Friedrich-Gundolf-Preis

STATUT

§ 1
Der 1964 begründete Friedrich­Gundolf-Preis für die Vermittlung deutscher Kultur im Ausland dokumentiert den Anspruch der Akademie, aktiv den Kulturaustausch zwischen den deutschsprachigen Ländern und anderen Nationen (insbesondere Europas) zu fördern und mitzugestalten.

Der Preis wird aus dem Jahreshaushalt der Akademie finanziert. Er ist mit 20.000 Euro dotiert und wird jährlich im Rahmen der Frühjahrstagung vergeben.

§ 2
Der Friedrich-Gundolf-Preis würdigt hervorragende Leistungen bei der Vermittlung deutscher Kultur, insbesondere der deutschen Sprache und Literatur in nicht deutschsprachigen Ländern. Dabei können auch Übersetzungsleistungen berücksichtigt werden, die der deutschen Literatur in anderen Sprachen Wirksamkeit verschafft haben.

§ 3
Der Preis darf nicht geteilt werden.

Kann der Preis aus zwingenden Gründen nicht ausgehändigt werden, so bleibt es dem Erweiterten Präsidium überlassen, die Verleihung des Preises auf das nächste Jahr zu verschieben.

§ 4
Eine Fachkommission der Akademie berät über Kandidatinnen und Kandidaten für den Friedrich-Gundolf-Preis. Sie besteht aus sieben sachkundigen Mitgliedern, die von der Mitgliederversammlung gewählt werden.

Auf der Grundlage des Vorschlags dieser Kommission für den Friedrich-Gundolf-Preis entscheidet das Erweiterte Präsidium über den Träger bzw. die Trägerin des Preises.

Eigenbewerbungen sind nicht möglich.

Beschlossen vom Erweiterten Präsidium am 24. März 2021

Hubert Orłowski

Geboren 22.5.1937

...für sein weitgespanntes Wirken als Vermittler zwischen
der deutschen und der polnischen Kultur...

Jurymitglieder
Kommission: Irène Heidelberger-Leonard, Michael Krüger, Per Øhrgaard, llma Rakusa, Miguel Sáenz, Joachim Sartorius und Leszek Żyliński

Mitglieder des Erweiterten Präsidiums

Hubert Orłowski
Dankrede


Sehr geehrter Herr Präsident Detering,
sehr geehrte Mitglieder der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung,
sehr geehrter Herr Professor Żyliński, lieber Leszek,
meine Damen und Herren,

