Sigmund-Freud-Preis

STATUT

§ 1
Der Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa zeichnet seit 1964 Gelehrte aus, deren Werk nicht nur durch seinen geistigen Rang, sondern auch durch die Qualität seiner wissenschaftlichen Prosa besticht.

Der Preis wird getragen von der ENTEGA Stiftung und ist aktuell mit 20.000 EUR dotiert. Er wird jährlich im Rahmen der Herbsttagung verliehen.

§ 2
Der Sigmund-Freud-Preis wird vergeben für herausragende Beiträge zur Entwicklung des Deutschen als Sprache der wissenschaftlichen Publizistik. Er wird für deutschsprachige Originalveröffentlichungen vergeben, die sich durch ihre wissenschaftliche und ihre stilistische Qualität gleichermaßen auszeichnen. Er kann Werke aus allen Disziplinen berücksichtigen.

§ 3
Das Vorschlagsrecht liegt in den Händen der Jury.

§ 4
Die Jury besteht aus dem Erweiterten Präsidium der Akademie.

Die Jury berät über die vorgeschlagenen Kandidatinnen und Kandidaten in einem mehrstufigen Verfahren.

Beschlossen vom Erweiterten Präsidium am 18. Februar 2021

Julia Voss

Kunsthistorikerin und Journalistin

Julia Voss, der es in ihrer Arbeit über ›Darwins Bilder‹ gelungen ist, den Denkprozess Darwins aufgrund der Interpretation seiner Zeichnungen und Diagramme auf neue Weise zu rekonstruieren...

Jurymitglieder
Juryvorsitz: Präsident Klaus Reichert
Vizepräsidenten Heinrich Detering, Peter Hamm, Ilma Rakusa, Beisitzer Peter Eisenberg, Wilhelm Genazino, Joachim Kalka, Gustav Seibt, Werner Spies, Ulrich Weinzierl

