Johann-Heinrich-Voß-Preis

The »Johann-Heinrich-Voß-Preis für Übersetzung« (Prize for Translation) has been awarded by the German Academy for Language and Literature since 1958 for the »outstanding achievements in translation,« with a particular emphasis on the translation of literature into German.
The prize is awarded annually at the spring conference of the German Academy.
The Johann Heinrich Voß Prize has been endowed with €20,000 since 2002.

Rolf-Dietrich Keil

Translator
Born 8/1/1923

Ihm ist es zu verdanken, daß ein großes Werk der russischen Literatur für das deutsche Publikum lesbar geworden ist.

Jury members
Kommission: Jan Aler, Roger Bauer, Hermann Lenz, Horst Rüdiger, Elmar Tophoven

Mitglieder des Erweiterten Präsidiums

Warum ich Puschkin übersetze

Nicht ohne eine gewisse Beklemmung richte ich das Wort an Sie. Es ist schon ein eigenartiges Gefühl, nach soviel überschwenglichem Lob auch selbst noch etwas sagen zu müssen. Andererseits fühle ich mich aber auch zutiefst verpflichtet, meinen Dank öffentlich zu bekunden. Er gilt zuerst der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, sodann allen, die meine Onegin-Übersetzung von Anfang an, das heißt seit 1959, durch Anteilnahme und Kritik gefördert haben, bis zu ihrem Erscheinen 1980 und darüber hinaus. Unter ihnen möchte ich namentlich Herrn Professor Rothe aus Bonn danken, der sich nicht nur für die Drucklegung eingesetzt, sondern meine Arbeit auch in die »Schriften des Komitees der Bundesrepublik Deutschland zur Förderung der Slawischen Studien« aufgenommen hat und damit eine um Kommentar und Bibliographie erweiterte editio maior ermöglichte, die − ebenso wie die Taschenbuchausgabe − vom Wilhelm Schmitz Verlag in Gießen publiziert wurde (mit einem Mut zum Risiko, den damals kein renommierter Literatur-Verlag aufbringen mochte).
Besonderer Dank gebührt Herrn Professor Etkind aus Paris, der seine ganze Sachkompetenz und Eloquenz aufgeboten hat, um meine Bemühungen in ein günstiges Licht zu rücken. Nicht zuletzt habe ich ihm auch dafür zu danken, daß ich die ewige Problematik der dichterischen Übersetzung, die Frage nämlich, ob es sie denn überhaupt geben dürfe, nicht ein weiteres Mal zu diskutieren brauche.
Erlauben Sie mir standessen ein paar Anmerkungen zum Thema: Warum ich Puschkin übersetze, oder besser: zu übersetzen versuche. Dahinter verbirgt sich natürlich die allgemeinere Frage nach der Motivation dichterischer Übersetzung. Ich glaube, daß dabei ein gewisses histrionisches Bedürfnis im Spiel ist, das Bedürfnis nämlich, eigenes Kunsterleben aktiv nachzuvollziehen und weiterzuvermitteln, wie es auch der ausübende Musiker oder der Schauspieler empfinden mag. Wer für Derartiges anfällig ist, den drängt es bisweilen eben nicht nur, »den Urtext aufzuschlagen« − das tut der Philologe auch sondern ihn »in sein geliebtes Deutsch zu übertragen«, wobei dieser Drang als solcher durchaus problematisch sein kann. Gerade Faustens Übersetzungsvarianten des johanneïschen Textes − »Im Anfang war die Kraft; im Anfang war der Sinn; im Anfang war die Tat« − führen ja offensichtlich in die Irre.
Nicht zufällig hat einer der größten Übersetzer-Dichter, Wassili Schukowski (1783-1852), zu dieser Szene angemerkt, Faust habe durch seinen Zweifel − »Ich kann das Wort so hoch unmöglich schätzen« − bereits vor dem Teufelspakt den Abfall von Gott vollzogen und sein Seelenheil verwirkt. Schukowski sagte das gewiß als orthodoxer Christ. Aber er hätte es als Dichter und Übersetzer ebenso sagen können. Von ihm, der Goethes und Schillers berühmteste Balladen nach Rußland verpflanzte, der Puschkins einziger Lehrmeister in der Dichtkunst war, stammt die Formulierung: »Des Dichters Taten sind seine Worte«. Und für jeden, der sich lesend, deutend, übersetzend mit nichtbanaler Sprache befaßt, muß gelten: Im Anfang war und ist und bleibt das Wort − auch wenn Wort hier nicht als Hypostase der Gottheit verstanden wird, sondern nur als pars pro toto für den jeweiligen Text. Daß solche Wort-Treue nicht äußerlich-oberflächlich begriffen werden, daß sie gerade nicht zu der von Nabokov als Übersetzungsideal propagierten Buchstäblichkeit (literalness) führen dürfe, war von jeher meine tiefe Überzeugung. Ihr entsprang, unbewußt, schon meine früheste einschlägige Erfahrung − noch während der Schulzeit: Als Primaner des »Berlinischen Gymnasiums zum Grauen Kloster« hatten wir einmal in einer griechischen Klassenarbeit ein Dutzend Verse aus der »Ilias« zu übersetzen − in Prosa, versteht sich. Als ich das pflichtgemäß hinter mich gebracht hatte, empfand ich zum erstenmal ein lebhaftes Ungenügen an der vielleicht buchstäblich richtigen, aber nüchtern-holprigen Wiedergabe solch eines klangvoll strömenden, rhythmisch gegliederten Textes, und, da noch Zeit war, übertrug ich das Nur-Übersetzte gleich noch einmal − in deutsche Hexameter. Und ich schätze mich glücklich, gerade heute bekennen zu dürfen, daß meine erste Versuchung und mein erster Versuch auf dem Felde der künstlerischen Übersetzung im Zeichen von Johann Heinrich Voss stand, ohne dessen Vorbild ich Derartiges weder gewagt noch zustandegebracht hätte.
Goethe hat in seinen wiederholten Würdigungen der Leistung von Voss zwei Charakteristika hervorgehoben: die Versatilität seiner Sprache und die Tenazität seines Charakters; Wendigkeit und Beharrlichkeit − scheinbare Widersprüche, aber unentbehrliche Voraussetzungen jeder größeren Übersetzung. Hören wir in diesem Zusammenhang noch einmal, was Goethe in den »Noten und Abhandlungen zum West-Östlichen Divan« im Kapitel »Übersetzungen« zu sagen hat:

»Der nie genug zu schätzende Voß konnte das Publikum zuerst nicht befriedigen, bis man sich nach und nach in die neue Art hinein hörte, hinein bequemte. Wer nun aber jetzt übersieht, was geschehen ist, welche Versatilität unter die Deutschen gekommen, welche rhetorische, rhythmische, metrische Vorteile dem geistreich-talentvollen Jüngling zur Hand sind, wie nun Ariost und Tasso, Shakespeare und Calderón als eingedeutschte Fremde uns doppelt und dreifach vorgeführt werden, der darf hoffen, daß die Literaturgeschichte unbewunden aussprechen werde, wer diesen Weg unter mancherlei Hindernissen zuerst einschlug.«

Als diese Worte geschrieben wurden, drückte Puschkin noch die Schulbank, ließ sich von den poésies fugitives eines Gresset oder Parny anregen und imitierte französische Ossian-Imitationen. Heute steht er − als einziger Repräsentant der russischen Poesie (nicht der Prosa!) − ranggleich neben den von Goethe genannten größten Dichtern des Abendlandes. Auch das war ein Grund, Puschkin zu übersetzen. Ein weiterer war für mich − zugegeben paradoxerweise − die außergewöhnliche Schwierigkeit eines solchen Unterfangens. Sie rührt zu einem wesentlichen Teil wohl daher, daß Puschkin nicht, wie Ariost und Tasso, vorwiegend Epiker, nicht, wie Shakespeare und Calderón, vorwiegend Dramatiker, sondern daß er − obgleich er in allen Gattungen Meister- und Musterhaftes geschaffen hat − ganz vorwiegend Lyriker ist. Lyrik aber, oder, wie er selbst im »Onegin« sagt, der »Bund von Zauberklang, Gefühl und Sinn«, ist von aller Dichtung das am allerwenigsten Übersetzbare. Ohne Zweifel hat aber Puschkins umfangreichstes episches Werk, eben der »Onegin« − wie sein Untertitel »Roman in Versen« andeutet − auf weite Strecken lyrischen Charakter, nicht selten in selbstironisierender Brechung.
Die naive Freude am Nachbilden wurde somit durch die ihr entgegenstehenden Schwierigkeiten einerseits stets aufs neue in Frage gestellt, andererseits aber auch ständig herausgefordert und wachgehalten. Hinzu kam das Bewußtsein von Puschkins Weltrang und das Bedauern, um nicht zu sagen: die Verzweiflung darüber, daß dieser Rang bei uns so gänzlich unbekannt geblieben war. Trotzdem hätten all diese Beweggründe vermutlich nicht ausgereicht, angesichts von zehn schon vorliegenden Versuchen, noch ein weiteres Mal eine Übersetzung des »Onegin« zu unternehmen und auch zu Ende zu bringen.
Dazu bedurfte es einer zusätzlichen, noch stärkeren Motivation. Sie lag für mich in einem Spezifikum, das Puschkin als Gegenstand einer heutigen Neuübersetzung wesentlich von Tasso, Shakespeare oder jedem anderen westeuropäischen oder auch antiken Autor unterscheidet: Puschkin ist nämlich nicht nur der unumstritten größte Dichter russischer Zunge, den man wegen seiner absoluten Geschmackssicherheit und wegen der ebenso unnachahmlichen wie eingängigen Harmonie seiner Verse immer wieder mit Mozart verglichen hat, - er ist darüber hinaus ein bis heute machtvoll fortwirkendes Grundelement russischer Geistigkeit und Humanität, ohne dessen Kenntnis unser Bild von Rußland sehr unvollständig und daher falsch bleiben muß.
Schon zu Puschkins Lebzeiten schrieb sein zehn Jahre jüngerer Bewunderer Gogol: »Puschkin ist ein außerordentliches Phänomen, möglicherweise das einzige Phänomen des russischen Geistes: es ist der russische Mensch in seiner Entfaltung, so wie er vielleicht in zweihundert Jahren erscheinen wird.« An diese Definition Gogols aus dem Jahre 1832 knüpfte Dostojewski in seiner berühmten Puschkin-Rede von 1880 ausdrücklich an, als er, anhand von Gestalten aus dem Werk Puschkins, darunter aus dem »Onegin«, seine Idee von der im Russen angelegten »Allmenschlichkeit« entwickelte. Weitere vier Jahrzehnte später, 1921, sagte der Dichter Alexander Blok:

»Unser Gedächtnis bewahrt von Kindheit an einen heiteren Namen: Puschkin. Dieser Name, dieser Klang erfüllt viele Tage unseres Lebens. Da gibt es die zwielichtigfinsteren Namen von Kaisern, Feldherren, Mordwaffenerfindern, Folterknechten und von Märtyrern des Lebens. Und daneben dieser leichte Name: Puschkin. − Puschkin verstand es, seine Schöpferbürde so leicht und heiter zu tragen, obwohl die Rolle des Dichters weder leicht noch heiter ist, sondern tragisch. Puschkin spielte seine Rolle majestätisch, sicher und frei, als großer Meister, und dennoch krampft sich uns, beim Gedanken an ihn, manchmal das Herz zusammen: der festtägliche Triumphzug des Dichters, der doch dem Äußeren gegenüber wehrlos war, denn es ging ihm um ein Inneres, um Kultur, − dieser Zug wurde allzuoft durchkreuzt von Leuten, denen »ein Topf im Ofen mehr galt als ein Gott«. So kennen wir Puschkin, den Menschen, Puschkin, den Freund der Monarchie, Puschkin, den Freund der Dekabristen, aber all das verblaßt vor dem Einen: Puschkin, dem Dichter.«

Als Blok diese Puschkin-Rede hielt, die er überschrieben hatte: »Von der Bestimmung des Dichters«, war er schon vom Tode gezeichnet. Er starb bald darauf, nicht nur an materiellem Mangel und physischer Krankheit, sondern, wie er sagte, an fehlender Luft zum Atmen. Inzwischen sind weitere sechs Jahrzehnte vergangen, ohne daß seine Worte über Puschkin etwas von ihrer Bedeutung eingebüßt hätten. Freilich wurde das bisher fast nur in Rußland und von Russen empfunden. Der Ruhm des Dichters Puschkin schien an den Grenzen seiner Sprache halt zu machen. Außerhalb dieser Grenzen wurde die Kunde von seiner Größe und Einmaligkeit staunend vernommen, aber nicht eigentlich geglaubt. Was immer die Gründe dafür sein mochten, die Folgen sind, meiner Überzeugung nach, nicht nur bedauerlich, sondern vielleicht sogar verhängnisvoll: ohne die Kenntnis jener Komponente des Russischen, die Puschkin heißt, fehlt uns ein Wesentliches zum Verständnis Rußlands und seiner inneren Kultur, kennen wir eben vor allem jene zwielichtig-finsteren Namen, von denen Blok sprach, und deren Kette seither nicht abgerissen ist. Daß es daneben und darüber den leichten und heiteren (und dennoch tragischen) Namen Puschkin gibt, der für Russen der Größte ihrer Sprache ist und bleibt, − dies bewußt und glaubhaft zu machen, war für mich als Übersetzer die stärkste Motivation. Und kaum ein anderes Werk dürfte geeigneter sein, den Dichter und den Menschen Puschkin kennenzulernen, als sein Versroman »Jewgenij Onegin« − sein umfangreichstes, vielleicht bedeutendstes, jedenfalls aber, neben der eigentlichen Lyrik, persönlichstes Werk.
Die hohe Anerkennung, die meiner Übersetzung dieses Werkes durch die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung zuteil geworden ist, läßt mich hoffen. Vor zwei Jahren hatte Lew Kopelew, der Träger Ihres Friedrich-Gundolf-Preises von 1980, meiner Übersetzung eine Rezension gewidmet, die er überschrieb: »Puschkin erreicht Deutschland«. Ich kann nur wünschen, daß er Recht behält.