vor vier Jahren erschien in der FAZ ein knapper Text von hoher, wohl aber doch verkannter politischer Brisanz. Gemeint ist Jürgen Trabants Beitrag Europa spricht mit gespaltener Zunge. Der deutsche Romanist ging auf die Frage nach der Zukunft der Sprachen im Europa des Alltags und der Politik ein, auf die Gefahr, daß die Dominanz des Englischen die Nationalsprachen »in den Zustand der Vernakularsprache, also ›niederer‹ Alltagssprache« zurückfallen lasse. Seine Analyse trifft leider auch auf die Domäne der europäischen Wissenschaftssprachen zu.
Die Posener Deutsche Bibliothek, über die ich hier sprechen möchte, wurde nicht zuletzt aus der Erkenntnis von der Bedeutung dieses Problems für mein Land geboren. In concreto: Deutsch als Wissenschaftssprache in den Humanities stand und steht im Zentrum meines Interesses. In den Geistes- und Sozialwissenschaften – das weiß man inzwischen – gibt es keine Erkenntnis jenseits der Sprache! »Wer Begriffe besetzt, erlangt Deutungshoheit«; noch immer gelten diese Worte. Die sichtbar schwächere Position der deutschen Sprache im Vergleich zur englischen in der polnischen wissenschaftlichen Kommunikation also stand und steht zur Diskussion.
Verwirklicht werden konnte die Buchreihe Poznańska Biblioteka Niemiecka (Posener Deutsche Bibliothek) dank Offenheit, Empathie und Zusammenarbeit vieler Akteure. An erster Stelle ist Christoph Kleßmann zu nennen. Als Zeithistoriker und intimer Kenner der polnischen scientific community beteiligte er sich mit Rat und Tat an der Verwirklichung des Projekts. Wir starteten – ein ›Bielefelder‹ in Potsdam und ich in Poznań – in den frühen 1990er Jahren ein Editions- und Forschungsvorhaben, ohne uns vorstellen zu können, daß wir daran weit über zehn Jahre ›basteln‹ würden.
Der Posener Verlag Wydawnictwo Poznańskie unter der Leitung des Chefredakteurs Ryszard Wryk übernahm die verlegerischen Aufgaben. Die Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit (mit Sitz in Warschau) förderte die Edition der Schriftenreihe maßgeblich. Es gelang mir aber auch, andere Stiftungen zu gewinnen.
Unbescheiden sei gesagt: Den Erfolg der Posener Deutschen Bibliothek belegt eine Unmenge von Zitierungen und Hinweisen in Veröffentlichungen polnischer Geistes- und Sozialwissenschaftler sowie in der Publizistik. Nicht zu vergessen ist auch die Präsenz vieler Bände in den Empfehlungslisten so mancher Seminare: der Soziologen, der Historiker, der Philosophen sowie der Literatur- und Kulturwissenschaftler.
Die Buchreihe baut auf der These auf, die sensationellsten news seien eben die der ›langen Dauer‹; Fernand Braudel hätte an ihr wohl seine Freude. Der Gesamtumfang der bislang erschienenen vierzig Bände beträgt weit über 22 000 Seiten. Davon entfallen weit über zweitausend Seiten auf Einführungen und Kommentare.
Das Credo der Posener Bibliothek, als Einführung in einen jeden Band, erklärt nicht alles, wohl aber doch das zentrale Anliegen der Herausgeber. Hier im Wortlaut, ins Deutsche übersetzt:
»Nachbarschaft verpflichtet. Insbesondere dann, wenn diese Nachbarschaft eine lange, wechselvolle Geschichte hat. Die Erinnerung daran trennt und verbindet. Als gemeinsame Erfahrung ist sie wichtig für die Gegenwart.
Die deutsch-polnische Nachbarschaft verpflichtet in besonderem Maße zur Reflexion. Eine notwendige, wenn auch keineswegs hinreichende Bedingung historisch gesättigter Reflexion ist das Wissen um die Vorstellungen, die den Prozeß des Nation Building prägten. Daraus entstand die Idee, sich mit den Reflexionen deutscher Autoren über ihre Nation, über Kultur und Zivilisation bekannt zu machen. Im Mittelpunkt des Interesses der Herausgeber der Reihe steht nicht die Ereignisgeschichte, sondern die Geschichte der Mentalitäten, der bestimmenden Faktoren des nationalen Habitus.
Die Posener Deutsche Bibliothek bringt Texte, die nicht nur auf deutsch verfaßt wurden, sondern auch über die Einstellung ihrer Autoren zur eigenen Gesellschaft und deren Bedingtheit Auskunft geben. Daher steht neben dem Sozialhistoriker der Schriftsteller, der Sozialwissenschaftler, der Philosoph. Die Struktur der Bände ist unterschiedlich. Neben Monographien sind Auswahlbände vorgesehen, die entweder das Werk eines einzigen Autors vorstellen oder Beiträge zu einem bestimmten Problemkreis oder Diskurs versammeln.
