Johann-Heinrich-Voß-Preis

The »Johann-Heinrich-Voß-Preis für Übersetzung« (Prize for Translation) has been awarded by the German Academy for Language and Literature since 1958 for the »outstanding achievements in translation,« with a particular emphasis on the translation of literature into German.
The prize is awarded annually at the spring conference of the German Academy.
The Johann Heinrich Voß Prize has been endowed with €20,000 since 2002.

Andreas Tretner

Mit seinem außerordentlich vielseitigen Wirken als Übersetzer erschließt er seit Mitte der
1980er Jahre die russische, bulgarische und tschechische Literatur
für eine deutschsprachige Leserschaft.

Jury members
Daniel Göske, Susanne Lange, Gabriele Leupold (Vorsitz), Terézia Mora, Ernst Osterkamp, Ulf Stolterfoht und Anne Weber

Ansichten vom dritten Ort

Beginnen wir beim Einfachen – und sind gleich bei der Crux, dem, was mich, den Übersetzer, von Ihnen, den Schreibenden, womöglich am nachhaltigsten unterscheidet:
dass ich meine Sprache immerzu, für beinahe jedes Buch eines jeden neuen Autors, neu entwerfen und der zuletzt gebrauchten, erst recht der eigenen, entfremden muss. Daraus ergibt sich, dass der „Vorrat an Worten“, den Luther in dem berühmten, uns betreffenden Sendbrief anmahnte, tendenziell unermesslich zu sein hat, am besten ganz ungesiebt und außerhalb jeder Kontrolle, ein Fundus für jeden Fall. Konzept hin, Begabung her, ich meine, er ist die schlichte Grundvoraussetzung für eine adäquate Ausübung des Berufs. Der Wald, in den ich, mit Walter Benjamin, hineinrufe, damit es als Übersetzung herausschallt.

Man schafft sich diesen Vorrat ja zu wesentlichen Teilen an, noch ehe ans Übersetzen zu denken wäre, im Schwamm-Alter.

Ein genuiner, mündlich tradierter Anteil ist gewiss. An der Hand der Großmutter über den Ronneburger Marktplatz gehen, die hundert Meter vom Rand bis zur Haustür in einer guten halben Stunde, weil aus einem Kleinstadtgespräch ins nächste gezogen, ein Ohrentheater. So fallen mir noch heute für manche Erzählerphrase, manchen Dialogfetzen immer zuerst die Ostthüringer Mundartlösungen ein, die – natürlich völlig zu Recht – allenfalls feinst filettiert die Filter süddeutscher Lektorinnen passieren.

Doch das Allermeiste hing vom Lesen ab.

Es geschah nicht von allein. Zu Hause gab es wenig Bücher; was in den Schullehrplänen stand, war präpariert und kaum verdaulich; was nicht, hat nie ein Lehrer uns ans Herz gelegt. Zu Anfang sehe ich mich in meiner Lesegier die Litfassäulen des Viertels umkreisen, und so war es eine glückliche Fügung, das im selben Jahr bei mir um die Ecke und einmal schräg über die Geraer Straße der Republik, dem Park gegenüber, der meine zweite Kinderstube war und den ich als frühen Weltmittelpunkt mit Lutz Seiler teile – Das war der Knochenpark, sagt A. – dass just dort die städtische Kinderbibliothek ins Notquartier eines Ladengeschäfts einzog. Der Laden war überschaubar groß, die Regale endeten in Kinderkopfhöhe, ich hatte die Bibliothek zügig durchgelesen, erwartete fortan die Neueingänge: Ich wuchs mit ihr.

Wildes Lesen füllte die Speicher, von denen ich glaube, dass sie bis heute das Maßgebliche hergeben, den Überfluß generieren, der das Unmögliche ermöglichen soll. Ergab sich aber nicht doch eine Prägung, aus den Grenzen einer nicht sehr großen Bibliothek, an diesem Ort zu jener bestimmten Zeit, war sie von Nutzen? Die Frage scheint nicht müßig, erlauben Sie mir, etwas genauer hinzusehen.

Das Spektrum war beachtlich, es muss sich in den Umständen eher erweitert als verengt haben. Zu den Altbeständen, die überlebt und sich nicht überlebt hatten, kamen die Kinder- und Jugendbücher der neuen Zeit, zu nicht geringen Teilen verfasst von Autorinnen und Autoren alter Schule, mit bürgerlich-humanistischen Wurzeln, viele aus dem antifaschistischen Exil und von ihm gezeichnet, mit hergebrachten Sehnsüchten und dezidierten Vorstellungen von einer neuen, besseren Welt. Das hatte nicht zuletzt den Effekt, dass viele klassische Typen der Kinderliteratur in neuer Varietät vertreten waren, interessante Wiedergänger ihrer Originale, und der Vergleich war möglich.

