Sigmund-Freud-Preis

STATUT

§ 1
Der Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa zeichnet seit 1964 Gelehrte aus, deren Werk nicht nur durch seinen geistigen Rang, sondern auch durch die Qualität seiner wissenschaftlichen Prosa besticht.

Der Preis wird getragen von der ENTEGA Stiftung und ist aktuell mit 20.000 EUR dotiert. Er wird jährlich im Rahmen der Herbsttagung verliehen.

§ 2
Der Sigmund-Freud-Preis wird vergeben für herausragende Beiträge zur Entwicklung des Deutschen als Sprache der wissenschaftlichen Publizistik. Er wird für deutschsprachige Originalveröffentlichungen vergeben, die sich durch ihre wissenschaftliche und ihre stilistische Qualität gleichermaßen auszeichnen. Er kann Werke aus allen Disziplinen berücksichtigen.

§ 3
Das Vorschlagsrecht liegt in den Händen der Jury.

§ 4
Die Jury besteht aus dem Erweiterten Präsidium der Akademie.

Die Jury berät über die vorgeschlagenen Kandidatinnen und Kandidaten in einem mehrstufigen Verfahren.

Beschlossen vom Erweiterten Präsidium am 18. Februar 2021

Siegfried Melchinger

Journalist und Theaterkritiker
Geboren 22.11.1906
Gestorben 2.3.1988

Durch die Kraft und Genauigkeit seines Wortes hat er dramatische Werke der Weltliteratur, besonders das Drama der Griechen, in die Gegenwart ihrer Entstehung zurückversetzt und erklärt...

Jurymitglieder
Juryvorsitz: Präsident Peter de Mendelssohn
Vizepräsidenten Karl Krolow, Horst Rüdiger, Dolf Sternberger, Beisitzer Gerhard Storz, Bernhard Zeller, Eva Zeller

Aufforderung zur Klarheit

In einem berühmten Brief an Balzac gestand Stendhal, er habe, als er »Die Kartause von Parma« schrieb, jeden Morgen zwei bis drei Seiten im »Code civil« gelesen. Nun, wir haben im Deutschen nichts Vergleichbares, im Gegenteil: Paragraphentexte und Juristendeutsch stehen eher im Verruf. Was könnten wir also vornehmen, um, wie Stendhal sich ausdrückte, »den Ton zu stimmen«? Ganz einfach: Stendhal!
Was hat er im »Code civil« gesucht? Er sagte es im Brief: »Ich habe nur eine Regel im Auge: klar sein! Wenn ich nicht klar bin, ist meine ganze Welt verloren.«
Klarheit entsteht wesentlich durch Weglassen. Sie ist trotzdem nicht Dürre. Stendhal forderte sie ja für einen Roman. Er haßte das, was man damals den »poetischen Stil« nannte, die geschmückte, die gezierte, die schön tönende Sprache, die er für Lüge hielt. Klarheit hieß für ihn nichts anderes als Konzentration auf die Sache, also auf das Objekt, den Gegenstand der Aufgabe. »Der Leser soll«, schrieb er, »an die Gestalt des Grafen Mosca denken und nicht an irgendwelches Drum und Dran.« Das Poetische eines Romans liegt demnach nicht im Stil; wenn ein Stil die Präzision des »Code civil« erreichen soll, gelangt er dazu nur durch die absolute Priorität des Gegenstands: poetisch ist die Erfindung von Gestalten und Handlungen. Auch wer Klarheit in der nichtpoetischen Prosa sucht, erreicht sie durch die Konzentration auf seinen Gegenstand. Den Unterschied, einen Unterschied, kann man zunächst so definieren: »Poetisch« ist die Sprache dessen, der die Gestalt oder die Handlung macht – poiein heißt machen –, »nicht poetisch« ist zum Beispiel die Sprache dessen, der über die poetische Gestalt oder Handlung schreibt. Aber so einfach ist es nicht überall und nicht einmal im Grunde.
Auch bei dem, der vorher den »Code civil« gelesen hat, wird Sprache poetisch nicht nur durch Klarheit. Selbst wenn er alles wegläßt, was nur ornamental ist, das negativ »Poetische«, enträt er nicht jener Sprachkraft, die dem Autor nicht poetischer Prosa abgeht; sie äußert sich in nicht rationalisierbaren Elementen wie Duktus, Rhythmus, Sprachklang (der durchaus nicht Schönklang sein muß), Tonfall, Wortschatz und Wortwahl. Vergleicht man die dichterische Prosa eines Thomas Mann mit der etwa eines Martin Walser, erkennt man leicht, daß keiner von beiden anders schreiben konnte als er geschrieben hat oder schreibt, und was ihnen einfiel, während sie nichts anderes machten, als weißes Papier mit Worten zu beschreiben, war ein poetisches Diktat.
Der entscheidende Unterschied zwischen poetischer und nicht poetischer Prosa liegt nun darin, daß die letztere keine nicht rationalisierbaren Elemente aufweist. Ihre Klarheit versetzt sich nicht in Rhythmus; ihre Wortwahl verfügt nicht über die Erfindungskraft des poietes, des Machers, des Dichters, sie ist nicht schöpferisch (oder, wie man heute zu sagen pflegt, »kreativ«). Im Gegenteil: sie unterwirft sich bewußt jener Konvention des Sprachgebrauchs, die ihr nicht nur die Klarheit, sondern die Verständlichkeit vorschreiben. Kant bemerkte einmal, er entziehe lieber etwas der »Zierlichkeit der Sprache«, als sich die mindeste Unverständlichkeit zuschulden kommen zu lassen. Apropos Kant: seine Sprache gilt als schwierig, seine Schachtelsätze sind berüchtigt, vieles wird oft erst beim zweiten Lesen verständlich (dann freilich unbedingt); ich meine, die Schwierigkeit liegt wie bei manch anderem Philosophen, der gewisse Dinge zum erstenmal bedacht hat, in der Schwierigkeit des Gegenstands, also des Gedachten, genauer: im Fehlen einer Konvention, darüber zu sprechen. Bei Karl Popper fand ich den Satz, es gebe »so etwas wie ein Kantisches intellektuelles Klima, ohne das die Theorien von Einstein oder Bohr undenkbar sind«, und diese sind, wie man zugeben wird, auch nicht gerade einfach. Um zu zeigen, welche Prosa selbst dieser schärfste aller Denker schreiben konnte, zitiere ich eine Stelle aus der »Kritik der reinen Vernunft«:

