Johann-Heinrich-Voß-Preis

The »Johann-Heinrich-Voß-Preis für Übersetzung« (Prize for Translation) has been awarded by the German Academy for Language and Literature since 1958 for the »outstanding achievements in translation,« with a particular emphasis on the translation of literature into German.
The prize is awarded annually at the spring conference of the German Academy.
The Johann Heinrich Voß Prize has been endowed with €20,000 since 2002.

Stefan Weidner

Writer, Translator and Journalist
Born 1/10/1967
Member since 2017

... der durch seine engagierte Arbeit zu einem der wichtigsten Mittler in der zwischen der deutschen und der arabischen Kultur drohenden Sprachlosigkeit geworden ist.

Jury members
Kommission: Heinrich Detering, Joachim Kalka, Friedhelm Kemp, Werner von Koppenfels, Ilma Rakusa, Lea Ritter-Santini, Michael Walter

Mitglieder des Erweiterten Präsidiums

Die Entdeckung der Noblesse der anderen

Herr Präsident, verehrte Mitglieder der Akademie, liebe Gäste,

gestatten Sie mir, meine kleine Dankesrede mit einem Zitat des großen rumänischen Religionswissenschaftlers und ebenso großen Romanciers Mircea Eliade zu beginnen, dem heutigen Anlass gemäß nicht ohne Verbeugung vor Nora Iuga. 1952 schrieb Mircea Eliade die folgenden, hellsichtigen Sätze in sein Tagebuch:

»Ich muß einmal irgendwo sagen, daß nicht die Revolution des Proletariats das wichtigste Phänomen des zwanzigsten Jahrhunderts gewesen ist, sondern die Entdeckung des nichteuropäischen Menschen und seiner geistigen Welt. Heute fangen wir nämlich an, uns der Noblesse und der geistigen Eigenständigkeit dieser Kulturen bewußt zu werden. Der Dialog mit ihnen scheint mir viel bedeutsamer für die Zukunft des europäischen Denkens als die geistige Erneuerung, welche die radikale Emanzipation des Proletariats bringen könnte.«(1)

