Sigmund-Freud-Preis

STATUT

§ 1
Der Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa zeichnet seit 1964 Gelehrte aus, deren Werk nicht nur durch seinen geistigen Rang, sondern auch durch die Qualität seiner wissenschaftlichen Prosa besticht.

Der Preis wird getragen von der ENTEGA Stiftung und ist aktuell mit 20.000 EUR dotiert. Er wird jährlich im Rahmen der Herbsttagung verliehen.

§ 2
Der Sigmund-Freud-Preis wird vergeben für herausragende Beiträge zur Entwicklung des Deutschen als Sprache der wissenschaftlichen Publizistik. Er wird für deutschsprachige Originalveröffentlichungen vergeben, die sich durch ihre wissenschaftliche und ihre stilistische Qualität gleichermaßen auszeichnen. Er kann Werke aus allen Disziplinen berücksichtigen.

§ 3
Das Vorschlagsrecht liegt in den Händen der Jury.

§ 4
Die Jury besteht aus dem Erweiterten Präsidium der Akademie.

Die Jury berät über die vorgeschlagenen Kandidatinnen und Kandidaten in einem mehrstufigen Verfahren.

Beschlossen vom Erweiterten Präsidium am 18. Februar 2021

Matthias Glaubrecht

Evolutionsbiologe und Wissenschaftshistoriker
Geboren 8.10.1962

Mit seinem Gespür für die historischen und poetischen Dimensionen wissenschaftlicher Erkenntnis erweist er sich als glänzender Stilist, der die Tradition naturgeschichtlicher Prosa auf eindrucksvolle Weise weiterführt.

Jurymitglieder
Ernst Osterkamp, Ursula Bredel, Michael Hagner, Monika Rinck, Lukas Bärfuss, Elisabeth Edl, Maja Haderlap, Ilma Rakusa, Marisa Siguan und Stefan Weidner

Laudatio von Jürgen Goldstein
Philosoph, geboren 1962

Sehr verehrte Damen und Herren, lieber Matthias Glaubrecht!

Durch den Malaiischen Archipel, jener Inselgruppe zwischen Südostasien und Australien, verläuft eine unsichtbare Linie. Es handelt sich um eine schmale und unscheinbare Meeresstraße, die das Vorkommen von Tierarten gleichsam zerschneidet. Auf dem asiatischen Kontinent und seinen Inselausläufern leben Tapire, Tiger, Orang-Utans, Rhinozerosse, Nashornvögel und Waldelefanten. Südlich der Meeresstraße kommen sie nicht vor. Statt ihrer finden sich nur im australischen Einzugsbereich Beuteltiere, Kakadus und Großfußhühner. Als Alfred Russel Wallace 1856 diese biogeographische Trennlinie während seiner Ein-Mann-Expedition bemerkte, sah er sich vor die Frage gestellt, wie es zu dieser ungleichen Verteilung von Tierarten in den so nah beieinanderliegenden Regionen kommen konnte. Es war für ihn eine weitere Herausforderung, zeitgleich mit Charles Darwin eine Theorie der Evolution zu formulieren. Ihm zu Ehren heißt die faunistische Demarkationslinie seither „Wallace-Linie“.

Gibt es derartig markante Trennlinien auch im Bereich des Denkens und der Bewusstseinsgeschichte des Menschen? Haben wir es mit geistigen Kontinenten zu tun, die gleichsam unterschiedliche gedankliche Biotope hervorbringen? Auf den ersten Blick scheint es so. In der Geschichte ist es uns vertraut: Wir kennen das historisch voneinander abhebbare Vorher und Nachher von einschneidenden Zeitenwenden, etwa der Französischen Revolution. Der Wechsel vom Ancien Régime zum Republikanismus war so tiefgreifend, dass er die Ablösung unterschiedlicher Epochen markiert.

Doch es gibt auch das zeitgleiche Nebeneinander von unterschiedlichen Wissens- und Bedeutungskulturen, die scharf voneinander getrennt scheinen: Mathematik und Lyrik, Physik und Metaphysik, Biologie und Germanistik. Jede dieser Einzeldisziplinen hat einen eigenen Denk- und Sprachtypus ausgebildet, jede von ihnen bringt originäre Texturen hervor. Nur die Spezialisierung, so scheint es, wird dem jeweiligen Gegenstand gerecht. Abschottung ist das Prinzip des rein disziplinären Denkens.

