STATUT
§ 1
Der Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa zeichnet seit 1964 Gelehrte aus, deren Werk nicht nur durch seinen geistigen Rang, sondern auch durch die Qualität seiner wissenschaftlichen Prosa besticht.
Der Preis wird getragen von der ENTEGA Stiftung und ist aktuell mit 20.000 EUR dotiert. Er wird jährlich im Rahmen der Herbsttagung verliehen.
§ 2
Der Sigmund-Freud-Preis wird vergeben für herausragende Beiträge zur Entwicklung des Deutschen als Sprache der wissenschaftlichen Publizistik. Er wird für deutschsprachige Originalveröffentlichungen vergeben, die sich durch ihre wissenschaftliche und ihre stilistische Qualität gleichermaßen auszeichnen. Er kann Werke aus allen Disziplinen berücksichtigen.
§ 3
Das Vorschlagsrecht liegt in den Händen der Jury.
§ 4
Die Jury besteht aus dem Erweiterten Präsidium der Akademie.
Die Jury berät über die vorgeschlagenen Kandidatinnen und Kandidaten in einem mehrstufigen Verfahren.
Beschlossen vom Erweiterten Präsidium am 18. Februar 2021
Soziologe, Politikwissenschaftler und Publizist
Geboren 1.5.1929
Gestorben 17.6.2009
Unverwechselbarkeit des Stils verbindet sich bei ihm mit der Triftigkeit des Arguments.
Jurymitglieder
Juryvorsitz: Präsident Herbert Heckmann
Vizepräsidenten Walter Helmut Fritz, Hans-Martin Gauger, Hartmut von Hentig, Beisitzer Georg Hensel, Ivan Nagel, Lea Ritter-Santini, Guntram Vesper, Peter Wapnewski, Hans Wollschläger, Ehrenpräsident Dolf Sternberger
Laudatio von Jürgen Habermas
Philosoph und Soziologe, geboren 1929
Einheit von Objektivität und Leidenschaft
Im Spiegel der Öffentlichkeit hat Dahrendorfs Bild bereits scharfe Konturen angenommen. Nicht alle Züge, die sich diesem Image eingeprägt haben, sind falsch. Wo immer er ankam, war Dahrendorf der erste, – und dies nicht nur in einem zeitlichen Sinne. Aus meiner Generation hat er, 23jährig, als erster promoviert, ging als erster ins Ausland, habilitierte sich als erster, wurde der jüngste Professor. In Bonn war er gewiß – ich habe es nicht nachgeprüft – der jüngste Außenamts-Staatssekretär, in Brüssel der jüngste Hohe Kommissar. Seit 1974 hat sich diese sprunghafte Karriere in England fortgesetzt; sie hat Dahrendorf nach Oxford und ins britische Oberhaus geführt. Dieser Weg verrät die Anspannung eines vibrierenden Geistes, eines großen intellektuellen Ehrgeizes; andere Spuren verdeckt er auch: die Nicht-Verführbarkeit und Kontinuität eines entschiedenen Geistes. Oft ist Dahrendorf zu neuen Ufern nur aufgebrochen, um ganz er selbst bleiben zu können.
Schon vor 35 Jahren, als ich ihn bei Schelsky in einem Kreis junger Soziologen kennenlernte, trat Dahrendorf so auf, wie wir ihn bis heute kennen – er war brillant, und er wußte es. Von diesem Selbstbewußtsein zeugt beispielsweise der Titel seiner Tübinger Antrittsvorlesung von 1961: »Über den Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen«. Hier rechnet er mit Rousseau ab. Und noch Jahrzehnte später wird er seinen linken Freunden Vorhalten, daß die Suche nach Rousseau ihr böses Ende bei Hobbes finden müsse. Damals ging es ihm noch um die Spuren Rousseaus im zeitgenössischen Strukturfunktionalismus und um eine an Hobbes angelehnte Konflikttheorie, die sich im Adenauer-Milieu als forsche Kritik an harmonistischen Suggestionen des herrschenden Parsonianismus anbot. Dahinter standen Argumente, die Dahrendorf in seiner Habilitationsschrift entwickelt hatte. In der umgearbeiteten englischen Fassung bleibt diese auch rückblickend Dahrendorfs bedeutendstes fachsoziologisches Buch.
Dahrendorf bestreitet den engen Zusammenhang, den Marx zwischen ökonomischer Lage und sozialer Schichtung einerseits, politischer Herrschaft andererseits hergestellt hatte. Aus der Struktur von Herrschaft selber, aus der Notwendigkeit, normengemäßes Sozialverhalten durch Sanktionen zu erzwingen, ergibt sich per se eine Ungleichheit, die der ungleichen Verteilung der Produktionsmittel und des gesellschaftlichen produzierten Reichtums noch vorausliegen soll. Auf diese Weise läßt sich dem Klassenkonflikt, wenn er nur von Institutionen der Freiheit domestiziert wird, die Unschuld zurückgeben. Ja, ein derart neutralisierter Klassenkonflikt kann als Motor erwünschten sozialen Wandels rehabilitiert werden.
Dahrendorfs Gedanken bewegen sich damals, wie die seines Freundes Popitz, im Begriffsnetz von Norm, Sanktion, Konflikt – Gesellschaft ist etwas, das weh tut und nur durch Zwänge den Individuen Freiheitsspielräume öffnet. Erst sehr viel später wird sich Dahrendorf Max Webers Einsicht zu eigen machen, daß Institutionen auch aus anderem Stoff gemacht sind, nämlich zusammenwachsen aus Interessen und Werten, Sanktionen und Überzeugungen. Er wird erklären, daß der Zuwachs an Optionen nicht um den Preis jeder Art von sozialen Bindungen erkauft werden darf, wenn Freiheit nicht ihre Substanz verlieren soll.