»Wir haben jetzt das Land des reinen Verstandes nicht allein durchreiset, und jeden Teil sorgfältig in Augenschein genommen, sondern es auch durchmessen, und jedem Dinge auf demselben seine Stelle bestimmt. Dieses Land aber ist eine Insel, und durch die Natur selbst in unveränderliche Grenzen eingeschlossen. Es ist das Land der Wahrheit (ein reizender Name), umgeben von einem weiten und stürmischen Ozeane, dem eigentlichen Sitze des Scheins, wo manche Nebelbank, und manches bald wegzuschmelzende Eis neue Länder lügt, und indem es den auf Entdeckungen herumschwärmenden Seefahrer unaufhörlich mit leeren Hoffnungen täuscht, ihn in Abenteuer verflechtet, von denen er niemals ablassen, und sie doch nicht zu Ende bringen kann...«

Vermutlich hätte Stendhal selbst dieses Stück Prosa der Metaphern wegen als zu poetisch empfunden. Und gewiß hat sich der Autor nicht poetischer Prosa, indem er der Verführung zur »poetischen« Ausdrucksweise widerstrebt, der Grenzen bewußt zu sein, die ihm seine deskriptive, analytische oder auch kritische Aufgabe setzt; gewiß ist seine Freiheit beschränkt, und keinesfalls trifft auf seine Prosa der Gemeinplatz zu, der allzu parat liegt, wenn von Stil die Rede ist; »Le style, c’est l’homme«. Doch kann sich natürlich kein Schreibender völlig den ihm angeborenen Neigungen und Begabungen entziehen. Wesentlich ist, daß die Individualität sich nur unbeabsichtigt bemerkbar macht. Während der Poet sich eben dadurch ausweist, daß er dem Diktat seiner nur ihm eigenen, seiner unverwechselbaren Sprache folgt, sollte es die Tugend des Nichtpoeten sein, der Verführung zur Originalität den heftigsten Widerstand entgegenzusetzen. Unter den Gefährdungen nicht poetischer Prosa nenne ich als erste die Lust an der Pointe. Nichts, um Himmels willen, gegen die Pointe als solche; in der Konversation zum Beispiel, in der Rhetorik, in der Komödie. Auch sei gleich eingeräumt, daß die Übergänge fließend sind. Die schönste Pointe, die ich kenne, stammt von Alfred Polgar: über den wunderbaren, 1918 verstorbenen Schauspieler Oscar Sauer schrieb er: »Wo er hintritt, wächst Gras«. So mag sich zuweilen poetisches Talent selbst bei einem Autor melden, der es, wie Polgar, weit von sich gewiesen hätte, seine Kritiken und Feuilletons als »Poesie« zu bezeichnen. (Kerr war da übrigens anderer Ansicht: oft, meinte er, sei die Kritik mehr wert als das Stück.) Der Kritik, vor allem der Theaterkritik, in der sich die Lust an der Pointe am zügellosesten tummelt, muß man wohl eine eigene Rubrik unter dem Sammelbegriff nicht poetischer Prosa einräumen. Andererseits: mag Kritik keine Wissenschaft sein, so gibt es doch keine Wissenschaft ohne Kritik. Und hier jedenfalls schießt jede Pointe an der Sache, genauer: an der Sachlichkeit vorbei.