Dem verruchten Sachsen Karl May liefen in meinem Indianer-Lesezelt Anna Müller- Tannewitz und Lieselotte Welskopf-Henrich, aus Baden und aus Bayern gebürtig, den Rang ab. Meine Dschungelbücher waren von Ludwig Renn und Götz R. Richter. Wolf Durian gesellte sich zu Jack London, Alex Wedding zu Selma Lagerlöf, Franz Fühmann zu James Krüss, der Tscheche Václav Řezáč ersetzte mir Erich Kästner. Sowjetische Bücher und deren Übersetzer waren, wenngleich längst nicht mehr so dominant wie wohl in den Nachkriegsjahren, präsent. Vor Tschechow las ich seinen gemütvollen sowjetischen Epigonen Boris Wassilenko aus demselben Taganrog am Asowschen Meer, das Waisenzirkuskind Artjomka konkurrierte mit Tom Sawyer.

Im Rückblick am signifikantesten die Paarung von Anna Maria Jokls Perlmutterfarbe und Arkadi Gaidars Schicksal des Trommlers, die mich beide lange nicht losließen, ohne dass ich verstand, was sie miteinander zu tun hatten – heute weiß ich: im selben Jahr '38 geschrieben, chiffrierte Abbilder zweier totalitärer Systeme, das eine geradezu tiefenpsychologisch, das andere ex negativo, im Mantel von Propaganda, dem die Verstörung aus den Falten troff …

Übersetzers Grundstock, so weit waren wir. Angelegt, darauf wollte ich hinaus, schon im Modus der Korrelation. Der Expansion folgte die Vertiefung. Exemplarisch-exzessiv und sukzessive eingeübt im jugendlichen Alter, so erinnere ich, an Borchert, Brasch (mit Brecht dahinter), Bobrowski, Baldwin (resp. Wollschläger), Beckett (alias Tophoven) – ich könnte es die B-Phase nennen; daneben, für sich stehend, Christa Wolf. Vertiefung hieß eine Zeitlang auch Verkörperung. Anprobe fremden Textes. Thomas Braschs frühe Hahnenkopf-Suite zum Beispiel haben wir, Dolmetschstudenten im dritten Semester an der Karl-Marx-Universität Leipzig, im März 1978 mit listig camouflierter Titelei, auf die Bühne des Hörsaals 19 gebracht, vielleicht die einzige Brasch-Aufführung in der DDR nach seinem Weggang hinter die Mauer bis zum Fall derselben. Die Flügel dazu – auch den nötigen Mut – hatte mir Frank Wolf Matthies verliehen, als er in der Höhle des Löwen, nämlich im Souterrain des Museums für Deutsche Geschichte, seinen unerschrockenen poetischen Klartext vortrug. Matthies zog wiederum Rolf Dieter Brinkmann nach sich, nebeneinander ausliegend am Leipziger Rowohlt-Messestand im selben Magenta-Rahmen, dem die Ohren sich fiebernd anglichen, während wir lasen und lasen – usw. usf.

Genug davon. Eine Schriftstellerakademie muss ich mit Lesebiografie, ihren zielstrebigen Zufällen, symptomatischen Reihen nicht gar zu lange aufhalten. Die Rede war vom Ur-Wald. Ich will noch einmal zurück zu Benjamins kurioser Metapher (von dem, seinem Aufsatz über Die Aufgabe des Übersetzers, wir uns augenscheinlich, mehr oder weniger gern, vergattern lassen) und zitiere die Stelle im Ganzen:

Die Übersetzung aber sieht sich nicht wie die Dichtung gleichsam im innern Bergwald der Sprache selbst, sondern außerhalb desselben; ihm gegenüber und ohne ihn zu betreten ruft sie das Original hinein, an demjenigen einzigen Orte hinein, wo jeweils das Echo in der eigenen den Widerhall eines Werkes der fremden Sprache zu geben vermag.

Seltsam: Als wäre das Übersetzen primär eine Frage der Ortsbestimmung und der Rest ein magisches Ritual, eine Seance wie an der akustischen Planchette, vollzogen gegenüber dem, was die Dichter gestiftet haben.

Am meisten irritiert in dem Satz das Betretungsverbot. Kränkend zu erfahren, es sei gar nicht mein Wald, dabei meinte ich ihn angelegt zu haben; ich darf nicht mehr hinein oder wie zu Junkerzeiten nur mit Holzleseschein (sieh an! das Lesen), um einen Festmeter Totholz für den eigenen Herd zu entnehmen.

