Johann-Heinrich-Voß-Preis

The »Johann-Heinrich-Voß-Preis für Übersetzung« (Prize for Translation) has been awarded by the German Academy for Language and Literature since 1958 for the »outstanding achievements in translation,« with a particular emphasis on the translation of literature into German.
The prize is awarded annually at the spring conference of the German Academy.
The Johann Heinrich Voß Prize has been endowed with €20,000 since 2002.

Rosemarie Tietze

Translator and Interpreter
Born 3/11/1944

Dabei gelingt es ihr, ihre Nachdichtungen zu einem Kunstwerk eigenen Ranges in deutscher Sprache zu machen.

Jury members
Kommission: Friedhelm Kemp, Werner von Koppenfels, Roswitha Matwin-Buschmann, Lea Ritter-Santini, Michael Walter, Hans Wollschläger

Mitglieder des Erweiterten Präsidiums

Grenzen. Eine Topographie

»... in welcher Gegend die Statt Straßburg mit ihrem hohen Münster-Thurn gleichsamb wie das Hertz mitten mit einem Leib beschlossen hervor pranget...«
Grimmelshausen, Simplicissimus

Der Blick des Einsiedlers Simplicissimus − vom Mooskopf im Schwarzwald hinab zum Rheinstrom und hinüber zum Elsaß − umreißt die Landschaft meiner Kindheit. Eine Landschaft, deren Ausrichtung sich bis heute nicht geändert hat. Das Straßburger Münster ist der Fixpunkt in der Ebene. Wenn man bei uns in Oberkirch über die Rebhügel spaziert oder am »Silbernen Sternen« vorbei, wo Grimmelshausen Wirt gewesen ist und den Simplicissimus geschrieben haben soll, hinaufsteigt zur Schauenburg, dem Ort von Grimmelshausens Wirken als Schaffner, so sucht das Auge, kaum hat man ein wenig Höhe gewonnen, unwillkürlich den Horizont ab: Ist das Münster zu sehen? Oder versteckt es sich im Dunst? Oder haben wir gar die gute Schlechtwettersicht, und Straßburg mitsamt den Vogesen scheinen so nah, als wären sie mit Händen zu greifen? Daß davor eine Grenze verläuft, offenbart die Landschaft dem Auge nicht.
Als ich in dieser Gegend aufwuchs, war an der Grenze erst einmal die Welt zu Ende. Ein Kind stört das wenig, ohnehin fühlt es sich wohler im abgegrenzten Raum. Dennoch wurde in jenen Jahren − als meine Familie übrigens ein Haus bewohnte, das einst zur Sommerresidenz des Bischofs von Straßburg gehört hatte: es soll der Pferdestall gewesen sein − in jenen Nachkriegsjahren wurde Straßburg sehr früh zum Sehnsuchtsziel. Man SAH es ja. Die STADT. Jenseits der Grenze.
In erreichbare Nähe rückte dieses Ausland vor der Haustür Anfang der sechziger Jahre. Damals war das noch ein »richtiger« Grenzübertritt mit Paßvorzeigen, strengen Kontrollblicken und entsprechend flauem Gefühl in der Magengrube: Tu ich was Unrechtes? Straßburg belohnte dann reichlich mit Gotik, Fachwerk, freier Stadtluft, französischen Buchhandlungen. Straßburgs größter Reiz aber lag in einer Verstörung, einer geradezu körperlich spürbaren SPRACHVERSTÖRUNG. Wie bestell ich den Kaffee, wie kauf ich die schwarzen Zigaretten? Trau ich mich auf schulfranzösisch? Obwohl mir die Scham kalt den Rücken runterläuft? Sicher, plump selbstherrliche Deutschrederei verbot sich von vornherein, doch mußte man deshalb aus verzagter Rücksichtnahme das Deutsche ganz vermeiden? Und wenn es auch bestimmt kein Fauxpas war, im kleinen Laden in der Rue des Orfèvres den Münsterkäs auf deutsch zu verlangen, doch dies, die Verwandtschaft der Dialekte nutzend, in betontem Badisch zu tun − grenzte das nicht an miese Anbiederung? Noch am unbeschwertesten war die heimliche Lauscherei im Café Kohler-Rehm, wo sich nachmittags die elsässischen Kaffeekränzchen trafen. Solche makellos geschminkten älteren Damen mit Lilastich im Haar kannte man in Baden nicht. Und wie sie redeten! Diese französischen Einsprengsel, dem Deutschen liebevoll anverwandelt und darum gar nicht mehr ängstigend fremd, und noch erkennbar, trotz der anderen Sprachmelodie, die vertraute Zärtlichkeit meines Heimatdialekts. Lustvolles Prickeln auf der Haut bei diesem Voyeurismus des Gehörs...
Gewiß haben Sie schon gemerkt, daß ich nicht nur Erinnerungen ausbreite, sondern längst von dem spreche, was mich hergeführt hat: vom Übersetzen. Straßburg war, sehe ich nun in der Rückschau, für mich das Übungsgelände, hier wagte ich die ersten Gehversuche auf dem Terrain des Fremden. Hebt doch alles Übersetzen damit an, daß man sich aussetzt, daß man die Andersartigkeit des Fremden aushält, ohne bänglich davonzulaufen, und zugleich im Fremden Vertrautes aufspürt, ohne es dem Eigenen einzugemeinden. Von der in Straßburg erstmals ausgelebten Sucht nach dem Fremden war es im Grunde nur ein Schritt, und ich war den »intrigierenden Reizen und Mühen der Reproduktion« verfallen. Auch wenn meine ursprüngliche Passion, das Französische, später abgelöst wurde vom Russischen.
