STATUT
§ 1
Der 1964 begründete FriedrichGundolf-Preis für die Vermittlung deutscher Kultur im Ausland dokumentiert den Anspruch der Akademie, aktiv den Kulturaustausch zwischen den deutschsprachigen Ländern und anderen Nationen (insbesondere Europas) zu fördern und mitzugestalten.
Der Preis wird aus dem Jahreshaushalt der Akademie finanziert. Er ist mit 20.000 Euro dotiert und wird jährlich im Rahmen der Frühjahrstagung vergeben.
§ 2
Der Friedrich-Gundolf-Preis würdigt hervorragende Leistungen bei der Vermittlung deutscher Kultur, insbesondere der deutschen Sprache und Literatur in nicht deutschsprachigen Ländern. Dabei können auch Übersetzungsleistungen berücksichtigt werden, die der deutschen Literatur in anderen Sprachen Wirksamkeit verschafft haben.
§ 3
Der Preis darf nicht geteilt werden.
Kann der Preis aus zwingenden Gründen nicht ausgehändigt werden, so bleibt es dem Erweiterten Präsidium überlassen, die Verleihung des Preises auf das nächste Jahr zu verschieben.
§ 4
Eine Fachkommission der Akademie berät über Kandidatinnen und Kandidaten für den Friedrich-Gundolf-Preis. Sie besteht aus sieben sachkundigen Mitgliedern, die von der Mitgliederversammlung gewählt werden.
Auf der Grundlage des Vorschlags dieser Kommission für den Friedrich-Gundolf-Preis entscheidet das Erweiterte Präsidium über den Träger bzw. die Trägerin des Preises.
Eigenbewerbungen sind nicht möglich.
Beschlossen vom Erweiterten Präsidium am 24. März 2021
Germanist, Publizist und Übersetzer
Geboren 6.2.1944
Mitglied seit 2004
... dessen Arbeiten maßgeblich dazu beigetragen haben, deutschsprachige Literatur von der Goethezeit bis zur Gegenwart in Skandinavien wieder heimisch zu machen...
Jurymitglieder
Kommission: Heinrich Detering, Norbert Miller, Ilma Rakusa, Lea Ritter-Santini, Jean-Marie Valentin
Mitglieder des Erweiterten Präsidiums
Laudatio von Heinrich Detering
Literaturwissenschaftler, Lyriker und Essayist, geboren 1959
Einheit der Rollen: Philologe, Kritiker, Wissenschaftler, Essayist
Im Jahr 1915, ein Jahr nach Ausbruch eines Weltkriegs, der noch nicht der Erste hieß, veröffentlichte der dänische Essayist und Kritiker Georg Brandes in Kopenhagen das Portrait eines deutschen Dichters. Wolfgang Goethe hieß der Band, und er stand trotz allem und noch immer in der selbstverständlichen Tradition einer Goethe-Begeisterung, ohne die die dänische Literatur von Andersen bis zu Karen Blixen gar nicht zu denken war.
An Brandes’ Buch erinnerte im Jahr 1998, am selben Ort, der dänische Literaturprofessor und Kritikerpapst Per Øhrgaard, im Nachwort eines knapp vierhundertseitigen Buches, das den Titel trug Goethe. Et Essay. Fünfundfünfzig Jahre war der Verfasser da alt; ein Jahr vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs war er zur Welt gekommen, ein Jahr vor dem Ende der deutschen Okkupation seines Landes. »Vor ein paar Generationen«, erinnert er sich mit einer Anspielung auf Goethes Diktum, man werde fünfzig Jahre nach seinem Tod entweder vergessen oder zur Legende – »vor ein paar Generationen war Goethe noch immer zumindest eine Legende, heute ist er in Vergessenheit geraten. Nicht sein Name, aber sein Werk, das selbst in der höheren Schule nicht mehr sonderlich lebendig gehalten wird.« Nicht einmal dort – denn »den Deutschkenntnissen«, so fährt Øhrgaard fort, »ist es ebenso ergangen wie der Kenntnis Goethes«. Er hätte hinzufügen können: und der Kenntnis Deutschlands, der Neugier auf deutsche Kultur auch, um von Begeisterung gar nicht erst zu reden. Die Gründe dieser Entfremdung zwischen den vormals Wahlverwandten sind bekannt.