Die Bibliothek zielt insbesondere auf die Reflexion der Kategorien der ›langen Dauer‹. Hier werden Besonderheiten der neuzeitlichen Entwicklung vermutet: In der verlangsamten Verbürgerlichung, im Konfessionalisierungsparadigma, in der aufklärerischen Staatsphilosophie, in der preußischen und nachpreußischen Rechtskultur, im Pragmatismus des Alltagsbewußtseins, in wechselseitigen Abhängigkeiten von Ideologie und Modernisierung, von Massenkultur und elitärem Denken. Die Präsentation unterschiedlicher Standpunkte der Autoren ist daher beabsichtigt und kein Zufall.«
Die Posener Buchreihe baut auf einem Kulturbegriff auf, der Max Weber verpflichtet ist. Kultur bedeutet in dieser Perspektivierung soviel – und nur soviel – wie »ein vom Standpunkt des Menschen aus mit Sinn und Bedeutung bedachter endlicher Ausschnitt aus der sinnlosen Unendlichkeit des Weltgeschehens«.
Dem kulturanthropologischen Konzept wohnt zugleich ein (wenn auch bescheidener) moralischer Impetus inne, nämlich der des Anspruchs auf empathische Nachbarschaft. Die Posener Bibliothek imitiert keine enzyklopädische Anordnung; das Credo der Buchreihe legt ja das grundlegende Ziel der Reihe nur grob fest, ohne die zu behandelnden Themen, Fragestellungen und Problemfelder einzuengen. Die Herausgeber einzelner Bände akzeptieren und bestimmen – sozusagen als ›Untermieter‹ – das Konzept und den Aufbau. Und sie sind für die Zusammenstellung, die Einführung und den Kommentar verantwortlich. Die nationale Zugehörigkeit der Herausgeber der einzelnen Bände spielt keine Rolle. Relevant ist die Sachkompetenz der Autoren, verständlicherweise auch in Sachen Erfahrungsraum und Erwartungshorizont der polnischen Leserschaft.
Die in meinen Augen zentrale Textsorte der Posener Bibliothek stellen sorgfältig zusammengestellte Sammel- bzw. Auswahlbände dar, die Quellen und Beiträge »zu einem bestimmten Problemkreis oder Diskurs« des Grundkonzepts der Schriftenreihe enthalten. Erwähnt werden sollte hier eine Reihe von Bänden (u. a. Konservative Revolution in Deutschland 1918–1933, Drittes Reich – Nationalsozialismus – Modernisierungsprozesse, Zensur in Deutschland im 20. Jahrhundert, Raum und Politik, Staat und Gesellschaft, Kultur der Technik, Europa-Konzepte deutscher Intellektueller, Historisches Erzählen in der deutschen geschichts- und literaturtheoretischen Reflexion, Deutsche Intellektuellendiskurse nach 1945, Der ›deutsche Sonderweg‹ – ein Streitfeld, Schlesien. Imaginierte Wirklichkeiten). Professor Żyliński war so freundlich und nannte einige schon in seiner Rede.
Eine weitere relevante Textsorte der Schriftenreihe machen Auswahlbände aus, die Schlüsseltexte von Kulturanthropologen, Schriftstellern, Soziologen und Historikern zu nationalen Diskursen enthalten. Erwähnt sei die erste polnische Auswahl politischer Reden und geschichtsphilosophischer Essays von Thomas Mann sowie Heinz Schillings eigens für die Buchreihe konzipierter Band zur Konfessionalisierung.
Ein Wort zu diesem Phänomen: Die Konfessionalisierung in Deutschland, als Prozeß und Zustand im Sinne Heinz Schillings begriffen, wird von der polnischen Öffentlichkeit kaum wahrgenommen, und wenn, dann nur aus religionsgeschichtlicher Perspektive, ohne deren Folgen für das Alltagsbewußtsein und -verhalten der Gesellschaft in Betracht zu ziehen. So entschied ich mich, diesem Problembereich im Rahmen der Posener Bibliothek einen besonderen Raum zu widmen.
Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang auf einen Band hinweisen, der mit der Buchreihe in nur diskursiver Beziehung steht. Gemeint ist das Kriegstagebuch von August Töpperwien, geführt zwischen dem 3. September 1939 und dem 6. Mai 1945, welches ich mit Thomas Schneider vom Remarque-Archiv Osnabrück vor zehn Jahren ediert habe. In diesem Fall zeigt sich der Konfessionalisierungskomplex in dramatischer Tiefe. Der Zufall, aber vielleicht auch nicht, spielte mir dieses einmalige Tagebuch vor drei Jahrzehnten in die Hände. Ein Zitat als Titel der Edition sowie ein perspektivierender Untertitel – nämlich »Erschießen will ich nicht!«. Als Offizier und Christ im Totalen Krieg – stecken das erwähnte Problemfeld, wenn auch nicht vollständig, ab. In den den gesamten Verlauf des Zweiten Weltkrieges reflektierenden Aufzeichnungen des tiefgläubigen Protestanten Töpperwien findet das Spannungsverhältnis Nationalismus – Nationalsozialismus – christlich / protestantische Haltung seinen Ausdruck. Ein Beziehungsnetz entsteht, mit solchen Eckdaten wie Konfession, Nation-Building-Prozeß und falsches Bewußtsein. Der gesamte Trakt konfessionalisierungsorientierter Bände in der Posener Bibliothek ist selbstverständlich breiter. Schon der Band Praeceptores. Theologie und Theologen der deutschen Sprache, entworfen von einem der versiertesten polnischen Theologen, markiert in Ansätzen diese Perspektivierung. Heinz Schillings jüngste Monographie Martin Luther. Rebell in einer Zeit des Umbruchs wird im nächsten Jahr den Konfessionalisierungsdiskurs der deutschen Lande im Rahmen der Buchreihe abschließen.