Wie recht Eliade mit seiner Einschätzung hatte, erweist sich schon daran, dass die Rede vom Proletariat nahezu gänzlich versiegt ist, ja dass wir das Wort heute mehrheitlich pejorativ verstehen, während der »nichteuropäische Mensch und seine geistige Welt« das Debattenthema Nummer eins geworden ist, beschworen, umworben, gefürchtet und umstritten wie einst das Proletariat. Eine besondere Pointe bekommt diese Sachlage dadurch, dass die problematische gesellschaftliche Stellung, die damals das Proletariat innehatte, heute, zumindest in der medialen Darstellung, von nichteuropäischen Menschen eingenommen wird (erst recht dann, wenn wir nicht bereit sind, unsere türkischen Mitbürger zu den Europäern zu zählen). Überdies wird auch das Bedrohliche, das einst vom Proletariat gegen die gesellschaftliche und kulturelle Stabilität auszugehen schien, heute auf das Nichteuropäische projiziert, sei es in Gestalt des islamischen Terrorismus, afrikanischer Flüchtlingswellen oder des chinesischen Wirtschaftsbooms. Doch dies alles soll heute unser Thema nicht sein, ich erwähne es zum Lob von Eliades Hellsichtigkeit und um den Kontext zu skizzieren, in den sich die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung hineingewagt hat, als sie entschied, mir diesen Preis zu verleihen.
Während das Proletariat, als man noch von ihm sprach, gleichsam vor der eigenen Haustür kauerte und seine geistigen Welten überschaubar waren – mit ein Grund denke ich, warum es bei Intellektuellen so beliebt gewesen ist: wir kennen es, ja wir haben es immer schon in uns und entstammen ihm womöglich sogar, wie ich es von mir behaupten könnte – erweisen sich die geistigen Welten der nichteuropäischen Menschen als denkbar entlegen, heterogen und nur unter großem Aufwand so zu erschließen, dass sich das einstellt, was Eliade als Ziel dieser »Entdeckung« benennt: das Bewusstsein der Noblesse und geistigen Eigenständigkeit dieser Kulturen, und, als mögliches Resultat dieses Bewusstseins, die geistige Erneuerung der eigenen Kultur.
Die Frage lautet nun, auf welche Weise die Entdeckung der Noblesse der anderen geschieht, wie das Bewusstsein davon überhaupt herzustellen ist. Sind Erneuerungsfähigkeit und geistige Offenheit, die das Ziel darstellen, nicht zugleich die Vorbedingungen? Dass diese Vorbedingungen auch in einer hochmodernen und als aufgeklärt geltenden Gesellschaft nicht einfach gegeben sind, ahnen wir, wenn wir unser Gehör dafür schärfen, von wie vielen Menschen gleich welchen Bildungsniveaus die kulturellen Leistungen etwa der Muslime mehr oder weniger verhohlen, mehr oder weniger reflektiert in Abrede gestellt werden – auch heute, gerade heute. In einer in diesem Jahr erschienenen, dem Wissenschaftsbetrieb an unseren Universitäten zuzurechnenden Publikation, ist folgender bemerkenswerte Satz zu lesen: »Man kann die Odyssee genießen, auch wenn man nicht an die griechischen Götter glaubt, aber kein nicht muslimischer Muttersprachler des Arabischen kann dem Lesen oder Zuhören des Korantextes einen Genuß abgewinnen.«(2)
Ich würde gerne unseren (hier anwesenden) Freund Fuad Rifka fragen, was er als arabischer Christ von diesem Satz hält. Aber als Übersetzer aus der Sprache des Korans, der einen Preis bekommt, welcher nach dem bekanntesten Übersetzer der Odyssee benannt ist, würde ich sogar die These wagen, dass wir nicht einmal arabische Muttersprachler sein müssen, um dem Lesen des Korans einen Genuss abzugewinnen; wir müssten ihn nur endlich in einer guten Übersetzung lesen können!
Bei der Beantwortung der Frage, wie die Größe anderer Kulturen erkannt und erfahren werden kann, interessiert uns vor allem die sprachlich-ästhetische und übersetzerische Seite. Auf diesem Gebiet, in dieser Arena, fällt die Vorentscheidung darüber, ob sich das von Eliade postulierte Bewusstsein einstellen kann oder nicht. Nur dies Vorentscheidende an vermeintlich marginalem Ort, dem Schauplatz der Schöngeistigkeit, erklärt den apodiktischen Ton im ebengenannten Zitat, ein Ton, der weder einer wissenschaftlichen Publikation noch der rein ästhetischen Fragestellung nach der Schönheit eines Textes angemessen ist.