Der Autor, der das 1999 schrieb, konnte sich solche Themen und Buchumfänge leisten, denn er war durch seine wissenschaftlichen Arbeiten, Literaturkritiken und Zeitkommentare zur deutschen Kultur längst zu einer Institution in der dänischen Öffentlichkeit geworden. Die Folgen seines Buches waren buchenswert. Das führende Literaturblatt Kopenhagens zählte diese Goethe-Monographie zu den wichtigsten literarischen Neuerscheinungen des Jahres, woraufhin es ein skandinavisches Erfolgsbuch und das Jahr 1999 auch zwischen Kopenhagen und Oslo doch noch zu einem Goethe-Jahr wurde. Nicht so leicht meßbar sind die Folgen, die Øhrgaards Portrait für das literarische Bewußtsein in Dänemark gehabt hat. Vielleicht ist es ihm tatsächlich gelungen, die alte und fruchtbare Wahlverwandtschaft neu zu beleben, an die er mit Brandes erinnert. Und da er als Philologe und als Kritiker, als Wissenschaftler und Essayist gleichermaßen schreibt, bewegt sein Buch sich auf dem Stand der jüngsten Forschungsdebatten und liest sich zugleich so frisch und gespannt und lebhaft, als seien Literaturgeschichte und Leidenschaft immer schon zwei Seiten derselben Medaille gewesen. Øhrgaard selbst begründet sein Tun hier im Rückgriff auf Zola und Brandes: »Man schreibt über Goethe nicht um Goethes, sondern um seiner selbst willen. Ich hatte Lust, Goethe noch einmal durch ein Temperament hindurch anzuschauen – meines – und einen Essay über ihn und sein Werk zu schreiben.«
Eben diese Einheit von Rollen, die man sich gewöhnlich auf verschiedene Personen verteilt denkt, macht das Temperament Per Øhrgaards aus. Er hat Monographien über C. F. Meyer, den dänischen Schriftsteller Klaus Rifbjerg und zuletzt über Günter Grass verfaßt, in deutscher und in dänischer Sprache; er hat mitgearbeitet an einer Literaturgeschichte für deutsche und einer deutschen Kulturgeschichte für dänische Leser; für Kopenhagener Zeitungen und Zeitschriften (darunter kritik, deren Mitherausgeber er für einige Jahre war) hat er viele, oft umfangreiche Beiträge verfaßt. Er war Präsident des dänischen PEN-Zentrums und kultureller Berater des dänischen Außenministeriums, in deutschen Angelegenheiten; und noch immer wirkt er als Direktoriumsmitglied des Carlsberg-Fonds, der größten dänischen Kulturstiftung, an dem täglichen Mirakel mit, kleine Bierdosen in große Kultur zu verwandeln.
Daß Einfühlungsvermögen und Distanz sich so wenig ausschließen wie Literaturwissenschaft und Kritik, das ließ sich schon an Øhrgaards frühen literaturkritischen Arbeiten lernen. 1972 hat er mit dem Band Moderne tysk literatur dänischen Lesern ein Panorama der deutschsprachigen Literaturen seit dem Kriegsende eröffnet, in der Schweiz und Österreich und den beiden deutschen Staaten. Nicht erst in seinen Äußerungen der neunziger Jahre etwa fällt seine abwägende Darstellung der Debatte um Christa Wolf ins Auge, sondern schon in diesem Band von 1972, als alles noch ganz anders war. Ähnlich nachlesenswert wären hier seine Porträts von Bobrowski, Enzensberger oder einem Autor, der mit dem folgenden Satz eingeführt wird: »Günter Grass fällt nicht nur nicht aus den hier skizzierten Rahmen – er sprengt sie alle.« Øhrgaards Darstellungen des Grass’schen Lebenswerks schließen den Artisten ebenso ein wie den politischen Kommentator. Und auch hier wird der Respekt keineswegs geschmälert durch Bemerkungen wie die, Grass melde »nachdrücklich sein Patent auf die richtige Meinung an« und sei doch am Ende »etablierter, als es ihm selbst vermutlich lieb ist«. So Øhrgaard 1972.
Die philologische Lesertugend des genauen Hinschauens – in seinem 1991 erschienenen Essayband Schuld und Erbe (Gæld og Arv. Tre Essays om Tyskland) wird sie auch literarisch produktiv. Am Anfang dieses Buches steht ein »Nekrolog«, plötzlich und unerwartet: sechseinhalb Seiten über das Leben des wenige Wochen zuvor in Ost-Berlin gestorbenen Verlagslektors »G.«, ein lapidar und anrührend erzählter deutscher Lebens- und Sterbenslauf. Das mit dieser privaten, ja intimen Geschichte eingeleitete Buch antwortet in drei großen Essays auf jene – wie Øhrgaard schreibt – Mischung aus »Erschrecken, Bewunderung und vor allem Verblüffung«, die von den deutschen Ereignissen nicht nur in den nordischen Nachbarländern ausgelöst wurde. Nichts begreiflicher, fügt er hinzu, als daß nun allenthalben über dessen mögliche Rolle in einem künftigen Europa debattiert werde, und dann zitiert er jene Warnung, die Georg Brandes nach der Niederlage von 1864 an seine dänischen Landsleute gerichtet hatte: nun keinesfalls in »dickem und schicksalsschwangerem Unwissen« über Deutschland zu verharren. Also wäre es nun abermals höchste Zeit für einen Blick auf die deutsche »Geschichte, Kultur, Literatur«.