Die Sprachen der Evolutionstheorie

Sehr geehrter Herr Präsident, lieber Herr Rheinberger, verehrte Akademiemitglieder, meine sehr verehrten Damen und Herren!
Die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung hat mir ein Lob ausgesprochen und gleichzeitig auch ein Versprechen abgenommen. Sie hat sich mit mir eine junge Preisträgerin ausgesucht, die nun in den nächsten Jahren das Vertrauen, das in sie gesetzt wurde, einlösen muss. Das Lob macht mich überglücklich; das Versprechen macht mich nervös. Ein wenig Mut hat mir jedoch gemacht zu entdecken, als ich die Liste meiner beeindruckenden Vorgänger durchging – darunter in fünfundvierzig Jahren nur zwei Frauen –, dass ich in einer Hinsicht nicht allein bin: Den Sigmund-Freud-Preis haben in den letzten beiden Jahren der Evolutionsbiologe und Ökologe Josef H. Reichholf und der Wissenschaftshistoriker Michael Hagner erhalten. Ich bin damit im dritten Jahr in Folge eine Autorin, die über Biologie und die Lebenswissenschaften geschrieben hat. Auch unter den frühen Preisträgern findet sich ein Biologe: 1965 wurde Adolf Portmann mit dem Sigmund-Freud-Preis ausgezeichnet, der Schweizer Naturforscher und Philosoph.
Der Grund dafür, dass sich unter den Preisträgern immer wieder Autoren finden, die über Naturwissenschaft schreiben, besteht wohl darin, dass uns Forscher auf der einen Seite fast täglich mit ihrem Erfindergeist, ihrer Kreativität und Phantasie zu begeistern vermögen; wir vertrauen der Wissenschaft und verlassen uns auf sie, sei es in der Technik oder der Medizin.
Auf der anderen Seite empfinden wir die Formen der Naturbeherrschung, die durch die Wissenschaft hervorgebracht worden sind, auch als Gefahr. Und deshalb sind wir darauf angewiesen, die Welt der Labore, Formeln, Statistiken, Geräte und Bilder in unsere Sprache zu überführen. Als die Religion noch das gesellschaftliche Leben bestimmte, entwickelte sich zusammen mit der Demokratie eine kritische Religionswissenschaft, die im 19. Jahrhundert den Prozess der Säkularisierung begleitete. Im 20. Jahrhundert hat sich eine kritische Wissenschaftsgeschichte und -philosophie herausgebildet, mit noch offenem Ende.
Dass die Welt, in der wir leben, sich durch die Naturwissenschaft veränderte, daran hat uns Sigmund Freud, nach dem dieser Preis benannt ist, eindringlich erinnert. Er prägte die Wendung vom Menschen als »Prothesengott«, der sich mithilfe der Technik Hilfsorgane angelegt habe, die dazu beitrugen, seine Macht unendlich zu vermehren. Freud kommentierte aber nicht nur den technischen Fortschritt. Sein Denken und Schreiben war mit den Lebenswissenschaften verwachsen, der Medizin und insbesondere der Biologie. »Ich lebte bereits«, schrieb Freud 1932 rückblickend, »als Charles Darwin sein Werk ›Über die Entstehung der Arten‹ veröffentlichte.« Sigmund Freud wurde 1856 geboren, drei Jahre später erschien Darwins Gründungswerk der Evolutionstheorie. Ein Vierteljahrhundert lebten Freud und Darwin als Zeitgenossen; als Darwin, dreiundsiebzigjährig, in Downe in der englischen Grafschaft Kent starb, war Freud fünfundzwanzig Jahre alt.
Wenn ich versuche, mich zu erinnern, mit wessen Werk ich zuerst in Berührung kam, glaube ich, dass ich Darwin durch Freud kennengelernt habe. Evolution und die merkwürdigen Wesen, die sie im Verlauf ihrer Geschichte hervorgebracht hat, kannte ich natürlich schon, bevor ich die Namen Darwin oder Freud gehört hatte, den Triceratops, den Brontosaurus, den Archeopteryx, den Säbelzahntiger oder das Wollhaarmammut. Sie bevölkerten als Buchillustrationen oder Spielfiguren mein Kinderzimmer und die Bilder, in denen sich mein Bruder und ich Urzeit mit Buntstift auf Papier ausmalten. Als aber Jahre später an der Schule im Biologieunterricht Evolution gelehrt wurde, begriff ich erst, dass es einen Mann gab, auf dessen Theorien diese urzeitlichen Welten zurückgehen; und dass dieser Mann seine Theorie zu einem historischen Zeitpunkt formuliert hatte, im England des 19. Jahrhunderts. Diese Erkenntnis ging einher mit einer Wertung. Bevor ich nämlich Charles Darwin las, machte mich mein Schulbuch mit dem geflügelten