Man wird von einem Biologen daher zwar erwarten, dass er die Technik der Taxonomie – also der systematischen Klassifikation von Lebewesen – zumindest grundsätzlich beherrscht, nicht aber, dass er die Kunst der metaphorischen Rede kultiviert. Man wird bei ihm präzise Kenntnisse in der Botanik voraussetzen dürfen, nicht aber die Fähigkeit, über die Zusammenhänge in der Natur erzählerisch schreiben zu können. Man darf daher durchaus einige Worte darauf verwenden, warum mit Matthias Glaubrecht ein Biologe den Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa zugesprochen bekommt – ein Biologe, der nachweislich ein Spezialist von Süß- und Brackwasserschnecken und anderen Weichtieren ist und der nach der Systematik der Evolution fragt. Die strenge Naturwissenschaft, so scheint es, lässt keinen Spielraum für eine anspruchsvolle Prosa. Die vielen Bücher, Aufsätze und Vorträge von Matthias Glaubrecht beglaubigen aber, dass eine strikte Grenzziehung zwischen naturwissenschaftlich-biologischer Forschung und literarischen Stilmitteln nicht zwingend ist.

Dabei hat die Verschwisterung von Wissen und ästhetischer Form durchaus Tradition. Blickt man in die neuzeitliche Geschichte der Naturwissenschaft, erscheint die Nähe von Naturforschung und Literatur über lange Zeit ungetrübt. Galilei hat 1632 seine Verteidigung des kopernikanischen Planetenmodells als einen spannenden Dialog über die beiden hauptsächlichsten Weltsysteme verfasst. Er präsentiert darin die moderne Astronomie seinen Lesern nicht in einem dürren Gestrüpp von Thesen und Fakten, sondern in einem inspirierten Gespräch zwischen den drei fiktiven Charakteren Salviati, Sagredo und Simplicio. Welchen Charme die moderne Astronomie entfalten kann, hat auch Bernard de Fontenelle in seinen Dialogen über die Mehrheit der Welten aus dem Jahr 1686 bewiesen. In diesen an mehreren Abenden inszenierten Gespräch erläutert ein Gelehrter einer adeligen Dame die atemberaubenden Annahmen der modernen Kosmologie. Das ist nicht lediglich Wissenschaftstransfer, wie wir es heute nennen. Fontenelle fragt vielmehr nach den Auswirkungen der astronomischen Neuerungen auf das menschliche Selbstverständnis.

Auch die modernen geographischen, naturkundlichen und anthropologischen Entdeckungen haben oftmals einen literarisch anspruchsvollen Ausdruck gefunden. Georg Forsters Erlebnisbericht von der Reise um die Welt, die ihn mit James Cook von 1772 bis 1775 um die Erde führte, stellt einen Meilenstein in der Naturkunde und der Anthropologie dar und ist zugleich ein Meisterstück der erzählerischen Reiseliteratur. Alexander von Humboldt, der alles vermessen hat, was es zu vermessen gibt, stellte in seinen Ansichten der Natur unter Beweis, zu welchen literarischen Höhenflügen er in der Lage war. In packender Prosa berichtet er über die Wasserfälle des Orinoco oder über das nächtliche Tierleben im Urwald.

Niemand, der bei Verstand ist, wird sich in diese – leicht fortzusetzende – Reihe stellen lassen wollen. Wer könnte schon die damit geweckten Erwartungen erfüllen. Aber darum geht es auch gar nicht. Es geht vielmehr um das Erinnern an eine Tradition, zu der man sich verhalten sollte, wenn man selbst wissenschaftlich forscht.