An der Rheinbrücke zwischen Kehl und Straßburg sind die Kontrollposten heute abgebaut und die Grenzschützer − wollen wir hoffen − in den verdienten Ruhestand geschickt worden. Sobald Grenzen nicht mehr hemmen, keinen Zwang mehr ausüben, befreit das den Blick zur Wahrnehmung, daß Grenzen ja auch ihr Gutes haben. Sie markieren Innen und Außen, sperren das Grenzenlose aus und gliedern den Raum. Das Nicht-Ich verleiht dem Ich Konturen.
Vielleicht brauchen wir nach dem Niedergang des Eisernen Vorhangs und nach der Union Europas den Staat bald nicht mehr so dringend als Schutzzone. Vielleicht schärft die Freizügigkeit in Europa den Blick für andere Grenzen. Die Sprachgrenzen böten sich an. Der Mensch hat schließlich viele Identitäten, als Vater oder Sohn, Schwester oder Tante, im Beruf, als Steuerzahler, im Fotoclub. Warum sollte er nicht auch seine nationale Identität mindestens doppelt denken, als staatliche und als sprachliche. Die Sprache als eine Heimat für Denken und Fühlen, deren Grenzen anders verlaufen als die politischen. Eine Heimat im rein kulturellen Sinne, ohne ethnische, völkische, nationalstaatliche oder was weiß ich für unselige Folgerungen. Mir persönlich steht ein Basler von Grammatik und Sprachemotionen her näher als ein Hamburger, aber was hindert mich das, im Basler einen Bürger der Schweiz zu sehen.
Deutschland bewegt sich seit Jahrhunderten »diffus und ahnungsvoll« (Alexander Kluge) in ständig wechselnden Grenzen, und lange Zeit wirkte die Sprache, trotz der vielen regionalen Varianten, gemeinschaftsstiftend. Wer jedoch nach der Nazizeit und den Verbrechen, die im Namen des Deutschtums begangen wurden, in den verdrucksten Fünfzigern aufwuchs, konnte eigentlich nur mit Ingrimm antideutsch reagieren. Mich wohlzufühlen in der Muttersprache habe ich erst im Ausland gelernt, am Beispiel der russischen Sprachverliebtheit. Auch jüngere Generationen finden bis heute kein herzliches Verhältnis zur eigenen Sprache. Aber womöglich gelingt ja eines Tages wieder die leichte, freudige, sinnliche Identifikation mit dem Deutschen. Zumal das Gefühlsenergien binden könnte, die dann nicht in Patriotismus zweifelhafter Prägung fließen. Und womöglich ließe sich auch jene klassische »Lust am Übersetzen« wiederfinden, die eine denkwürdige Marbacher Ausstellung für das Zeitalter von Goethe und Johann Heinrich Voss nachgewiesen hat.
Vielleicht gewöhnen wir uns mit der Zeit daran, Europa in seinen Sprachgrenzen zu denken. Dazu müßten diese zunächst jedoch wirklich anerkannt werden. Und nicht heruntergespielt, vertuscht und »weggedrückt«, wie das im Alltag ständig passiert. Beispiele? Sie kennen diese blamabel unsinnigen Angebote − »Italienisch in 20 Tagen«; das Pidgin-Englisch, mit dem wir uns notgedrungen durch die Welt bewegen, gilt manchem tatsächlich als »Sprache«, nicht als Krücke; man »kann« Spanisch, wenn man sich gerade mal mit dem Kellner zu verständigen weiß; ausländische Filme müssen, bitte schön, lupenrein synchronisiert sein; noch unlängst verbannte man die Übersetzer am liebsten ins Impressum der Bücher − angeblich wollte der Leser nicht mit der Nase drauf gestoßen werden, daß zwischen ihm und dem Autor noch eine vermittelnde Instanz steht; sowieso weiß jeder Übersetzer ein Lied zu singen von unsittlichen Anträgen wie: Ach, diese 30 Seiten schaffen Sie doch übers Wochenende! Nein, unser Alltagsbewußtsein »mag« Sprachgrenzen nicht, sie stören, sind nichts als lästig. Zugleich weiß es hanebüchen wenig davon, was SPRACHE ist.
Dabei heißt Sprachenvielfalt doch Kulturvielfalt und somit − Reichtum. Babel ist (sieht man einmal vom Turmbau ab) ein Glücksfall, die Sprachverwirrung kein Fluch, sondern ein Segen. Und das Neue Testament »korrigiert« ja auch den Mythos von Babel im Pfingstwunder. Nach dem Dreißigjährigen Krieg, in einer anderen Nachkriegszeit also, wies Landsmann Grimmelshausen mit eben dieser Argumentation auf das friedenstiftende Tun der »Sprachkundigen« hin:

Dann gleichwie GOtt zu Nimrods Zeiten durch Zerteilung der Sprachen die Menschen voneinander trennet, daß sie den vorhabenden gewaltigen Turn zu Babylon nicht auszubauen vermöchten, also hat Er nach der Himmelfahrt unsers Erlösers durch Sendung seines H. Geists den Aposteln die Gab gegeben, mit mancherhand Zungen zu reden, damit sie durch solches Mittel die Menschen wieder in Einigkeit zusammen bringen und Ihm also die chrisdiche Kirch auferbauen könnten.

Falls wir die Sehnsucht nach einer »universalen Sprache« überhaupt gelten lassen wollen, dann bitte die nach der »Sternensprache«, nach dem »Krimgotischen« der Dichter.
In einem Sprachkontinent Europa sind jedenfalls WIR die Grenzwächter. Die Übersetzer. Wir überwachen den Transfer, wir legen fest, welche Zölle zu entrichten sind, damit das Importgut unversehrt im Deutschen ankommt. Weiter trägt die Metapher allerdings nicht. Schließlich werden wir nicht, sprachpflegerischen Puristen gleich, unbarmherzig jedes Wort verfolgen, das heimlich durch den Maschendraht schlüpft, werden wir nicht jede geschmuggelte Redewendung umgehend über die Grenze zurückschicken. Unser Grenzschutz ist eher topographischer Natur. Wir schreiten die Ränder ab, vermessen stets erneut das sprachliche Hoheitsgebiet, und vor allem kümmern wir uns darum, daß der Grenzstreifen, jenes weglose Niemandsland zwischen den Sprachen, nicht zu breit wird. Zugegeben, viel zu viele Übersetzungen bleiben im Morast dieses Niemandslands zwischen den Sprachen hängen; zur Rechtfertigung können wir immerhin Vorbringen, daß wir bei unserer Arbeit auf fatale Weise allein gelassen werden.
Wollte man das europäische Zusammenwachsen daran messen, wie Europa mit seinen literarischen Übersetzern umspringt, sähe es düster aus. Denn sobald es um ein komplexes Gebilde der Wortkunst geht, um »Literatur« im engeren Sinne, darf der Übersetzer in den meisten Ländern seine Arbeit auch noch selbst finanzieren. Dieser SKANDAL wird mit beispielloser Hartnäckigkeit nicht zur Kenntnis genommen; ich kann hier nicht sprechen, ohne ihn zu erwähnen. Da Sie jetzt sicher meinen, ich übertreibe, sollte ich vielleicht die Taktlosigkeit begehen und einmal laut und deutlich und öffentlich sagen: Die Übersetzung, für die Sie mich heute wohl vor allem auszeichnen, Andrej Bitows Mensch in Landschaft, habe ich zu gut zwei Dritteln aus eigener Tasche bezahlt; knapp viereinhalb Monate konnte ich meinen Lebensunterhalt aus dem bestreiten, was ich für die Übersetzung einnahm, gearbeitet habe ich an dem Buch jedoch vierzehn Monate. Als ob wir Übersetzer noch heute für den babylonischen »Sündenfall« büßen müßten...
