimmen zum Klingen bringen. Er sorgt dafür, dass Menschen etwas übereinander erfahren, einander verstehen und zusammen etwas bewirken. Und er hat ein genaues Gespür dafür, dass Vermitteln dort sinnlos wird, wo eine Seite nicht mehr verstehen, sondern angreifen und auslöschen will.

„Was im Protokoll über uns steht, das werden wir sein. Aus Worten geboren. Verstehen Sie doch: Gottes Idee eines Flusses ist der Fluss“, heißt es in Michail Schischkins Roman Venushaar.

Lieber Andreas, ich kann Dir und uns allen nur wünschen, dass Du in diesen schwierigen Zeiten weiter mit Freude über den Fluss setzen kannst und das hinüberbringst, was uns etwas zu sagen hat. Herzlichen Glückwunsch zum Johann-Heinrich-Voß-Preis!