Friedrich-Gundolf-Preis

STATUT

§ 1
Der 1964 begründete Friedrich­Gundolf-Preis für die Vermittlung deutscher Kultur im Ausland dokumentiert den Anspruch der Akademie, aktiv den Kulturaustausch zwischen den deutschsprachigen Ländern und anderen Nationen (insbesondere Europas) zu fördern und mitzugestalten.

Der Preis wird aus dem Jahreshaushalt der Akademie finanziert. Er ist mit 20.000 Euro dotiert und wird jährlich im Rahmen der Frühjahrstagung vergeben.

§ 2
Der Friedrich-Gundolf-Preis würdigt hervorragende Leistungen bei der Vermittlung deutscher Kultur, insbesondere der deutschen Sprache und Literatur in nicht deutschsprachigen Ländern. Dabei können auch Übersetzungsleistungen berücksichtigt werden, die der deutschen Literatur in anderen Sprachen Wirksamkeit verschafft haben.

§ 3
Der Preis darf nicht geteilt werden.

Kann der Preis aus zwingenden Gründen nicht ausgehändigt werden, so bleibt es dem Erweiterten Präsidium überlassen, die Verleihung des Preises auf das nächste Jahr zu verschieben.

§ 4
Eine Fachkommission der Akademie berät über Kandidatinnen und Kandidaten für den Friedrich-Gundolf-Preis. Sie besteht aus sieben sachkundigen Mitgliedern, die von der Mitgliederversammlung gewählt werden.

Auf der Grundlage des Vorschlags dieser Kommission für den Friedrich-Gundolf-Preis entscheidet das Erweiterte Präsidium über den Träger bzw. die Trägerin des Preises.

Eigenbewerbungen sind nicht möglich.

Beschlossen vom Erweiterten Präsidium am 24. März 2021

Imre Kertész

Schriftsteller
Geboren 9.11.1929
Gestorben 31.3.2016
Mitglied seit 1997

... der, indem er rückhaltlos Rechenschaft über sich und seine Zeit ablegt, jene Großzügigkeit zu erzeugen hilft, ohne die kein Volk das andere, mehr noch: nicht einmal sich selbst verstehen kann.

Jurymitglieder
Kommission: François Bondy, Ruth Klüger, Norbert Miller, Lea Ritter-Santini, Jean-Marie Valentin, Peter Wapnewski