Nicht zufällig erscheint in dieser Stichwortliste die Literatur in einer zugleich bescheidenen und herausgehobenen Schlußposition: mit ihr, durch dieses Medium hindurch, will Øhrgaard die deutsche Geschichte und Kultur verstehen und verständlich machen. Also wandert er mit Georg Brandes und Andersen durch das preußische Berlin und mit Thomas Mann durch die Weimarer Republik, sucht mit Claude Lanzmann die Vernichtungslager und mit Heinrich Böll die Nachkriegsruinen auf, begegnet mit Günter Eich der jungen Gudrun Ensslin und erkundet mit Botho Strauß den kapitalistischen Alltag. Am Beispiel des deutsch-deutschen Literaturstreits will er die Schwierigkeiten der Einheit verständlich machen und mit Enzensberger die Erfahrungen von Provinz hier, Europa dort. Schuld und Erbe, dieser schmale Band de l’Allemagne, ist weder Øhrgaards bekanntestes noch gar sein umfangreichstes Buch geworden. Aber vielleicht ist es sein eigenstes. Hier artikuliert sich sein Interesse an politischer, sozialer, kultureller Wirklichkeit so eindringlich wie seine Überzeugung, nichts könne darüber genauere Auskunft geben als die Literatur und nichts könne der Verständigung der durch Schuld und Erbe Getrennten so dienen wie sie.
Meine Damen und Herren – kein Vorzug ist den Arbeiten des Kritikers Øhrgaard so oft nachgerühmt worden wie ihre Fähigkeit, Leselust und Neugier zu wecken, auf die Bücher und auf die Länder, aus denen sie kommen. Wäre es da nicht eigentlich naheliegend gewesen, daß auch er selbst sich einmal als literarischer Übersetzer versucht hätte, gewissermaßen in tätiger Verwirklichung dessen, was er doch so ausdauernd proklamiert? Natürlich, das ist eine ziemlich unverfrorene Frage angesichts dessen, was er als Literaturwissenschaftler, Kritiker, Essayist und Kulturpolitiker geleistet hat. Und doch muß auch er selbst sie sich gestellt haben, ziemlich früh sogar, genau genommen schon am Beginn seiner wissenschaftlichen Laufbahn, bereits vier Jahre nämlich vor seiner Promotion. Die Antwort lautete: ja. Und also hat Per Øhrgaard übersetzt, Klassiker der deutschsprachigen Literatur, seit 1965, und er hat bis heute nicht mehr damit aufgehört. Mehr als vierzig Bände hat er bisher aus dem Deutschen ins Dänische gebracht. Kafkas Erzählungen sind darunter und der Process, eine Sammlung kleiner Prosa von Robert Walser und die Dialektik der Aufklärung, Goethes Novelle und Schillers Ästhetische Briefe, eine Auswahl aus den Tagebüchern Graf Kesslers und die beiden Romane Bobrowskis, Max Frischs Montauk und Christa Wolfs Kassandra, Bücher von Botho Strauß und Stefan Heym, Christoph Hein und Günter Anders, sieben Bände allein von Enzensberger und seit dem Butt alle Erzählungen und Romane seines Freundes Günter Grass.
Spätestens hier müssen Øhrgaard-Leser gewarnt werden: Unter dem Anschein dieses dänisch-ironischen Pragmatismus, dieser heiteren Gelassenheit kann es nicht mit rechten Dingen zugehen. Hier verbergen sich die Abgründe einer literarischen Obsession, die ihn mit einer schier unerschöpflichen Energie versorgen muß. Es gibt einen Namen dafür, und Øhrgaard zitiert ihn im Motto seines Goethe-Nachworts, aus Ottiliens Tagebuch (und auf diesem Umweg aus Schillers Brief an Goethe über den Wilhelm Meister): gegen große Vorzüge eines anderen gebe es kein Rettungsmittel als die Liebe. Daß Per Øhrgaard in Kopenhagen solche Vorzüge in der Literatur deutscher Sprache wiederentdeckt, daß er so liebevoll und so tätig darauf geantwortet, daß er ungezählte skandinavische Leser mit dieser Liebe angesteckt hat: dafür sind wir ihm dankbar. Oder, wie es bei Thomas Mann heißt: »Da trat Tonio Kröger vor [...] Tak! O, mange Tak!«