Mit seiner frühen, oft mißverstandenen Konflikttheorie wirkte Dahrendorf Anfang der 6oer Jahre, während der Inkubationszeit der Studentenrevolte, über das Fach hinaus und half mit, den Boden zu bereiten für die sozialliberale Koalition. Mit seiner zweiten großen Monographie »Gesellschaft und Demokratie in Deutschland« (1965) gewann er Reputation in der breiten Öffentlichkeit. Als einziger Soziologe nach 1945 hatte er den Mut, frontal die Schicksalsfrage anzugehen, warum sich in Deutschland eine Demokratie westlichen Zuschnitts so lange nicht hatte durchsetzen können. Dahrendorf hat sich ein Gespür für Probleme bewahrt, die nicht aus dem wissenschaftlichen Diskurs, sondern aus dem Leben auf uns zukommen. Auch historische Fragen bearbeitet er unter generalisierenden Gesichtspunkten, nur bewaffnet mit einer Handvoll normativer Postulate und erklärender Hypothesen. Dieses Vorgehen erscheint auf den ersten Blick etwas scholastisch: zunächst eine präzise Frage und eine entsprechende These, dann der Erklärungsversuch mit empirischen Evidenzen, schließlich das Argument; in Wahrheit ist dieser Diskurs von Popper inspiriert, vom Glauben an die Soziologie als Gesetzeswissenschaft.
Dahrendorf ist bei zwei analytischen Philosophen, Josef König und eben Popper, in die Schule gegangen; er steht aller geisteswissenschaftlichen Hermeneutik fern. Schon der Doktorand behandelt Hegel und Marx mit spitzen Fingern; auch später kam er nicht in Gefahr, von der Sprachgewalt des Deutschen Idealismus, sei es angesteckt oder überrollt zu werden.
Seine Sprache ist, seine beiden Sprachen sind von anderer Art. Konstruktiv verfertigt Dahrendorf argumentative, durchsichtige, didaktisch aufgebaute Texte von spröder Eleganz und ausgreifender, aber keineswegs aufdringlicher Begrifflichkeit. Er ist ein Soziologe, der schreiben kann, der freilich auch dann noch Soziologe geblieben ist, als er seine Schriftstellerei auf die politische Zeitdiagnose ausdehnte.
Die politischen Erfahrungen zwischen 1969 und 1974 haben aus Dahrendorf einen theoretisch anspruchsvollen, sozialwissenschaftlich informierten politischen Schriftsteller gemacht. Dahrendorf, der schon mit 15 Jahren mit der Gestapo in Konflikt kam und verhaftet wurde, hat stets politisch gedacht. Ohne sein sozialdemokratisches Elternhaus ist weder das lebenslange Engagement für Freiheit und soziale Gerechtigkeit zu verstehen, noch die ambivalente Ablösung von der sozialistischen Tradition. Er selbst nennt sich einmal halb ironisch einen nicht-rekonstruierten Liberalen des 18. Jahrhunderts. Das erklärt eine wohltuend steife Radikalität vieler Stellungnahmen, auch gewisse Dissonanzen, die diese im juste milieu der Bundesrepublik ausgelöst haben. Der Provinzialität dieses Landes hat er den Rücken gekehrt, auch wenn man nicht recht weiß, ob ein Hamburger, der nach London geht, damit auch schon emigriert. Die Radikalität jenes frühen Liberalismus, mit dem Dahrendorf das Demokratiedefizit deutscher Traditionen – so wie andere mit einem Rückgriff auf den amerikanischen Pragmatismus – auszugleichen versucht, mag übrigens auch erklären, warum er das antikommunistische Ressentiment nicht nötig hatte. Noch im Juli 1985 wiederholt er vor englischem Publikum jenes Wort, das der Reichskanzler Wirth nach dem Mord an Rathenau gesprochen hatte: »Der Feind steht rechts.«
In der Produktion der letzten anderthalb Jahrzehnte, in den Reith Lectures des BBC, in den Vorlesungen über »Law and Order«, in dem wichtigen Buch über Lebenschancen, zuletzt in den Fragmenten eines neuen Liberalismus, kommt der literarische Dahrendorf ganz zu sich selbst. Ein terminologisch entlasteter Stil löst sich von den fachwissenschaftlichen Konven-tionen, die alten Stärken treten noch stärker hervor: der direkte Zugriff aufs Thema, der explorative Zug des Essayisten, die erhellende Provokation, bewußte Vereinfachung, das energische Zugehen auf normative Fragen, der ganz unzynische Blick auf schmerzhafte Realitäten, Augenmaß für das politisch Mögliche ohne Opportunismus und Selbstmitleid, ohne Kompromiß im Grundsätzlichen. Einem solchen Autor gebührt ein Preis für wissenschaftliche Prosa.
Gewiß, zum Werk von Sigmund Freud unterhält Dahrendorf kein intimes Verhältnis. Der Schatten Poppers liegt zwischen ihm und Freud. Was ihn mit Freud verbindet ist eine Mentalität, die an Max Weber erinnert. Dahrendorf mag zuweilen prätentiös auftreten; ganz unprätentiös jedoch stellt sich in seinen Schriften die schwierige Einheit von Objektivität und Leidenschaft her.