Wort von Sigmund Freud vertraut: den sprichwörtlich gewordenen »drei großen Kränkungen der Menschheit«. Freud erzählte Wissenschaftsgeschichte in einem Dreischritt. »Zwei große Kränkungen ihrer naiven Eigenliebe hat die Menschheit im Laufe der Zeiten von der Wissenschaft erdulden müssen«, schrieb er 1916. Die erste durch Kopernikus, durch den die Menschheit erfuhr, dass die Erde nicht Mittelpunkt des Weltalls sei; die zweite durch Darwin, der den Menschen über seine tierische Abstammung unterrichtet habe und auf die »Unvertilgbarkeit seiner animalischen Natur« verwies. Zum dritten Mal gekränkt wurde die Menschheit schließlich nach der Einschätzung Freuds durch die psychologische Forschung: Sie habe, so Freud, dem Ich nachgewiesen, dass es nicht einmal Herr im eigenen Hause sei. Dreimal wurde der Mensch demnach aus dem Zentrum, in dem er sich wähnte, vertrieben: Die Erde war nicht mehr Mittelpunkt, ihre Bewohner nicht die Krone der Schöpfung und der Einzelne nicht mehr Herr seiner selbst. Wie Freud betonte, hätten sich die Zeitgenossen von Kopernikus, Darwin oder ihm selbst heftig gegen diese Erkenntnisse gesträubt. Der Begründer der Psychoanalyse inszenierte damit Wissenschaftsgeschichte in der Metaphorik von Platons Höhlengleichnis. Kopernikus, Darwin und Freud wurden zu Männern, die ins Licht der Wahrheit blicken können, das ihre Zeitgenossen nicht ertragen. Und so lernte auch ich Evolutionstheorie in der Schule.
Was ich damals nicht wusste, als ich in dieser Form mit Wissenschaftsgeschichte zum ersten Mal in Berührung kam, war, dass Freud die rhetorische Münze vom Wissenschaftler als Märtyrer zwar am erfolgreichsten in Umlauf gebracht hatte; dass es jedoch nicht Freud war, der sie geprägt hatte. Aufgegriffen wurde von ihm 1916 eine rhetorische Figur, die aus der Mitte des 19. Jahrhunderts stammte. Freud lieh sie sich von Ernst Haeckel, dem einflussreichsten Vertreter der Evolutionstheorie im deutschsprachigen Raum. Haeckel hatte seinem ersten evolutionstheoretischen Werk, das 1866 erschien, den sagenhaften Ausspruch Galileo Galileis vorangestellt: »Eppur si muove!« – »Und sie bewegt sich doch!« Damit schlug er als erster einen Bogen von der Geschichte der Biologie zur Geschichte der Astronomie, namentlich zu Galilei, der mehr als dreihundert Jahre vor Haeckel in seinem Buch das heliozentrische Weltbild des Kopernikus gestützt hatte. Der Ausgang ist bekannt: Nach der Veröffentlichung erhielt Galilei Hausarrest, der bis zum seinem Tod 1642 nicht aufgehoben wurde. Indem Haeckel nun ein Zitat Galileis seinem eigenen Werk voranstellte, parallelisierte er die Debatte um das heliozentrische Weltbild mit der anbrechenden um die Evolutionstheorie. Die Naturwissenschaft schloss mit der Literatur einen Pakt. Noch während diskutiert wurde, was für und was gegen Evolution spreche, ob die Theorie in der Schule unterrichtet und ob sie an den Universitäten gelehrt werden solle, wurden durch Haeckel die Rollen wie in einem Bühnenstück verteilt. Auf der einen Seite die Befürworter der Evolutionstheorie in der Märtyrerrolle; auf der anderen Seite die Gegner der Evolutionstheorie in der Rolle der Verblendeten und Machtbesessenen. Kurz darauf feierte die Figur des Märtyrerwissenschaftlers tatsächlich Erfolge auf deutschen Bühnen, als Arthur Fitger, Schriftsteller, Maler und glühender Bewunderer Darwins, den Stoff in ein erfolgreiches Theaterstück verwandelte. In die Debatte um die Evolutionstheorie war mit dieser wortwörtlich dramatischen Parallele, die Haeckel nur skizziert hatte und andere auf die Bühne brachten, ein metaphysisches Argument eingezogen: dass Erkenntnis unbequem, ja schmerzhaft für die Zeitgenossen sei; dass solche narzisstischen Kränkungen, wie Freud sie nannte, nur von wenigen großen Männern ausgehalten werden. Und dass die Gegner der Evolutionstheorie oder auch der Psychoanalyse keine Argumente hätten, sondern charakterlich ungeeignet für die Größe der Wahrheit seien. Gerade der Wissenschaft hätte man ein besseres Argument gewünscht. Es gibt keine Hinweise darauf, dass der Wahrheit die Eigenschaft »kränkend« zukommt. Die Lüge kann ebenso kränkend sein, wie die Wahrheit beglückend. Wissenschaftler gebärdeten sich plötzlich wie Priester, die einen exklusiven Zugang zur Wahrheit beanspruchen.
