STATUT
§ 1
Der Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa zeichnet seit 1964 Gelehrte aus, deren Werk nicht nur durch seinen geistigen Rang, sondern auch durch die Qualität seiner wissenschaftlichen Prosa besticht.
Der Preis wird getragen von der ENTEGA Stiftung und ist aktuell mit 20.000 EUR dotiert. Er wird jährlich im Rahmen der Herbsttagung verliehen.
§ 2
Der Sigmund-Freud-Preis wird vergeben für herausragende Beiträge zur Entwicklung des Deutschen als Sprache der wissenschaftlichen Publizistik. Er wird für deutschsprachige Originalveröffentlichungen vergeben, die sich durch ihre wissenschaftliche und ihre stilistische Qualität gleichermaßen auszeichnen. Er kann Werke aus allen Disziplinen berücksichtigen.
§ 3
Das Vorschlagsrecht liegt in den Händen der Jury.
§ 4
Die Jury besteht aus dem Erweiterten Präsidium der Akademie.
Die Jury berät über die vorgeschlagenen Kandidatinnen und Kandidaten in einem mehrstufigen Verfahren.
Beschlossen vom Erweiterten Präsidium am 18. Februar 2021
Politikwissenschaftler
Geboren 27.6.1937
Peter Graf Kielmansegg, einem Gelehrten von weiter, zugleich politischer, historischer und juristischer Bildung...
Jurymitglieder
Juryvorsitz: Vizepräsident Herbert Heckmann (geschäftsführend)
Vizepräsidenten Ludwig Harig, Eva Zeller, Beisitzer Beda Allemann, Geno Hartlaub, Hans Paeschke, Lea Ritter-Santini, Bernhard Zeller, Ernst Zinn, Ehrenpräsidenten Dolf Sternberger, Bruno Snell, Gerhard Storz
Laudatio von Karl Dietrich Bracher
Politikwissenschaftler, geboren 1922
Daß der Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa einem Politikwissenschaftler zufällt, erscheint heute angesichts der Lage und des Rufes dieser Disziplin eher ungewöhnlich. Vollends dann, wenn er nicht einem der älteren Meister der Sprache und des Schreibens gilt, sondern einem jüngeren Kollegen, der sich allerdings als Stilist des politischen Essays von vielen politikwissenschaftlichen Altersgenossen abhebt.
Peter Graf Kielmansegg gehört jener Generation an, die noch vor dem großen Sturm auf die Festung Wissenschaft mit dem »Nachdenken über die Demokratie« begonnen hat – lange bevor er diesen Titel dem heute auszuzeichnenden Band voranstellte. Da waren die juristischen und historischen Studienjahre in Kiel und Tübingen, in Oxford und in Bonn. Der Dissertation über den Freiherrn von Stein (1964) folgte zunächst das große Werk über den Ersten Weltkrieg (1968), die bis heute umfassend eindringlichste Behandlung dieses Themas.
Vor allem aber entstanden seit der Assistentenzeit bei Eugen Kogon in Darmstadt die weitausholenden scharfsinnigen Studien über das Problem der Volkssouveränität, mit denen sich Kielmansegg 1971 habilitierte. Es ging darum, die »Bedingungen demokratischer Legitimität« zu untersuchen, wie dann der Untertitel des Buches von 1977 lautete; dies traf einen Nerv der neuen aufregenden Diskussion über die richtige, die wahre, die perfekte Demokratie. Doch in zwei Punkten unterschied sich die Schrift über die Geschichte und heutige Problematik der Volkssouveränität von der zeitgenössischen Demokratieliteratur, die im Banne der Marcuse- und Habermaswelle stand. Dies Buch hielt sich nicht nur von den theoretisierenden Sprachmoden einer soziologisch-psychologisch überfrachteten Verwissenschaftlichung fern; es hob vor allem den Begriff und Gedanken der Demokratie betont von den ideologischen Verzerrungen einer Kampfliteratur ab, der das Ziel totaler Emanzipation und Herrschaftslosigkeit alles war, hingegen die Frage der Mittel und Wege, des Maßes und der Formen nichts bedeutete.
Mit den Worten Kielmanseggs:
Aufklärung darüber, daß das Volk sich selbst regieren kann, müßte doch aber wohl Aufklärung darüber sein, wie das Volk sich selbst regieren kann. Erst wenn der politische Prozeß beschrieben wird, in dem Selbstregierung des Volkes sich vollzieht, kann ernsthaft diskutiert werden. Dies erst ist die Schwelle, an der die Umsetzung des bloßen Glaubensbekenntnisses in Demokratietheorie beginnt... (Das Prinzip der Volkssouveränität, S. 187f).