In eine Metapher hineinrufen und hören, was herausschallt: Benjamins Bild sagt mir zweierlei. Das Eine ist, dass da im Wald zuinnerst offenbar noch ein Zauberhag steht, worin „es“ aus einem spricht; er ist den Übersetzern verwehrt, weil wir als Dichter für das Übersetzen verdorben wären. Geschenkt! Zugleich will Benjamin uns bewahren davor, dass wir den Wald vor lauter Bäumen nicht sehen, indem er uns hinausexpediert – dahin, wo uns das Magnetfeld des Originals erreicht.

Denn das will ja genauso erlesen und verstanden sein. Meiner Überzeugung nach folgt dieser Prozess durchaus dem im muttersprachlichen Wald erworbenen Orientierungssinn – auch und gerade da, wo Unerhörtes hineinschallt, Anschluss sucht, Korrespondenzen, ohne sich domestizieren zu lassen. Fortan beeinflussen die Felder sich gegenseitig, setzen die Koordinaten für den idealen dritten Ort zusammen. Einer, der uns hellhörig macht, womöglich schizophren, und jedenfalls ein bisschen einsam … Die Distanz muss man aushalten.

 

Mein entschlossener Eintritt ins Literaturübersetzen fiel in die Hoch-Zeit von Glasnost, am Anfang vom Ende der Sowjetunion. Ein entfesselter Schwall von Literatur (Karl Schlögel sprach von Glossolalie), die aus dem Dampferhitzer einer aufbrechenden Gesellschaft und aus den geöffneten Schubladen quoll. Wir ließen ihn durchgehen durch uns, einströmen in den bereits schwärmenden deutsch-deutschen Bienenstock, wurden selbst ganz besoffen davon. Im Rausch fand ich zu meinen wichtigen Autoren und blieb ihnen im Zuge der Ernüchterung treu.

Zunächst ließ sich annehmen, dass es um einen Akt der ultimativen Befreiung, Entgrenzung, Dekonstruktion, des fröhlichen Abschieds ging, die Texte waren danach. Aber etwas von Verhängnis und Vergeblichkeit stand immer auch schon darinnen.

Unübersehbar die Aufarbeitung einer unseligen Gewaltgeschichte; ebenso dass die Gewalt noch in der Sprache war und gebändigt werden musste, nicht zuletzt darum ging es. Hier stieß, nebenher gesagt, auch das Übersetzen an die härteren Grenzen: Für Mat und Blat, jene rüde-elaboriert-schillernden subkulturellen Sprachsysteme aus den GULags, Kellern und Knästen, die Gewalt widerspiegelten und zugleich reproduzierten und die es – zuvor schon „tabu und in aller Munde“ (Viktor Pelewin) – nun ungehemmt in die Literatur spülte, hatten wir nur fadenscheinige Lösungen, schummelten uns auffällig darum herum.

Die Linie meiner Übersetzungen aus der russischen Literatur ist evident, sie folgte den wegweisenden, strategisch oder handstreichartig betriebenen Vorstößen, die alten ideologischen Zwänge in ästhetische Freiheiten umzumünzen.

Asolskis „Zelle“: Alternativgeschichte der 1930er im Stil eines Escape-Thrillers – die alten Muster des sozialistischen Realismus mit ein bisschen Noir zur Weißglut gebracht. Kononows „Nackte Pionierin“: ein Schelmenroman, heilige Hure und delirierendes Kind, den Mythos des Großen Vaterländischen Krieges untergrabend, unterplappernd. Und erst Pelewins popkulturelle Travestien auf die grotesken Spielarten der Transformation! Schischkin noch einmal im alten, beharrlich-vielstimmig beschworenen Glauben, den geschundenen Menschen durch das Wort wenn schon nicht dem Tod zu entreißen, so daraus wiederzuerwecken. Und schließlich Sorokin, der am tiefsten und radikalsten die sowjetischen Traumata freilegt, zunehmend in dystopischer Form, beängstigend prophetisch.

An diesen Autoren habe ich mich als Übersetzer freigeschwommen. Wobei das Zappeln des Frosches im Milchtopf gegen das Ersaufen, was günstigenfalls zu standfester Butter führt, wohl die gemäßere Vorstellung davon bleibt. Und wie gern ersoff ich in dem, was nicht zu übersetzen schien; wie viel indes ließ sich von anderen Fröschen an meiner Seite, Könige und Königinnen im wahren Leben, lernen! Allein wenn ich an die Attraktionen der Petersburger Gilde von Autorinnen und Autoren denke, Oleg Jurjew, vor dessen intellektueller Verve, ästhetischem Mutwillen ich den Hut am allertiefsten zog – und was Olga Martynova und Elke Erb daraus gemacht haben!