Dabei lässt sich diese Tradition nicht einfach fortschreiben. Ein gravierender Paradigmenwechsel steht dem im Wege. Seit der Antike ist die Vermutung virulent, das Wahre sei auch das Gute. Man war geneigt, auch das Schöne in diesen Einklang hinzuzunehmen. So steht noch heute an dem Portal der Frankfurter Alten Oper: „Dem Wahren Schoenen Guten“. In der Astronomie deutete sich bereits an, dass die ästhetische Hintergrunderwartung der Erforschung der Natur im Wege steht: Johannes Kepler vollzog den entscheidenden Schritt, um das kopernikanische Planetenmodell reibungsfrei berechenbar zu machen. Er ließ die ästhetisch motivierte Annahme hinter sich, die Planeten kreisten auf vollkommenen und somit als schön idealisierten Kreisbahnen. Seine Revolution besteht in der Anerkennung der als hässlich empfundenen Ellipsenbahnen.

Für Glaubrecht ist es Adelbert von Chamisso, der in der Erforschung von Fauna und Flora mit der Erwartung bricht, die Natur habe unseren Schönheitsbedürfnissen zu entsprechen. Während im Hintergrund von Humboldts Denken ästhetische Erwartungen noch wirksam waren, die ihn ein ansprechendes Naturgemälde schaffen lassen wollten, weiß Chamisso genau zwischen seinem Dichtertum – er ist der Autor des wundersamem Peter Schlemihl – und seiner Existenz als Naturwissenschaftler zu unterscheiden. Diese exemplarisch gezogene Trennlinie ist epochal: Chamisso gehört zu jenen, die im Aufbruch zu unserer Moderne das Paradigma hinter sich gelassen haben, dass Wahrheit und Schönheit sich gegenseitig beglaubigen. Diese Ausnüchterung des Blicks hat Chamisso zu einem bedeutenden Naturwissenschaftler der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts werden lassen. Daran erinnert uns Glaubrecht mit großer Eindringlichkeit. Chamisso hat an den Salpen – im Meer lebende Manteltiere – das Prinzip der Metagenese, also des Generationenwechsels, entdeckt: Tiere, die als Vorfahren und Nachfahren einer Art zugehören, können äußerlich ganz unterschiedlich aussehen. Chamisso hat darüber hinaus die Entstehung von Korallenriffen erfasst, er hat das Phänomen des Permafrostbodens erkannt und die Funktion von Driftfrüchten, also den Transport von Samen und Früchten über ganze Ozeane hinweg, in nüchternen Abhandlungen beschrieben.

Ist es damit also mit der Tradition ansprechender wissenschaftlicher Prosa vorbei? Sind die Wissenschaften dazu verdammt, Stacheldrahttexte zu produzieren? Auch wenn der ästhetische Glanz einer Theorie nicht mehr ihre Stimmigkeit verbürgt, gibt es nach wie vor die Möglichkeiten und die Notwendigkeiten für die Wissenschaften, literarisch ansprechende Stilmittel zu verwenden. Ich möchte das an zwei Aspekten deutlich machen.

Wissenschaft hat ihre Geschichte. Die oft mühsamen Denkwege, die in gesuchter Nähe zur empirischen Wirklichkeit zu neuen Einsichten geführt haben, sind Teil einer Bewusstseinsgeschichte des Menschen, die sich nicht anders vergewissern lässt als narrativ. So erzählt Glaubrecht, mit allem analytischen Scharfsinn, wie Alfred Russel Wallace und Charles Darwin zeitgleich ihre Theorien einer Evolution in der Natur und somit einer Dynamisierung der Arten entwickelten. Indem er seinen Protagonisten um die Welt folgt, Tagebuchnotizen und Präparate ihrer Sammlungen erforscht, nähert er sich der Evolution ihres Denkens an: Science in the Making nennt Glaubrecht das. Seine Bücher sind daher nicht allein Vermittlung naturwissenschaftlicher Einsichten, sie sind auch um die Einsicht bemüht, wie wissenschaftliche Erkenntnisse überhaupt zustande kommen. Daher kann er sich nicht allein an den finalen Resultaten orientieren, sondern hat den Forschungswegen zu folgen, die sich eben – ich wiederhole es – nur erzählerisch abschreiten lassen.