Nun muss ich einer Akademie, die einen Preis an einen Übersetzer aus einer nichteuropäischen Sprache vergibt, nicht erklären, dass bei der Entdeckung der geistigen Noblesse anderer Kulturen den Übersetzern eine gewisse Rolle zukommt. Ich will nur sagen, dass diese Rolle in vieler Hinsicht anders und auch prekärer ist als die des Vermittlers, der sich auf einem der Öffentlichkeit halbwegs vertrauten kulturellen Terrain bewegt. Es dürfte zum Beispiel in der Geschichte des Voß-Preises recht selten vorgekommen sein, dass kein Mitglied der Jury die Sprache beherrscht, aus welcher der ausgezeichnete Übersetzer überträgt. Umso mutiger ist eine solche Entscheidung zu nennen. Umso größer sind der Dank und die Dankbarkeit des Übersetzers!
Wer aus nichteuropäischen Sprachen übersetzt, hat mit einem Problem zu kämpfen, das nicht primär sprachlicher Natur ist, sondern mit dem fehlenden oder zumindest selten ausreichenden Bewusstsein von den spezifischen Leistungen jener in nichteuropäischen Sprachen sich ausdrückenden Kulturen zusammenhängt. Dieses Anerkennungsproblem liegt nicht nur und vielleicht nicht einmal wesentlich im sogenannten Eurozentrismus begründet, geschweige denn in einer Art von kulturellem Rassismus. Vielmehr ist es das nur zu natürliche Resultat einer fehlenden Bewertungsgrundlage. Wahrhaft fremde kulturelle Leistungen entziehen sich den üblichen Beurteilungskategorien; wenn dennoch, wie es zuweilen unerlässlich scheint, eine Beurteilung gewagt wird, führen diese Kategorien oft in die Irre und suggerieren Mängel oder Errungenschaften, die dem Original denkbar fern liegen.
Es sei die Behauptung gewagt, dass wir nur das in unser geistiges und kulturelles Leben einbeziehen können, was in irgendeiner Weise zu uns spricht, woran wir mit einem Teil von uns anknüpfen können, was also imstande ist, unseren geistigen Raum zu betreten. Alles andere können wir vielleicht abstrakt wissen, wirklich bereichern wird es uns nicht. Die Aufgabe des Übersetzers (aus einem nichteuropäischen Sprachraum) besteht genau darin, den fremdkulturellen Errungenschaften das Betreten der eigenen geistigen Räume zu ermöglichen. Dabei handelt es sich um nichts Geringeres als um die Inversion des traditionellen Verständnisses vom schöngeistigen Übersetzen, wie es unsere literarische Kultur seit ihren Anfängen geprägt hat.
Diesem traditionellen Verständnis nach dient die Übersetzung eben nicht der sprachlichen Eingemeindung eines kulturell Unbekannten, Fremden. Vielmehr ist das zu Übersetzende bereits in irgendeiner Weise anerkannt, erschlossen, für gut und übersetzenswert befunden. Johann Heinrich Voß hat Homer weder entdeckt, noch hat er ihn übersetzt, weil er vorher auf deutsch nicht zu lesen gewesen wäre. Ja er hat Homer nicht einmal deshalb übersetzt, um seinem Werk einen breiteren Rezipientenkreis zu erschließen, selbst wenn dies im Nachhinein der Fall gewesen sein dürfte. Voß, der Dichter, hat Homer übersetzt, weil er diese Übersetzung als ausgezeichneten dichterischen Akt an und in der deutschen Sprache empfunden hat, als Weg, das Deutsche in ähnliche Höhen zu führen wie das Griechische. Er hat damit dem zeitgenössischen Postulat der Entwicklung einer deutschen Literatursprache genüge getan, also, wenn wir so wollen, für das Bewusstsein der Noblesse der eigenen Sprache und Kultur gearbeitet, das damals erst rudimentär entwickelt war. Fast in Vergessenheit ist dagegen geraten, dass Voß (vornehmlich aus finanziellen Gründen) auch Arabisches übersetzt hat, freilich nicht aus dem Arabischen, sondern aus dem Französischen, nämlich 1001 Nacht. An diesem Vergessen hat Voß selbst wesentlichen Anteil gehabt;(3) für ihn hatte diese Übersetzung keinen dichterischen Wert, weil sie dem damaligen Verständnis gemäß zur Entwicklung des Deutschen nichts beitragen konnte. Wenn Sie mich nun fragen wollten, ob und in welcher Weise ich mich mit Voß identifiziere, würde ich Ihnen antworten, dass ich nicht minder dem Gebot unserer Stunde gerecht zu werden suche als Voß dem Gebot seiner historischen Stunde; auch wenn sich die Vorzeichen dieses Gebots, wie angedeutet, mittlerweile umgekehrt haben.
Heutzutage erachten wir die Übersetzung nur noch in seltensten Fällen als dichterische Bereicherung, geschweige denn als Aufwertung unserer Muttersprache; dennoch gilt nach wie vor die Regel, dass das zu Übersetzende bereits anerkannt und für übersetzenswert befunden sein soll. Dies trifft auf die Gegenwartsliteratur in unseren europäischen Sprachen nicht weniger zu als auf die Neuübersetzung von Klassikern.