Mit Band 35 schloß die Posener Schriftenreihe ihren bisherigen Editionsmodus ab; der Verlag selbst wurde nämlich aus marktpolitischen Gründen voluntaristisch umstrukturiert. Glücklicherweise ergriff meine Universität die Initiative und gründete unter dem alten und zugleich neuen Cheflektor den Verlag für Wissenschaft und Innovationen (Wydawnictwo Nauka i Innowacje). Seit 2013 ediere ich nun im Alleingang alle geplanten Bände, einige davon auch in ›direkter Regie‹. Das Konzept der Buchreihe, mein geistiges Eigentum also, konnte in das neue Domizil hinübergerettet werden. Das soeben zitierte Credo bestimmt weiterhin das Profil der Buchreihe. Auch deren Logo blieb unverändert. Die Entscheidungen des Nationalen Wissenschaftszentrums in Warschau sowie der Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit, weitere fünfzehn Bände finanziell zu fördern, lassen hoffen, daß Band 50 in drei Jahren auf dem Buchmarkt erscheint.
Von den fünfzehn jüngst geplanten Bänden sind u. a. erschienen: Die Umkehr. Deutsche Wandlungen 1945–1995 des »›transnationalen‹ Analytikers deutscher Herkunft Konrad Jarausch« sowie der von Christoph Kleßmann betreute Band Der ›deutsche Osten‹. Er gehört in den Bereich, der schon von den Bänden Raum und Politik im Deutschland des 19. und 20. Jahrhunderts sowie dem Band Schlesien erschlossen worden ist. Insbesondere die ›Sammelmonographie‹ Preußen. Mythen und Wirklichkeit, entworfen von den exzellenten Kennern Andreas Lawaty und Hans-Jürgen Bömelburg, wird das ›Phänomen Preußen‹ in seiner kameralistisch-politischen, gesellschaftlich-kulturellen sowie mentalen Einmaligkeit polnischen Lesern vergegenwärtigen.
Der vierzigste Band, Generationen oder vom Ordnen der Geschichte, in meiner Regie, dokumentiert ein wichtiges Kapitel deutscher Wissenschaftsgeschichte; andererseits bietet er über die kulturanthropologische Kategorie ›Generation‹ Einblick in Versuche (nationaler) Identitätsfindung. Auf die monothematischen, einzelnen wichtigen Epochen und Kulturphänomenen gewidmeten Bände wie z. B. Biedermeier folgen nun solche wie Mittelalter auf deutsch und Romantik. Der vom Thorner Forscher Leszek Żyliński konzipierte Band Romantik. Deutsche nationale Träume reflektiert die Eigenart der deutschen Romantik gegenüber der polnischen.
Dichten sei immer »eine Ungeduld der Erkenntnis« gewesen. Dieses griffige Statement, von Hermann Broch vor vielen Jahrzehnten im Essay Das Weltbild des Romans angeboten und hier nun auf einen Kosmos humanistischer Reflexion angewandt, scheint auf den ersten Blick arrogant zu sein. Ein zweiter Blick, ein Seitenblick auf die Semantik, läßt allerdings Brochs Perspektive als eine doch recht adäquate erscheinen. Alexander Demandt hat vor vielen Jahren in seinem Opus Metaphern für Geschichte in vollem Ernst die These verteidigt, daß eben Metaphern einen überraschend hohen Teil der Begriffswelt der Humanities ausmachen. Blicke ich in die gewaltige Begriffswelt meiner Posener Bibliothek, so sehe ich diese Hypothese grundsätzlich bestätigt. Und das beruhigt mich ein wenig! Denn in all den Jahren meiner Arbeit an der Posener Deutschen Bibliothek habe ich mir die unbequeme Frage stellen müssen: Was suchst du, Hubert Orłowski, eigentlich als Literaturwissenschaftler im Imperium der Gesellschafts- und Sozialwissenschaften?!

Lassen Sie mich zum Abschluß, werte Damen und Herren, ein großes Dankeswort aussprechen an alle Mitglieder der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung und an Sie, lieber Herr Professor Detering, sowie an Ihre Mitstreiter, die Vizepräsidenten. Ich danke sehr der Jury, den Mitgliedern der Kommission für den Friedrich-Gundolf-Preis. Ich weiß ein Urteil zu schätzen, in welchem das Prädikat von der »Vermittlung deutscher Kultur im Ausland« an honoriger Stelle steht.
Dir, lieber Leszek, gilt mein besonderer Dank: für den Einblick in mein Tun auf dem Acker der Nachbarschaft, der polnisch-deutschen Nachbarschaft.
Nachbarschaft verpflichtet!