Dazu erforscht Glaubrecht das dichte Geflecht von Briefen, Tagebuchnotizen, publizierten Werken, und er bezieht, soweit möglich, die Naturaliensammlungen mit ein. Wer einmal das Glück hatte, hinter die Kulissen des Berliner Naturkundemuseums geführt zu werden, wird von der schier unfassbaren Menge der dort eingelagerten Naturalien beeindruckt bleiben. Das in den Regalen, den Schränken und den Schubladen Aufbewahrte macht dieses Archiv der Sinnlichkeit aus. Die Überfülle führt zur Unübersichtlichkeit, und als Leser oder Leserin etwa von Glaubrechts Chamisso-Buch folgt man ihm gerne dabei, wie er nach den Originalpräparaten von dessen Weltumseglung sucht. So wird die Annäherung an Chamisso selbst zu einer packenden Forschungsreise durch die Museen.

Ich nenne einen zweiten Aspekt, der für die nicht aufzugebende Verschwisterungsmöglichkeit von Naturkunde und einnehmender Prosa spricht. Die großen Naturschriftsteller waren stets darum bemüht, ihre Forschungsergebnisse öffentlich zu machen und somit – mit einem Wort – Aufklärung zu betreiben. Man denke an Humboldts Kosmos-Vorträge, bei denen nachweislich sowohl der König Friedrich Wilhelm III. als auch Maurermeister anwesend waren. Über 800 Personen füllte die Berliner Singakademie, in der Humboldt seine sechzehn Vorträge hielt. Aufklärung verlangt nach Öffentlichkeit, Wissenschaft nach Publizität.

In dieser Tradition steht auch Matthias Glaubrecht, wenn er einem Publikum, das nicht vom Fach ist – und das sind wir ja fast alle – auf die Gefahr und die Auswirkungen des gegenwärtigen Artensterbens hinweist. Oder wenn er den Zusammenhang von Pandemien und Artenvielfalt in der Vergangenheit und Gegenwart auf eine Art und Weise entfaltet, dass die Welt, in der wir leben, an Verständlichkeit und unser Handeln an Dringlichkeit gewinnt. Seine voluminösen Bücher sind dabei stets faktengesättigt, wissenschaftlich state of the art, doch ihnen ist zugleich immer ein Spannungsbogen eingeschrieben, dem man nur zu gerne folgt.

Glaubrecht ist daher nicht allein ein Chronist der naturwissenschaftlichen Bewusstseinsgeschichte. Er sucht auch die Möglichkeiten und Notwendigkeiten eines verantwortlichen Handelns für die anstehende Zukunft auszuloten. Er arbeitet an einer Neubestimmung unseres Naturbegriffs, einer New Nature, in der der Mensch seine Rolle im Zusammenhang allen Lebens neu bestimmt. Es macht das kognitive Temperament seiner Bücher aus, Faszination für die Natur zu wecken und zugleich schonungslos über die selbstverursachten Krisen unserer Zeit aufzuklären, um vor Kommendem zu warnen. „Wir müssen lernen“, schreibt Glaubrecht, „auf einem enger werdenden Planeten ökologisch zu handeln und zu wirtschaften; wir müssen verantwortungsvoll mit der Natur umgehen. Wenn es uns dabei nicht gelingt, möglichst schnell eine gemeinsame kulturelle Lösung für unsere globalen Probleme zu finden, wird es – das lässt sich aus der Evolutionsbiologie ableiten – irgendwann eine biologische Lösung durch die Natur geben.“

Bereits in seinem frühen Buch Der lange Atem der Schöpfung, das die Möglichkeiten entfaltet, Darwin weiter zu denken, hat Glaubrecht die hermetische Fachsprache der Eingeweihten kritisiert und hinter sich gelassen. Er wolle zu einem facettenreichen Bild der Biologie beitragen, denn oft genug, schreibt er, „erstarren wissenschaftliche Veröffentlichungen heute im Rituellen. Meist in der dritten Person und im Passiv geschrieben, wirken sie streng rational, reduktionistisch und leidenschaftslos“. Das Buch erschien vor über einem viertel Jahrhundert. Seitdem beweist uns Matthias Glaubrecht auf preiswürdige Art und Weise, dass es auch anders geht.