Mitglieder des Erweiterten Präsidiums

Laudatio von Michael Krüger
Schriftsteller, geboren 1943

Deutschstunde in Buchenwald

Meine Damen und Herren –
Lieber Imre Kertész

Die Geschichte unseres Preises für die Vermittlung deutscher Kultur im Ausland kennt eine Reihe von Möglichkeiten, wie und mit welcher Biographie man sich für diese Auszeichnung empfehlen kann. Naturgemäß steht der Germanist (und schon seltener: die Germanistin) im Vordergrund, also einer, der nach einem Studium der deutschen Literatur die mühevolle Arbeit auf sich genommen hat, den Studenten in Oklahoma oder Lyon die deutsche Sprache und die in dieser Sprache geschriebenen Meisterwerke der Literatur nahezubringen. Wir durften in diesem Kreis oft staunend miterleben, mit welcher ausdifferenzierten Kenntnis gerade die ausländischen Kollegen sich des humanistischen Erbes der deutschen Literatur angenommen hatten und mit welcher affektiven Zuneigung sie die feinsten Besonderheiten dieser Literatur herauszustellen und zu verteidigen wußten. Und manch einer der Schriftsteller unter uns dachte gelegentlich wehmütig darüber nach, wie inspirierend es doch gewesen wäre, die deutsche Literatur im Ausland erforschen zu dürfen.
Mit Imre Kertész, unserem heutigen Preisträger, verhält es sich anders. Ginge es um die Qualität seiner literarischen Bücher, so schlüpften uns die Lobesworte leicht − vielleicht zu leicht − von der Zunge; ginge es lediglich um den Übersetzer deutscher Literatur ins Ungarische, so wäre die Preisbegründung auch einfach. Man muß eigentlich nur die Grenze überqueren, um sein Lob zu hören. Schriftsteller und Philosophen sind sich einig darin, daß die Übersetzungen, die Imre Kertész erarbeitet hat, zu den Glanzstücken dieser Kunst gehören. Sie haben Schule gemacht und werden in der Schule und im Seminar gelesen und auf dem Theater gesprochen. Wenn man die jüngere ungarische Schriftstellergeneration, wenn man László F. Földényi und Peter Esterhazy, Peter Nádas und László Krasnahorkay oder György Dalos, die allesamt verblüffend gut Deutsch sprechen, wenn man sie über den Übersetzer Imre Kertész reden hört, bekommt man eine Ahnung davon, wen wir hier auszeichnen. Seine Übersetzungen von Nietzsches Geburt der Tragödie oder von Wittgensteins Vermischten Bemerkungen, von Freuds Moses oder Joseph Roths Hiob, von Canettis Augenspiel oder Hofmannsthals Frau ohne Schatten und vieler Theaterstücke von Tankred Dorst werden geradezu als klassische Beispiele gefeiert.
Aber auch den großen Übersetzer dürfen wie heute nur am Rande feiern, und wir dürfen es auch nur dann, wenn wir die Bedingungen nennen, denen sich seine Übersetzungen verdanken. Imre Kertész hat − erstens − seine prägenden Erfahrungen mit der deutschen Sprache im Konzentrationslager Buchenwald gemacht, und er hat − zweitens − die Anwendung dieser frühen, grauenhaften Unterweisung, seine Übersetzertätigkeit, nur deshalb leisten können, weil er von den sozialistischen Machthabern der Nachkriegszeit daran gehindert wurde, seine Erfahrungen mit dem Holocaust literarisch zu verarbeiten. Seine schriftstellerische Tätigkeit entspringt also einer doppelten Negativität, einer entsetzlichen Nicht-Identität, die unser Jahrhundert, in dem Bewußtsein, den Sinn der Geschichte entdeckt zu haben, für einen Teil seiner Menschen bereithielt. Mit Imre Kertész ehren wir einen von ihnen, der, in seinen eigenen Worten, »vormals von den offiziellen Behörden seines Landes − Ungarn − im Rahmen zwischenstaatlicher Vereinbarungen als versiegelte Warenlieferung an eine fremde Großmacht überstellt wurde, zu dem ausdrücklichen Zweck ihrer Ermordung, betrieb doch diese Großmacht − Nazideutschland − die Ausrottung der Juden mit erheblich besser entwickelten Methoden; nach der Befreiung aus dem Konzentrationslager ist er aus heute nicht mehr erfindlichen Gründen: vielleicht durch den Instinkt eines ausgesetzten Hundes, aber vielleicht auch, weil er damals, mit sechzehn diesen Ort für sein Zuhause hielt, in dieses selbe Land zurückkehrt; danach, während der − Sozialismus genannten − russischen Besetzung, hat er am selben Ort vierzig Jahre in einer de facto inneren Emigration verbracht, um schließlich, nachdem die Euphorie von 1989 abgeklungen war, seine unabänderliche Fremdheit als Endstation einer langen, langen Reise zu erkennen, an der er endlich angekommen ist, ohne daß er sich, im geographischen Sinn, je von der Stelle gerührt hat.« − So liest sich der andere mögliche Lebenslauf eines Gundolf-Preisträgers: Imre Ohneland. In der Abkapselung entstanden in einem langen schmerzhaften Prozeß die »lazarenischen« Romane, die genauen, in ihrer kühlen Objektivität erschütternden Vergegenwärtigungen des Erlöschens der Menschlichkeit, die zugleich peinigende Untersuchungen der Frage sind, »woran es liegen mag, daß in unserem Jahrhundert die Frage der Freiheit nicht mehr von der der Schrecknisse zu trennen ist« (Földényi). Insofern legen diese Bücher nicht nur Zeugnis ab, sondern sind auch und vielmehr massive und bittere Anklagen gegen eine Welt und ein Denken in dieser Welt, die sich von ihren Grundlagen entfernt haben, ohne ein Kompensat zu wissen, um mit dieser Fremdheit leben zu können. Der existentielle Ernst dieser in einem emphatischen Sinn europäischen Bücher stellt sie nicht nur neben die großen Zeugnisse von Imre Kertész’ Leidensgenossen, von Robert Antelme bis Primo Levi, sondern läßt sie auch das unvollendete Werk eines Albert Camus fortsetzen: Man ist kein Prophet mit der Behauptung, daß der Roman eines Schicksallosen eines Tages zu der Handvoll philosophischer Romane gehören wird, die den anthropologischen Stand unseres Jahrhunderts genau beschreiben.
Während Imre Kertlsz im Geheimen an dieser epischen Theorie des Verlusts von Freiheit und Individualität arbeitete, entstanden an der Oberfläche die Übersetzungen deutscher Literatur.
»Auch über die Deutschen« − heißt es im Roman eines Schicksallosen − »sind mir sogleich viele verschiedene Meinungen zu Ohren gekommen. So bekannten sich zahlreiche, und zwar vor allem ältere Leute, die schon über Erfahrungen verfugten, zu der Ansicht, die Deutschen seien, was immer ihre Auffassung von den Juden sein mögen, im Grunde genommen − wie das im übrigen jedermann wisse − saubere, anständige Menschen, die Ordnung, Pünktlichkeit und Arbeit liebten und dieses auch bei anderen zu ehren wüßten, wenn sie bei ihnen die gleichen Eigenschaften feststellten; im großen und ganzen entsprach das in der Tat ungefähr dem, was auch ich von ihnen wußte, und ich dachte, ich könnte bei ihnen wohl auch einen Nutzen daraus ziehen, daß ich mir am Gymnasium ihre Sprache bis zu einem gewissen Grad angeeignet hatte.« Neu in seinen Sprachschatz aufnehmen konnte Imre Kertész die Flüche, die er nicht auf dem Gymnasium gelernt hatte: »Dir werd ichs zeigen, Arschloch, Scheißkerl, verfluchter Judenhund!« Es handelte sich um einen Fünfzehnjährigen, der diese Sprache in Buchenwald lernen mußte, und daß er, der Überlebende dieser Sprache, den Mut und die Kraft hatte, diese nach der Befreiung wieder in den Mund zu nehmen, erfüllt uns mit Scham und Dankbarkeit. Lieber Imre, wir fühlen uns geehrt, daß Du den Friedrich-Gundolf-Preis für die Vermittlung deutscher Kultur im Ausland 1997 angenommen hast.