Doch unterdessen, ich muss nun darauf kommen, war längst etwas gekippt. Das lustig kreuzende Spukschiff mit der „russischen Fracht“, den räsonierenden Leichen im Laderaum, hat umgeflaggt und die Kanonen ausgefahren. An Sorokins Büchern, von einem zum anderen, ließ sich die Approximation von Dystopie und Realität schon geraume Zeit wie von der Uhr ablesen – immer näher zur Gegenwart siedelte der Autor seine Visionen an. Die Gegenwart kam ihm entgegen: spürbar seit der Jahrtausendwende, manifest seit den letzten straßenfüllenden Protesten der Zivilgesellschaft 2012: ein Roll-back von Gewalt und Repression, Aufschaukeln in einen imperialen Revanchismus und Protofaschismus, bis zur Entfesselung der Katastrophe. Mit dem russländischen Überfall auf die Ukraine scheinen Sorokins Bücher erstmals von der Realität überholt worden zu sein.

Sprache ist vorrangig wieder zum Gift geworden. Nach den aktuellen Befunden wäre die totale Ohnmacht, der Konkurs von Literatur, beschränken wir uns hier auf die übersetzte russische, in ihrer beschworenen Schönheit, Wahrheit und Weisheit unschwer zu konstatieren. Das betrifft, ich erwähne es nur am Rande, genauso die profanen Stereotypen der Rezeption alles Russischen hierzulande, den robusten Kitsch von der russischen Seele, an die man nichts als glauben könne, dem noch die heikelsten Diagnosen nie etwas anhaben konnten.

Vielleicht haben Sie das bizarre Leinwandkarree gesehen, mit dem die Russen die Ruine des von ihnen zerstörten Theaters in Mariupol, Grab für Hunderte ziviler Ukrainer, blickdicht zu umstellen versuchten – bedruckt mit den Konterfeis von Gogol, Puschkin und Tolstoi. Das ist, so fürchte ich und kann mir nicht helfen, die russische Literatur heute – a priori, im Ganzen. So hohl, so ausgebrannt, so plakativ, anmaßend irreführend, so vergeblich fühlt sie sich im Augenblick an.

Wir sind in der Krise, die russische Literatur und ihre Übersetzer. Sind verstummt, senken schamhaft voreinander den Blick, schweigen uns an.

Nie war die Distanz größer. Kein Echo könnte noch gelingen, so scheint es.

Wo die Bücher meiner Autoren noch in russischen Buchhandlungen ausliegen, sind sie wie Pornografieartikel im neutralen Umschlag verpackt; demnächst werden sie ganz verschwunden sein. Wohin? In den Untergrund, Samisdat? Gut möglich, dass die Formen, in denen sie irgendwann wiederkehren, nicht mehr die alten sind. Soll man darin eine Hoffnung sehen?

In so einem Moment von Debakel und Paralyse den großen Preis der Akademie zugesprochen zu bekommen könnte wie bitterer Hohn anmuten oder allzu hochnobler Trost. Sagen wir also: ein Kredit. Da muss es noch etwas einzulösen geben. Weil die Geschichte sich in der Wiederholung als Farce, Re-enactment (ich denke an den Roman der Stunde, Gospodinovs Zeitzuflucht) unmöglich erschöpfen kann.

Wenn der Übersetzer am dritten Ort auszuharren beschließt, dann nicht, um Rufer in der Wüste vor austrocknendem Wald zu sein.

 

Wem habe ich zu danken? Aufrichtig der Akademie und Ihnen, den Autorinnen und Autoren allen, die mir von ihrer Sprache abgeben. Den geliebten Kolleginnen in der „Russisch-Gruppe“ am Kracauerplatz in Charlottenburg, ohne die die Arbeit nicht nur noch einsamer, auch noch mehr Blindflug wäre. Dem Deutschen Übersetzerfonds am Literarischen Colloquium für den verlässlichen Support, die geistigen und materiellen Freiräume für unsere Arbeit. Und der Gelegenheit danke ich, meine Hochachtung und Verbundenheit öffentlich zu machen vor und mit all jenen, die derzeit mit dem Wort, auch dem übersetzten, der akuten Barbarei aktiv widerstehen. Insbesondere den ukrainischen und belarussischen Autoren und ihren Übersetzern und Übersetzerinnen in der Heimat und im Exil, den Freunden von der großartigen Aufklärungs-Plattform Dekoder, den Helden der Berichterstattung bei Dozhd in Riga und Amsterdam, Barbara Oertel und ihrem weitverzweigten Team von der Berliner tageszeitung und so vielen Anderen, in dieser Reihe ungenannt Bleibenden. Ihr macht mir Mut. Wenn ihr etwas von mir brauchen könnt, sagt es.