Wer nun in Darwins Werk schaut, wird weder die Parallelisierung zwischen Biologie und Astronomie finden noch die Geringschätzung der Gegner – im Gegenteil. Wenn Darwin überhaupt eine Meinung dazu hatte, von welcher Beschaffenheit die Wahrheit sei, dann neigte er zur Ansicht, dass eher das Angenehme zur Erkenntnis führe. In einem Brief wandte er sich an den fünfundzwanzig Jahre jüngeren Ernst Haeckel, dessen Bücher er mit Interesse und Bewunderung las. Einen Einwand machte er jedoch geltend; der Einwand betraf Haeckels Stil, die Sprache, die dieser für die Evolutionstheorie gefunden hatte. »Ich weiß«, schrieb Darwin 1867 an Haeckel, »dass es einfach ist, gute Ratschläge zu geben, und wenn ich selbst die Gabe zur scharfen Polemik hätte, würde ich wahrscheinlich im Triumph das Innerste der armen Teufel herauskehren und sie in ihrer ganzen Unzulänglichkeit bloßstellen. Trotzdem bin ich davon überzeugt, dass diese Gabe nichts Gutes bringt und nur Schmerz verursacht. Vielleicht darf ich noch hinzufügen, dass wir täglich Männer die umgekehrten Schlüsse aufgrund derselben Voraussetzungen ziehen sehen und es mir daher eine zweifelhafte Angelegenheit scheint, allzu überzeugt von irgendeinem komplexen Sachverhalt zu sprechen, auch wenn man noch so überzeugt von der Wahrheit der eigenen Schlüsse ist.«
Auch Darwin schloss einen Pakt mit der Literatur. Seine Evolutionstheorie arbeitete er in insgesamt 32 Büchern aus und erklärte sie seinen Lesern: Buch für Buch legte er, der sich einmal einen »Millionär von seltsamen und wunderlichen kleinen Tatsachen« nannte, neue Beobachtungen und Beweise dafür vor, dass sich alles Lebendige, vom Pantoffeltierchen bis zum Menschen, im Wechselspiel von Variation und Selektion herausgebildet hat. »Ich halte es für wichtig,« schrieb er, »dass meine Ideen von intelligenten Menschen gelesen werden, die an wissenschaftliche Beweisführung gewöhnt sind, aber keine Naturforscher sind.« Er zählte also auf Leser, die bereit waren, das Für und Wider seiner Argumente zu prüfen, ohne von vornherein zu meinen, die richtige Antwort zu kennen. Der Erfolg gibt ihm recht. Kaum ein wissenschaftliches Werk hat eine so breite Leserschaft gefunden und so weit in andere Gebiete ausgestrahlt. Und auch wir dürfen uns, hundertfünfzig Jahre später, noch immer zu dem Kreis zählen, um den sich Darwin bemühte. Wir finden in ihm auch heute einen Autor, der seine Leser ernst nimmt, Verständlichkeit für eine Tugend des wissenschaftlichen Schreibens hält und den interessierten Laien schätzt, mehr noch, ihn sogar als Prüfstein seiner Theorie versteht.
Darwin geht in seinen Büchern gleich einem Detektiv vor, der unseren Blick auf merkwürdige, übersehene Details der Natur zu lenken vermag. Wie in einer guten Kriminalgeschichte nimmt er häufig Kleinigkeiten zum Ausgangspunkt, winzige Merkmale eines Tiers oder einer Pflanze, und rekonstruiert davon ausgehend den Hergang ihrer Entstehung. In seinem Werk finden wir herrliche Abhandlungen, in denen der englische Forscher sein besonderes Talent entfaltet, an einem Versuchsobjekt, das nicht größer ist als ein Finger, die ganze Welt der Evolutionstheorie abzuhandeln – etwa an Regenwürmern, Orchideen oder Kletterpflanzen. Jedes von Darwins Büchern behandelt deswegen immer zwei Themen. Zum einen natürlich Evolution, zum anderen aber auch die Frage, wie wir einen Prozess, der für uns unsichtbar ist, beobachtbar machen können. Evolution dauert zu lange, als dass wir der Natur dabei zusehen könnten, sie vollzieht sich während Jahrtausenden, Jahrmillionen. Wie können wir uns dieser Geschichte wissenschaftlich nähern? Wie rekonstruieren wir die Vergangenheit? Es war Darwin, der Kriterien dafür schuf, wie wir eine Entwicklung, die wir nicht sehen können, aus den Ergebnissen herleiten, die erhalten sind. Das deutlichste Indiz für ihn war die Unvollkommenheit der organischen Welt, ihre Fehler und Makel. Über Jahrhunderte hatten Naturforscher argumentiert, dass die Perfektion der Natur auf den Gott verweise, der sie geschaffen habe; Darwin, der am Ende seines Lebens das gesamte Naturreich von Kletterpflanze bis Käfer, von Regenwurm zu Affe, Mammut und Mensch durchdekliniert hatte, entdeckte dagegen die vielen Unzulänglichkeiten von Tieren und Pflanzen. Argumentativ verhält sich der Makel zur Evolutionstheorie wie die Makellosigkeit zum Schöpfergott. Niemand würde Gott für den Urheber eines mangelhaften Objekts halten. In der Perfektion offenbart sich der Gott; im Fehler verrät sich die Natur.
