Sigmund-Freud-Preis

STATUT

§ 1
Der Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa zeichnet seit 1964 Gelehrte aus, deren Werk nicht nur durch seinen geistigen Rang, sondern auch durch die Qualität seiner wissenschaftlichen Prosa besticht.

Der Preis wird getragen von der ENTEGA Stiftung und ist aktuell mit 20.000 EUR dotiert. Er wird jährlich im Rahmen der Herbsttagung verliehen.

§ 2
Der Sigmund-Freud-Preis wird vergeben für herausragende Beiträge zur Entwicklung des Deutschen als Sprache der wissenschaftlichen Publizistik. Er wird für deutschsprachige Originalveröffentlichungen vergeben, die sich durch ihre wissenschaftliche und ihre stilistische Qualität gleichermaßen auszeichnen. Er kann Werke aus allen Disziplinen berücksichtigen.

§ 3
Das Vorschlagsrecht liegt in den Händen der Jury.

§ 4
Die Jury besteht aus dem Erweiterten Präsidium der Akademie.

Die Jury berät über die vorgeschlagenen Kandidatinnen und Kandidaten in einem mehrstufigen Verfahren.

Beschlossen vom Erweiterten Präsidium am 18. Februar 2021

Dan Diner

Historiker
Geboren 20.5.1946

In luzider Prosa beantwortet er praktisch, theoretisch und ideologiekritisch die Frage, wie nach dem Zivilisationsbruch des Nationalsozialismus der Geschichtszusammenhang neu zu denken ist.

Jurymitglieder
Ingo Schulze, Rita Franceschini, Olga Martynova, Lothar Müller, Lukas Bärfuss, Daniel Göske, Felicitas Hoppe, Joachim Kalka, Daniela Strigl, Michael Walter

Wiedergelesen
Albert Camus‘ „Der erste Mensch“

Die Szene ist ebenso ikonisch wie umstritten. Wenige Tage, nachdem der franco-algerische Schriftsteller Albert Camus – ein Meister der dichterischen Darstellung von Entfremdung und Gleichgültigkeit – im Dezember 1957 den Nobelpreis für Literatur entgegennahm, fand in der Aula der Universität zu Stockholm ein öffentliches Gespräch mit dem weltweit gefeierten Autor statt. Dabei geschah es, dass ein arabisch-algerischer Student aus dem Publikum Camus unterbrach und ihn inquisitorisch nach seinem als fragwürdig empfundenem Schweigen zum blutigen Algerienkrieg befragte – verbunden mit der Forderung nach Gerechtigkeit und Unabhängigkeit für die unter französisch-kolonialem Joch darbenden muslimischen Algerier.

Camus erregt vorgetragene Replik – vor die Wahl gestellt, zwischen einer gewalttätig verübten Gerechtigkeit und dem Leben seiner, von Terroranschlägen in Algier bedrohten Mutter zu entscheiden, zöge er das Leben seiner Mutter vor – rief weithin verwunderte Missbilligung heraus; diese sollte den berühmten Autor, weit über den ihn im Jahre 1960 jäh ereilenden Unfalltod hinaus, verfolgen.

Mit seinem Pariser Milieu hatte es sich Camus schon mit dem 1951 erfolgten Erscheinen seiner antitotalitären Schrift „Der Mensch in der Revolte“ verdorben. Jetzt wurde er zudem als Apologet der französischen Kolonialherrschaft in Algerien vorgeführt und an den politischen Tugendpranger gestellt.

Camus beredtes Schweigen in der Algerienfrage kam nicht von ungefähr. Es folgte auf sein im Frühjahr 1956 gescheitertes Bemühen zwischen den arabisch-muslimischen Nationalisten der FLN und den französischen Behörden einen „zivilen Waffenstillstand“ zu vermitteln, der schließlich eine Lösung der Algerienfrage jenseits von Kolonialismus und Nationalismus vorsehen sollte. Dieses Vorhaben hatte ihn beiden Seiten entfremdet. Aus seinem Kollektiv, dem Kollektiv der Algerienfranzosen, den Pieds-noirs, schlug ihm offener Hass entgegen.