Eine zweite, zumal heute auffallende Gefahr wissenschaftlicher Prosa ist der Jargon. Wer sich ihm überläßt, tritt in doppelter Richtung zu kurz: erstens im Hinblick auf die Sache, den Gegenstand, zweitens im Hinblick auf denjenigen, mit dem er spricht. Indem er vorgeformte und allzu rasch verwendbare Redeweisen übernimmt, verrät er einen Mangel an Denken, an Nachdenken. Er nimmt seine Sache nicht ernst genug, da er darauf verzichtet, ihr auf den Grund zu gehen. Er mißbraucht die an sich unerläßliche Konvention der Verständlichkeit, um ein Einverständnis mit denen zu erzielen, deren Redeweise er übernimmt. Er ersetzt eigene Erkenntnisse durch gängige Formeln. Das Klischee diktiert die Phraseologie seiner Texte. Dahinter verbirgt sich Opportunismus. Man hängt die Fahne in den Wind des Trends, ob dieser nun, wie vorgestern den »Jargon der Eigentlichkeit« oder wie gestern den der alles dominierenden Soziologisierung oder wie heute den des neuen »Interesses am Privaten« vorschreibt – merkwürdig übrigens, wie das Pendel bald aus-, bald zurückschwingt: das Neue, das die Mode macht, verbraucht sich rasch. Die Sprache des Jargons ist leer und flach. Wer sich statt auf den Stil auf die Sache konzentriert, wird sie hassen.
Am schlimmsten ist – das sei nur noch angedeutet –, daß der Jargon das ausschließt, was ich die Offenheit der nicht poetischen Prosa nennen möchte: das Eingeständnis der Unzulänglichkeit, das, wie Kant unermüdlich betont hat, aller unserer Erkenntnis- und Urteilsmöglichkeit anhaftet, die latente Fragwürdigkeit, der Zweifel, der vor Hochmut bewahrt. Wer Klarheit sucht, weiß, daß er sie nicht, noch nicht besitzt; in dem, was er schreibt, sollte die Schwierigkeit, das Ziel zu erreichen, noch bemerkbar sein.

Lassen Sie mich das Gesagte zum Schluß noch auf meinen Fall anwenden.
Ich war fünfzig, als ich mein erstes Buch schrieb. Vorher war meine Prosa die Kritik. Ich verließ die Wissenschaft, um Journalist zu werden. Es reizte mich wohl, unmittelbare Eindrücke zu beschreiben und daraus Urteile abzuleiten. Damals, Ende der zwanziger Jahre, waren Jacobsohn, Kerr, Ihering, Polgar die führenden Kritiker. Ich kann nicht sagen, daß ich mir einen von ihnen zum Vorbild nahm. Von Polgar, den ich liebte, wußte ich, daß ich ihn nie erreichen würde. So nahm ich mir, als ich lange genug Kritiken geschrieben hatte, etwas vor, was Polgar nie im Sinn gehabt hat: den Versuch einer Synthese der Erfahrungen, eines Überblicks über die Vorgänge auf der Bühne, einer Analyse des »Theaters der Gegenwart«. In diese Phase fiel meine Stendhal-Begegnung. Synthese, Überblick, Analyse einer Gegenwart – das schien mir jene Klarheit vorauszusetzen, wie sie nur durch die strikte Konzentration auf den Gegenstand erlangt werden konnte. Stendhals Gegenstand war (in dem zitierten Brief benannt) ein Roman. Der Gegenstand des großen Mannes, dessen Namen dieser Preis trägt, war die Medizin. Bei beiden waren es also die Menschen. Mein Gegenstand war, wenn ich dies, bei allem Bewußtsein des Abstands, sagen darf, das Theater: die Leute, die es machen, und die Leute, für die es gemacht wird, auch die Menschen. In Abwandlung eines Aristoteles-Worts, wonach die Geschichte beschreibt, was war und ist, und das Theater, was möglich ist, sage ich gern: das Menschenmögliche.
Der Wunsch nach Klarheit schafft das Gerüst; der Gegenstand füllt es. Nur dieser bestimmt die Sprache. Stil ergibt sich dabei, vielleicht, von selbst.