Die Gratwanderung nun, die ein Literaturübersetzer aus dem Arabischen und wohl auch anderen nichteuropäischen Sprachen zu bestehen hat, liegt darin, dass von ihm einerseits verlangt wird, das Fremde zugänglich zu machen und damit als ein Stück weit vertraut erscheinen zu lassen – sonst könnte es, wie gesagt, unseren geistigen Raum nicht betreten; andererseits jedoch muss er das Fremde möglichst klar in seiner Eigenständigkeit und seinem Anderssein bewahren – sonst könnte es weder in seiner ureigenen geistigen Noblesse erscheinen, noch zur geistigen Erneuerung beitragen. Rücksichtslos der Ausgangssprache zu frönen ist hier unmöglich; in der Zielsprache baden zu gehen witzlos. Das gilt nicht nur für die sprachliche Gestaltung der Übersetzung, sondern schon für die Entdeckung des Übersetzenswerten, für welche mangels kulturübergreifender Kriterien ebenfalls häufig der Übersetzer die Verantwortung übernehmen muss.
Die Verschmelzungsarbeit, die der Übersetzer aus einem fremdkulturellen Raum zu leisten hat, ist aber im Kleinen und Schöngeistigen dieselbe, die unsere Kultur als ganze in Zukunft wird leisten müssen. Und es ist dieselbe, die die meisten außereuropäischen Kulturen derzeit bewältigen müssen oder schon bewältigt haben, seit sie mit der europäischen Übermacht auf allen Gebieten konfrontiert worden sind. Während die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Folgen dieser wechselseitigen kulturellen Durchdringung oft misslich, gelegentlich auch katastrophal sind, erscheint die kulturelle Bilanz übrigens deutlich positiver. Sie äußert sich zum Beispiel in der vielbeschworenen und zu Recht vielgeliebten Hybridität etwa der indischen, der arabischen oder auch der lateinamerikanischen Literaturen, sofern sie indigene Traditionen mit einbeziehen.
Nahezu jede außereuropäische Kultur hat heutzutage auf die eine oder andere Weise Elemente der europäischen integriert. Mit den meisten gebildeten arabischen Dichtern können wir auf gleichem Niveau sowohl über die europäische wie auch über die arabische Dichtung sprechen. Mehrere Delegationen der Akademie hatten das Vergnügen, dies im Gedankenaustausch mit arabischen Dichterfreunden und in wechselseitigen Besuchen unmittelbar zu erfahren.(4) Dabei trat auch zutage, dass sich das Umgekehrte nicht so ohne weiteres sagen lässt. Die arabische Dichtung, auch die große der Klassik, zählt nicht zu unserem Bildungskanon. Allen Anwesenden dürfte aber klar sein, dass wir hier sagen müssen: noch nicht! Und ferner, dass der Prozess der Aneignung von und die Auseinandersetzung mit anderskulturellen Erbschaften (und zwar auf gesamtgesellschaftlicher Ebene, keineswegs nur in der Literatur) längst begonnen hat. Angesichts der zumeist gewalttätigen Faktoren, die diesen Prozess angestoßen haben (so stark angestoßen, dass selbst die wandlungsträgeren Elemente unserer Gesellschaft in diese Auseinandersetzung gezwungen werden), wächst der literarischen und übersetzerischen Tätigkeit bei diesem Prozess die Rolle einer unverzichtbaren Gegenstimme zu. Wenn das Fremde überwiegend in Form von Rückständigkeit, Primitivität und Brutalität in unser auf die mediale Wahrnehmung reduziertes Bewusstsein dringt, darf sich der literarische und übersetzerische Verstand nicht zu schade sein, neben der Wahrung des eigenen kulturellen Erbes auch die Wertschätzung und Entdeckung des anderen als seine Aufgabe zu verstehen.
Wenn ich Ihnen aber jetzt innig danke, so ist es nicht für das, was der Preis womöglich an solchen ins Große und Allgemeine gedachten Implikationen mit sich führt, sondern schlicht dafür, erfahren zu dürfen, dass ich mit meinen Arbeiten und Anliegen schon lange nicht mehr alleine bin.

Vielen Dank!

(1) Zitiert nach Wolfgang Geiger, »Nachwort«. In: Mircea Eliade: Der verbotene Wald. Frankfurt a.M.: Insel 1993, S. 826.
(2) Markus Groß: »Neue Wege der Koranforschung«. In: Karl-Heinz Ohlig (Hg.): Der frühe Islam. Eine historisch-kritische Rekonstruktion anhand zeitgenössischer Quellen. Berlin: Schiler 2007, S. 528.
(3) Vgl. Ernst-Peter Wieckenberg: Johann Heinrich Voß und »Tausend und eine Nacht«. Würzburg: Königshausen & Neumann 2002.
(4) Dieser Gedankenaustausch ist dokumentiert in: Ilma Rakusa / Mohammed Bennis: Die Minze erblüht in der Minze. Arabische Dichtung der Gegenwart. München: Hanser 2007 (Dichtung und Sprache; Bd. 21).