Von da an schwieg sich Camus zur Frage Algeriens aus und lenkte seine schriftstellerische Energie in die Abfassung eines autobiographischen Romans, der erst 1994, ein Lebensalter nach seinem absurd anmutenden Unfalltod unter dem Titel: „Der erste Mensch“, erschien. Mit diesem Text, einem im Unfallwagen aufgefundenen, fragmentarisch-unvollendet gebliebenen Manuskript, einem Torso, der sein enigmatisches Schweigen zum Sprechen bringen sollte, hinterließ der gerade mal sechsundvierzig Jahre junge Autor der Nachwelt eine schwer zu enträtselnde Botschaft.

Dem „Ersten Menschen“ kommt unbeabsichtigter Dinge die Bedeutung eines letzten Wortes zu. Vor allem scheint „Der erste Mensch“ Camus‘ algerisches Dilemma Ausdruck zu verleihen. Es ist jenes Dilemma, dass damals, im Dezember 1957, im verbalen Schlagabtausch in der Aula der Universität zu Stockholm blitzartig aufschien: Das Dilemma zwischen der Liebe zu seiner Mutter, die offenbar auch für das verloren gehende französische Algerien zu stehen kommt, und der Vorstellung einer universell gültigen Gerechtigkeit – ein Ideal, dem Camus sich zutiefst verpflichtet fühlte. Das Drama dieser gegenläufigen Verschränkung liegt vor allem darin, dass jenes Ideal einer sich universell verstehenden Gerechtigkeit ihn in Richtung der muslimisch-algerischen Bestrebungen zog – ein Sog, dem Camus sich aus Gründen seiner Zugehörigkeit zum Kollektiv der Algerienfranzosen nicht ergeben konnte; eine Zugehörigkeit zudem, die mit dem Bilde der Mutter verwachsen war – einer vom Schicksal gezeichneten Frau: von Armut zerschlissen, ausgezehrt, analphabetisch, fast taub, in fremden Häusern niederste Arbeiten verrichtend – und bei all dem ihre Würde bewahrend.

Es sind die „armen Weißen“, die „petit colons“, für die Camus zu sprechen beansprucht: Nachfahren eingewanderter Korsen, Malteser, Katalanen, Elsässer, Spanier, Italiener und nicht zuletzt auch Nachfahren von nach Algerien deportierter Überlebender der Pariser Juni-Insurrektion von 1848 – „meine Leute“, heißt es bei ihm. Und er verbindet all dies mit der Figur der Mutter, die ihrerseits für ein Ethos steht, wonach diesen Algerienfranzosen aus ihrem sozialen Leiden ein moralischer Anspruch auf Dasein– genauer: das Recht dort, in Algerien zu sein – erwächst.

Indes steht dem, in der Armut der einen begründete Anspruch, ein anderer moralischer Anspruch entgegen – ein Anspruch, der von der unterdrückten und durch das Kolonialregime systematisch ungleich behandelten autochthonen arabischen und berberischen Bevölkerung erhoben wird. Bei einer Durchsetzung des Prinzips demokratischer Gleichheit in der Kolonie würde ihnen – der demographischen Mehrheit – auch die politische Herrschaft zufallen; ein Umstand, den Frankreich und die dort lebenden, über hundertdreißig Jahre hinweg in Algerien ansässig gewordenen Pieds-noirs durch die Wahrung ihrer institutionellen Privilegien abzuwenden suchten – auch mittels Gewalt.

Die dramatische Verstrickung der Ansprüche von autochthoner Mehrheit und kolonialer Minderheit ließ bei den Algerienfranzosen ein Gefühl chronischer Angst erwachsen, eine Angst, die – wie es bei Camus heißt – „alle fühlten und von der niemand sprach“. Eine, von einer „bedrohlichen Menge“ ausgehende „unsichtbare Bedrohung, die man an manchen Abenden in der Luft der Straße witterte“, und die (so weiter bei ihm) „mit nichts drohte, außer mit ihrer Anwesenheit und der Bewegung, die sie unwillkürlich erzeugte“.