Ein eindrucksvolles Beispiel solcher Arbeit ist die Untersuchung über »organisierte Interessen als ›Gegenregierungen‹?«, die Kielmansegg in dem mit Wilhelm Hennis und Ulrich Matz herausgegebenen Werk über das Problem der Regierbarkeit (1979) veröffentlichte, nachdem er dem Problem der »Rechtfertigung politischer Herrschaft« schon den gleichnamigen Band von 1978 gewidmet hatte.
Aber schon aus der weitgespannten Darstellung der mittelalterlichen und neuzeitlichen (Volks-) Souveränitätsideen heraus entwickelt sich die Auseinandersetzung mit jener emanzipatorischen Gesellschaftstheorie, für die der sogenannte bürgerliche Staat nichts als Interessen- und Unterdrükkungsherrschaft bedeutet und auch die parlamentarische Demokratie dem Verdacht und schonungslosen Hinterfragen zu unterwerfen ist. Dagegen wendet Kielmansegg ein:
Mitbestimmung, demokratische Partizipation – in der Demokratietheorie wird regelmäßig so davon gesprochen, als sei das nichts anderes als eine verkürzte (und im Idealfall vielleicht nicht einmal verkürzte) Form individueller Selbstbestimmung. Dabei liegt auf der Hand, daß Mitbestimmung Verfügung über Dritte bedeutet. Wenn Habermas in seinem Aufsatz über politische Beteiligung sagt: »Politische Beteiligung wird dann [nämlich unter bestimmten, hier nicht näher interessierenden Voraussetzungen] mit Selbstbestimmung identisch sein«, ist ihm folglich entgegenzuhalten: Politische Beteiligung kann unter keinen Umständen mit Selbstbestimmung identisch sein, weil, wer an kollektiven Entscheidungsprozessen teilnimmt, nicht primär über sich selbst, sondern über Dritte verfügt. (Das Prinzip der Volkssouveränität, S. 235).
Behutsam und doch schlagend widerlegt Kielmansegg immer wieder die rousseauistischen und neomarxistischen Tendenzen eines radikalen, ja totalitären Demokratieverständnisses, das Ende der sechziger Jahre im Vordringen war und schon damals, ein Jahrzehnt vor den heutigen Anfechtungen der gemäßigten Parlamentsdemokratie, eine vernünftige politische Theoriediskussion in Deutschland ernsthaft bedrohte.
So ist denn nun das neue Buch »Nachdenken über die Demokratie« vor allem eine sorgfältig abwägende, eine sorgenvolle und doch nicht resignierte Bilanz jener Geschichts- und Politikdiskussionen der siebziger Jahre, die um die deutsche Demokratie und ihre Gefährdungen geführt wurden. Dabei geht es nach wie vor auch durchaus um die Einordnung des Nationalsozialismus, um das Diktaturproblem von rechts wie von links. Man hört heute viel, das Verständnis deutscher Geschichte solle nicht länger durch den Blick auf 1933-45 verzerrt werden. Aber die zeitgeschichtliche Standortbestimmung der Gegenwart bleibt doch von großer Bedeutung gerade auch für die aktuelle Diskussion, die nun zur Frage der deutschen Identität und des problematischen Sonderbewußtseins deutscher Politik einst und jetzt geführt wird.
Beim Lesen der zehn Essays dieses Buches tritt der Sinn für Form und Balance des Urteils hervor, der die Auszeichnung verdient. Dem Laudator fallen entsprechend seinem eigenen Interesse vor allem jene Betrachtungen und Formulierungen auf, in denen sich ideengeschichtliche und politisch-normative Beobachtungen zu durchaus aktuellen wertbetonten Aussagen verbinden. Jargonfrei zu schreiben, heißt ja keineswegs auszuweichen, sich geistigen und ethischen Entscheidungen zu entziehen. Im Gegenteil!
Schon im ersten Teil des Buches finden sich (unter dem Titel »Fragen an die Demokratie«) hochaktuelle Gedanken zum Verhältnis von Demokratie und (öffentlichen) Tugenden, Leistungsprinzip, Wettbewerbsdemokratie und Umweltschutz. Der zweite Teil ist den »Fragen an den Fortschritt« gewidmet und handelt von jener »Überforderung der Politik«, die durch das radikale Gegeneinander von Ideologien zerstörerisch wirken kann: »Man kann nicht von der Aufgabe der Politik, Verbindendes und Verbindliches zu stiften, sprechen, ohne gleichzeitig von Politik als Kraft der Zerstörung zu sprechen« (Nachdenken über die Demokratie, S. 93). »Auch das alltägliche Geschäft der Politik ist darauf gerichtet, Miteinander dadurch möglich zu machen, daß das Zusammenleben verbindlichen Regeln unterworfen wird [...], die, wenn sie nicht als gegeben vorgefunden werden, durch Politik formuliert und in Geltung gesetzt werden müssen« (Nachdenken über die Demokratie, S. 97). Im dritten Teil des Buches schließlich geht es um die »Schwierigkeiten, deutsche Geschichte zu schreiben«.