Bitte laß mich zum Schluß noch eine persönliche Anmerkung machen. In Deinem Roman eines Schicksallosen kann man nachlesen, daß Du von Buchenwald aus in ein kleineres Lager in der Nähe verbracht wurdest. Es lag, wie Du schreibst, »eine Nachtfahrt mit dem Güterzug von Buchenwald entfernt«. »Ich habe gleich gesehen«, schreibst Du weiter, »daß ich diesmal nur in so ein kleines, armseliges, abgelegenes, sozusagen in ein Provinzkonzentrationslager gekommen war. Ein Bad oder ein Krematorium − offenbar nur Bestandteile von wichtigen Konzentrationslagern − hätte ich hier vergeblich gesucht. Auch die Gegend war wieder eintönige Ebene, nur vom Ende des Lagers sah man in der Ferne irgendeinen bläulichen Gebirgszug: den Thüringer Wald, wie ich jemanden sagen hörte.«
Die Stadt in der Nähe hieß Zeitz, und im Kreis Zeitz wurde ich, wenige Monate vor Deiner unfreiwilligen Ankunft, im Dezember 1943 geboren. Wir hätten uns sehen können. Lieber Imre, ich würde mich freuen, wenn die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung Dich bald zu ihrem korrespondierenden Mitglied wählen würde, damit wir uns, nach mehr als fünfzig Jahren, wenigstens ein Mal im Jahr und hoffentlich immer angstfrei sehen können.