Diese Angst war im Anfang. In der Beschreibung der unmittelbar erwarteten Geburt des erzählenden Protagonisten, dessen Familie im Pferdefuhrwerk sich des Nachts dem im Landesinneren gelegenen Ort ihrer Bestimmung nähert, wird das Gefährt von Gefühlsschwaden der Angst begleitet. In der neuen Bleibe werden bei Anbruch der Dunkelheit Türen und Fenster mit schweren hölzernen Balken verriegelt, um die dräuende Angst der neuen Bewohner zu bändigen.

Geschichten grausamer, in der Kolonie einander zugefügter Gewalt machen die Runde. Erzählungen, die von gleichsam rituell aufgeschlitzten schwangeren Leibern und abgetrennter, in die Münder Gemeuchelter gestopfter Genitalien handeln, gehören zum Kanon des Schreckens. Und die Schilderungen vom massenhaften, den indigenen Algeriern zugefügten Erstickungstod, als in sogenannten Pazifizierungsaktionen des französischen Militärs die Menschen in Grotten getrieben und an deren Eingängen dichte Rauchschwaden erzeugende Feuer entzündet wurden. Die Erbschaft der Gewalt wurde von Generation zu Generation weitergereicht.

Von all dem erzählt Camus im „Ersten Menschen“ – und dies in der Absicht ein Werk von tolstoischer, an „Krieg und Frieden“ gemahnender Wucht, zu erschaffen. Schon angesichts des am 8. Mai 1945 von französischen Sicherheitskräften und Siedlermiliz an demonstrierenden Algeriern verübten Blutbads von Sétif und Guelma wollte oder konnte Camus nicht mehr an ein französisches Algerien glauben; der am 1. November 1954 – dem „blutigen Allerheiligen“ – begonnene algerische Aufstand gegen die französische Kolonialmacht gab seiner Skepsis Recht. Dessen Ende und die Unabhängigkeit Algeriens im Jahre 1962 sollte er aufgrund seines frühen Unfalltods nicht mehr erleben, genauso wenig wie die damals fluchtartig einsetzende, als „Repatriierung“ ausgegebene Evakuierung der Pieds noirs aus Algerien, als es hieß: „Koffer oder Sarg“.

Plastisch erzählt Camus im „Ersten Menschen“ eine das Kommende vorwegnehmende Szene, in der ein Nachbar, ein Weinbauer, nachdem ihm behördlicherseits bedeutet worden war, Frankreich erwäge sich aus Algerien zurückzuziehen, seinem Traktor einen den Boden in der Tiefe aufbrechenden Rigolpflug anhängt und drei Tage lang, in glutheißer Hitze, stoisch und ohne dabei auch nur das Geringste zu sich zu nehmen, die von seinen Vorfahren gesetzten Weinstöcke mit den Wurzeln ausreißt.

Als die Algerienfranzosen in Panik das Land verließen, eilte auch der später Bekanntheit erlangende Philosoph Jacques Derrida aus Paris herbei, um unter Lebensgefahr seine jüdisch-algerischen Eltern aus ihrem Heim in El Biar, einem Vorort von Algier, übers Meer nach Frankreich zu geleiten – raus aus einem Lande, in dem die Präsenz der Vorfahren sich bis ins späte Mittelalter zurückverfolgen ließ, in ein Land, das sie weder kannten noch als das ihre ansahen. An jenem Tag, so erinnert sich Derrida, habe ein Nachbar der Eltern, angesichts des bevorstehenden Verlusts des angestammten Orts, sich aus Schmerz die Kehle durchtrennt.