Besonders zu begrüßen ist hier die notwendige entschiedene Stellungnahme, mit der die zur Mode gewordene Bagatellisierung Hitlers und die revisionistische Kritik der Widerstandsbewegung zurechtgerückt werden. »Lassen die Quellen denn irgendeinen Zweifel daran, daß die entscheidende Dimension des Konfliktes zwischen dem Dritten Reich und seinen Gegnern im deutschen Widerstand der Gegensatz zwischen Barbarei und Humanität war?« (Nachdenken über die Demokratie, S. 161). Eine notwendige Erinnerung gerade jetzt, da soviel Mißbrauch mit dem Widerstandsbegriff getrieben wird.
Anregend und weiterführend sind schließlich auch die vergleichenden Betrachtungen über »die Verspätung des freiheitlichen Verfassungsstaates in Deutschland«, wo anders als in Frankreich und in England zwei Probleme gleichzeitig zu lösen waren: die nationale Frage und die Verfassungsfrage – mit verhängnisvollen Folgen. Diese werden im Schlußkapitel über »Hitler und die deutsche Revolution« in eine scharfsinnige Erörterung der tatsächlichen Bedeutung des totalitären Systems verdichtet. Der umstrittenen These von der Modernisierungswirkung des Dritten Reiches setzt Kielmansegg die Einsicht entgegen,
daß, was in der Geschichte anderer Völker erfolgreiche Revolutionen bewirkt haben, in der deutschen Geschichte durch zwei verlorene Kriege weltweiten Ausmaßes bewirkt werden mußte: der Durchbruch zu politischer und sozialer Modernität. Zwei verlorene Kriege – das bedeutet: Deutschland hat sich durch Akte gigantischer Selbstzerstörung von seiner Vergangenheit trennen müssen, und es hat eben dadurch die Kontinuität seiner Geschichte viel gründlicher zerbrochen, als dies in Revolutionen zu geschehen pflegt. Es bedeutet auch: Deutschland hat den höchsten Preis für diesen Durchbruch zahlen müssen. Und das Scheitern des ersten Anlaufes nach 1918 hat den Preis entsetzlich in die Höhe getrieben, hat vor allem ganz Europa mit in die Katastrophe gerissen. (Nachdenken über die Demokratie, S. 216).
In der Tat muß darum »die Demokratiediskussion in Deutschland, mag die Bundesrepublik auch längst eine typische westliche Industriegesellschaft geworden sein, noch immer vor einem einzigartigen historischen Hintergrund geführt« werden (Nachdenken über die Demokratie, S. 12). Peter Graf Kielmansegg hat dazu mit seinen vielfältigen Untersuchungen und mit seinen großen Essays einen anspruchsvollen und zugleich höchst klarsichtigen, lesbaren Beitrag geleistet. Daß er sich dabei auch den andrängenden Fragen einer Anwendung der gemäßigten, freiheitlichen Demokratietheorie auf die brennenden politischen Auseinandersetzungen des Tages stellt, zeigt sein jüngster Aufsatz in der »Zeit« (30.9.1983, S. 10), der unter dem Titel »Frieden geht nicht vor Demokratie« zum fairen und legalen Kampf der Meinungen auffordert. Er schließt mit Sätzen der Warnung vor einer Eskalation der Gewalt, »wenn der Wille sich durchzusetzen den Respekt vor den Regeln einmal beiseite geschoben hat«. Und er betont, daß »die Strategie, durch organisierten, massenhaften Ungehorsam den Staat vor die Wahl zwischen Kapitulation und Gewaltanwendung zu stellen, auch dann eine Vergewaltigung der Demokratie darstellt, wenn sie auf Körperverletzung und Sachbeschädigung verzichtet.«
Und weiter:
»Was am Ende übrigbleibt, ist die einfache Wahrheit, daß die Vernunft uns keinen anderen Weg weist als den des offenen und fairen Kampfes der Meinungen, der schließlich nach Regeln entschieden werden muß, die wir einander zumuten können, den Regeln des freiheitlichen Verfassungsstaates. Auf sie einlassen kann sich nur, wer sich nicht für unfehlbar hält. Auf sie einlassen kann sich nicht, wer nur den eigenen Standpunkt für moralisch möglich hält. Eine Friedensbewegung, die das nicht begreift, könnte um des Friedens willen die Demokratie in Gefahr bringen.«