Sie könnten mir nun entgegenhalten, ich sei ungenügend informiert, fördere doch selbst die Europäische Gemeinschaft inzwischen Übersetzungen. Aber das ist ja der nächste Skandal: antragsberechtigt sind − Verleger; Zuschüsse bezahlt bekommen − Verleger; die Höhe der Zuschüsse »beläuft sich auf 100 % des nach den in dem betreffenden Land marktüblichen Bedingungen ausgehandelten Übersetzerhonorars.« Nicht die Spur einer Einsicht, daß von »Markt« auf diesem Gebiet nicht die Rede sein kann und die »üblichen Bedingungen« oft genug bedeuten, daß der Übersetzer seinen Beruf durch andere Familienmitglieder oder andere Brotarbeit subventionieren muß.
Das ist Wirtschaftsförderung, die sich um die kulturellen Folgen nicht schert. Verhudeltes Übersetzungsdeutsch aber schadet vor allem uns, den Lesern; uns kleistert es das Gehirn zu, verhunzt es die Sprache. Und wo die Sprache verkommt, taugt sie nicht mehr zur Verständigung.
Nähme man Sprache und literarischen Grenzverkehr ernst in Deutschland, gäbe es längst einen Fonds, der den Übersetzern durch Projektstipendien hilft. Ein bis zwei Millionen pro Jahr würden reichen. Eine Summe, bei der wohl gar nicht die Höhe das Handicap darstellt. Eher, daß sie zu gering ist, um in der Nachbarschaft von Subventionsempfängern wie Opernhäuser oder Museen überhaupt wahrgenommen zu werden...
Natürlich fühle ich mich bei dieser Philippika jetzt ein wenig unwohl. Wie vor meinen Studenten, wenn den Unmut über die Abwesenden − die Anwesenden abkriegen. Und wie ich auf den Widerspruch der Studenten reagiere, möchte ich es auch hier tun: Bitte, sagen Sie es denen weiter, die es angeht!
Sagen Sie weiter, was für ein hübsches Projekt es sein könnte, wenn das in Kehl und anderswo durch die Aufhebung der Grenzkontrollen eingesparte Geld umadressiert würde und in einen Fördertopf für die literarischen Grenzschützer, die Übersetzer käme. Auch eine Konversion...
Das Wort GRENZE stammt übrigens aus dem Slawischen (russ. »graniza«). Bevor es sich durchsetzte, war fur die Scheidelinie zwischen Eigenem und Fremdem eine Zeitlang auch das Wort »Frontier« in Gebrauch. »Gemeindeutsch« − belehrt uns Kluges Etymologisches Wörterbuch über das Wort »Grenze« − »gemeindeutsch wird es erst durch Luther, der es liebt.«
Nachdem ich so im Sprachgebrauch Luthers, dieses Fixsterns am deutschen Übersetzerhimmel, den eigenen Weg vom Romanischen zum Slawischen, von »frontière« zu »graniza«, aufs schönste vorgezeichnet gefunden habe, möchte ich kurz zu Biographischem zurückkehren. Und noch einen anderen Triangulationspunkt nennen, der mich in Zeit und Raum festhält.
Mein Vater Wilhelm Tietze, der Vermessungstechniker hatte werden wollen, statt dessen die Topographie Rußlands als Soldat durchmaß, ist wahrscheinlich am 14. Januar 1945 an der Ostfront gefallen. Zumindest fehlt von diesem Datum an jedes Lebenszeichen.
In wenigen Tagen wird der Krieg seit 50 Jahren zu Ende sein.
Und Sie ehren mich heute, hier in Straßburg, für meine Übersetzungen aus dem Russischen.
Ich danke Ihnen für den Johann-Heinrich-Voss-Preis.