Lange bevor Camus mit dem Schreiben am „Ersten Menschen“ begann, stand für ihn der Titel fest. Dieser kündet programmatisch vom Vorhaben Camus‘, sich der Fesseln seines algerischen Dilemmas zu entledigen. Demnach ist diese Schrift als Introspektion zu verstehen – als eine, Gefühle und Geschichten bezeugende Selbstbetrachtung, an deren Ende eine Verwandlung zu erwarten ist. Eine persönliche Verwandlung, die mit einer politischen einhergeht. Eine vergleichbare Verwandlung war Gegenstand des als Lebensbeichte angelegten späten Roman „Der Fall“. Das Ansinnen auf eine solche Verwandlung weist zudem ein gehöriges Maß an Affinität zu jenem Gedanken auf, der zur Kategorien-bildenden Grundlage der politischen Philosophie Hannah Arendts geworden war: der Gedanke von der Natalität und damit zur Überlegung, dass Menschen, weil sie qua Geburt als Fremdlinge in die Welt hineingeboren werden, ihnen Möglichkeit und Freiheit zu einem radikalen Neuanfang von Handeln gewährt ist – eine Möglichkeit des Politischen, die Arendt auch als „Zweite Geburt“ bezeichnet.

Anhand des „Ersten Menschen“, obschon ein Torso, ist zu erkennen, dass Camus‘ Protagonist im Romanfragment sich als neuen Menschen zu erschaffen sucht, als Menschen ohne eine ihn behindernde Vergangenheit und mit offener, in Freiheit gestalteter Zukunft. Diese Verwandlung, diese Zweite Geburt im Sinne Arendts, sucht Camus auf die im Kampf miteinander verkeilten Kollektive zu übertragen, um daraus eine dritte Zugehörigkeit zu begründen – eine Zugehörigkeit des Ortes statt der Abstammung, ein Algerien jenseits von Kolonialismus und Nationalismus, gar jenseits von Europäern und Arabern. Das mutet nach einer zwar sympathischen, aber gleichwohl utopischen Ausflucht an, wobei ihm allerdings die Motive der Antike und die Kulturen des Mittelmeeres entgegenkommen. Dass er sich dabei auf Augustinus beruft – auch dieser, dem Orte seines Wirkens nach „Algerier“ – dessen Liebesbegriff Hannah Arendt in ihrer Dissertation zum Thema gemacht hat, lässt eine zarte textuelle Berührung erkennen, der sich später auch Derrida mit seinem autobiographischen Text der „Circonfession“ anschließt, womit sich der Kreis dieser exzentrischen algerischen Zugehörigkeiten ideengeschichtlich schließt.

Camus „Erster Mensch“ ist eine Schrift der Trauer. Darin liegt, wie in der Natalität, ein in die Zukunft weisendes Moment: Trauer lässt – im Sinne Freuds gesprochen – die Melancholie um das geliebte verlorene Objekt hinter sich, wodurch die Einstellung diesem gegenüber transformiert und ein Neuanfang denkbar wird. Dieser transformative Vorgang befindet sich im Falle des aus dem Leben gerissenen Camus‘ noch ganz an seinem Anfang, wenn auch die Spuren der Verwandlung deutlich zu erkennen sind: Camus ist im Prozess der Trennung vom französischen Algerien begriffen, dessen sinnloses Bewahren ihm bewusst ist. Sein plötzlicher Tod reißt ihn aus dem Fluss der schreibenden Bewältigung heraus. Die Pieds-noirs, „seine Leute“, wie er schrieb, werden Algerien bald nach seinem Ableben verlassen und in generationeller Verschiebung ein Gefühl der Sehnsucht nach dem verlorenen Ort entwickeln, das weder melancholisch noch trauernd, sondern nostalgisch-verklärend sein wird.

Kommen wir zum Schluss: Die Geschichte des Torsos vom „Ersten Menschen“ bietet sich an als Parabel – als ein Lehrstück. Möge sie anderenorts nicht zum Orakel werden.

© Dan Diner