Bei allen wissenschaftlichen Qualitäten war Darwin aber vor allem auch eines: ein guter Erzähler. Sein Reisebericht Die Fahrt der Beagle, der zuerst 1839 erschien, verkaufte sich innerhalb der ersten zwei Jahre 4000 Mal, ein für das 19. Jahrhundert erstaunlicher Erfolg. Selbst Alexander von Humboldt, das große Vorbild des jungen Darwin, gratulierte nach der Lektüre in einem langen Schreiben, beeindruckt von der »glücklichen literarischen Veranlagung« des angehenden Naturforschers.
Darwin hat nicht nur Wissenschaftsgeschichte, sondern auch Literatur- und Kunstgeschichte geschrieben. Die Evolutionstheorie haben Schriftsteller von George Eliot über Thomas Mann bis Franz Kafka in ihren Werken verarbeitet; sie hat Eingang in Skulpturen und Gemälde von Arnold Böcklin bis Max Ernst gefunden. Weniger bekannt ist, mit welcher Schnelligkeit Darwins Evolutionstheorie im 19. Jahrhundert in deutsche und englische Kinderzimmer einzog. Eines der ersten Bücher, das die Evolutionstheorie nach 1859 aufgriff, war ein Kinderbuch, The Water Babies aus dem Jahr 1863, geschrieben von dem englischen Autor Charles Kingsley. In Deutschland schuf bald darauf David Friedrich Weinland mit seinem Jugendbuch Rulaman (1878) den ersten Steinzeithelden der Literaturgeschichte. Rulaman begründete ein literarisches Genre, die sogenannte »Paleofiction«, das prähistorische Pendant zur »Science Fiction«. Die Abenteuergeschichten der Kinder und Jugendlichen spielten von da an nicht mehr nur in der Römerzeit oder im Mittelalter, sondern auch im Kambrium, Silur, Devon oder Paläolithikum.
Wie wir alle wissen, beschäftigt die Vorzeit nicht nur die Phantasie der Kinder, sondern auch die der Erwachsenen. Fragen wie die, woher wir kommen, was der Mensch, was Moral oder was das Böse sei, werden seit Darwin zunehmend im Rückgriff auf die Vergangenheit beantwortet. Trotz Funden von Schädeln und Artefakten ist diese Vergangenheit ein Puzzle geblieben, ein Kriminalstück, für dessen Auflösung wir neben wissenschaftlichen Datierungs- und Ausgrabungsmethoden auch weiterhin Phantasie und Einbildungskraft benötigen. Beides finden wir bei Freud, der seine Definition des Seelenlebens aus der Urzeit herleitete. »Für die Tierreihe«, schrieb Freud 1930 in Das Unbehagen in der Kultur, »halten wir an der Annahme fest, dass die höchstentwickelten Arten aus den niedrigsten hervorgegangen sind.« Das Geschlecht der großen Saurier sei ausgestorben und habe den Säugetieren Platz gemacht, aber ein richtiger Vertreter dieses Geschlechts, das Krokodil, lebe noch mit uns. »Auf seelischem Gebiet«, so Freud weiter, »ist die Erhaltung des Primitiven neben dem daraus entstandenen Umgewandelten so häufig, dass es sich erübrigt, es durch Beispiele zu beweisen«. Freud war davon überzeugt, dass der natürliche Zustand des Menschen die Aggression sei, und dass die Kultur alles aufbieten müsse, »um den Aggressionstrieben der Menschen Schranken zu setzen«. Er war auch überzeugt, dass eben darin die Kränkung bestünde, in dieser, wie er es nannte, »Unvertilgbarkeit der animalischen Natur«. Sie, die Menschen, lesen wir bei Freud weiter, »hören es nicht gerne, wenn die angeborene Neigung des Menschen zum ›Bösen‹, zur Aggression, Destruktion und damit auch zur Grausamkeit erwähnt wird.«
Unter denjenigen, die von der angeborenen Neigung des Menschen zum »Bösen« nichts hören wollten, finden wir einen erstaunlichen Gewährsmann: Darwin. Auch er entwarf ein Bild der Vorzeit, der Urhorde, wenn auch ein genau entgegengesetztes. Im Jahr 1871 schrieb er in seinem Werk über Die Abstammung des Menschen:

»In Bezug auf die körperliche Größe oder Kraft wissen wir nicht, ob der Mensch von irgend einer vergleichsweise kleinen Art, wie der Schimpanse, abstammt oder von einer so mächtigen wie der Gorilla [Y] Wir müssen indes im Auge behalten, dass ein Thier, welches bedeutende Größe, Kraft und Wildheit besitzt und welches, wie der Gorilla, sich gegen alle Feinde verteidigen kann, wahrscheinlich nicht social geworden sein wird, und dies würde in äusserst wirksamer Weise die Entwicklung jener höheren Eigenschaften beim Menschen, wie Sympathie und Liebe zu seinen Mitgeschöpfen, gehemmt haben. Es dürfte daher von einem unendlichen Vortheil für den Menschen gewesen sein, von irgend einer verhältnissmässig schwachen Form abgestammt zu sein.«

Die Sprachen der Evolutionstheorie können erstaunlich unterschiedlich ausfallen. Rückblickend scheint Freud jedenfalls darwinistischer als Darwin selbst.
Für den Pakt, den Naturwissenschaft mit Dichtung und Literatur schließen, ist die Evolutionstheorie und ihre Geschichte nur ein Beispiel. Die deutschen Universitäten sind jedoch dazu übergegangen, die Verbindung zwischen Geistes- und Naturwissenschaft bloß einseitig zu stärken: Seit 1996 sind siebzehn von etwa dreißig Professuren für Wissenschaftsgeschichte gestrichen worden; keine deutsche Universität verfügt über zwei Professuren für Wissenschaftsgeschichte, so dass viele Standorte nicht mehr in der Lage sind, einen Studiengang Wissenschaftsgeschichte anzubieten. Während die geisteswissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Naturwissenschaft ausgetrocknet wird, fließen umgekehrt die Gelder, wenn naturwissenschaftliche Fächer geisteswissenschaftliche Fragen erforschen: Neurophysiologen sollen etwa die Willensfreiheit oder die Wirkung von Kunst ergründen. Angesichts dessen freue ich mich umso mehr, dass ich diesen Preis von der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung für die Wissenschaftsgeschichte entgegennehmen darf.