Johann-Heinrich-Voß-Preis

The »Johann-Heinrich-Voß-Preis für Übersetzung« (Prize for Translation) has been awarded by the German Academy for Language and Literature since 1958 for the »outstanding achievements in translation,« with a particular emphasis on the translation of literature into German.
The prize is awarded annually at the spring conference of the German Academy.
The Johann Heinrich Voß Prize has been endowed with €20,000 since 2002.

Hans-Horst Henschen

Translator
Born 21/9/1937

... der durch seine Übertragungen anspruchsvoller Werke moderne französische Literatur, Philosophie und Geschichtsschreibung dem deutschen Publikum bis in die Feinheiten des Stils hinein erschlossen hat...

Jury members
Kommission: Joachim Kalka, Friedhelm Kemp, Werner von Koppenfels, Roswitha Matwin-Buschmann, Lea Ritter-Santini, Michael Walter, Hans Wollschläger

Mitglieder des Erweiterten Präsidiums

Laudatory Address by Klaus Bartenschlager

Ein kundigster Übersetzer

Herr Präsident, meine Damen und Herren, lieber Horst.
Aus der Zeit meines Studiums an der Münchener Universität ist mir ein Bild gegenwärtig: Zwischen Universität und Bayerischer Staatsbibliothek immer wieder ein Hüne auf einem Fahrrad, bepackt mit einer einschüchternd großen Aktentasche, prall gefüllt mit Büchern. Er mußte jemand besonderer sein, aber wer? Anzusprechen wagte ich ihn nicht. Als ich Hans-Horst Henschen zwei Jahrzehnte später kennenlernte, waren Fahrrad und Büchertasche noch immer seine Attribute. Der Name war mir da bereits geläufig als der eines sorgfältigen Rezensenten in überregionalen Zeitungen der Art, die man früher einmal Intelligenzblätter nannte, und als der Name des Herausgebers der Reihe »Supplemente« im Fink-Verlag, in der − mehrheitlich in Übersetzungen − Semiotiker und Strukturalisten erschienen. Es war die Zeit, in der sich einige Kollegen in der Münchener Anglistik − unter ihnen Christian Enzensberger und Werner von Koppenfels − Gedanken über das Ob und das Wie einer Ausbildung von Literaturübersetzern machten. So nahm ich jetzt vor allem den Übersetzer Henschen wahr, den ich seither zu bewundern gelernt habe.
Die Einladung der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, ihm als dem diesjährigen Johann-Heinrich-Voß-Preisträger mit einer Laudatio öffentlich zu gratulieren, ist mir deshalb eine Freude − freilich auch ein Problem: Wie lobt man einen Freund, der mit Auskünften über sich und seine Arbeit geizt, und dem Lob, und gar öffentliches, peinlich ist. Ich vermeide jedenfalls den hohen Ton, den die Rhetorik seit alters für die Gattung der Preisrede empfiehlt, und verberge mein Lob zunächst hinter einigen Überlegungen zu dem heute vergebenen Preis.
Die Ehrung eines Übersetzers unterschiedlichster essayistischer und wissenschaftlicher Texte stellt in der fast vierzigjährigen Geschichte des Voß- Preises ein Novum dar, denn außer den Übersetzern und Herausgebern jeweils eines Autors − eines antiken Redners, eines mittelalterlichen Theologen und eines modernen Philosophen − sind nur Übersetzer von Dichtung und schöner Literatur im engeren Sinne gewürdigt worden. Daß diese Preisvergabe in eine Tagung fällt, deren Thema die literarische Übersetzung ist, deute ich deshalb nicht ironisch, sondern als eine weite Auslegung des Literaturbegriffes durch die Jury und auf jeden Fall als dezidierte Öffnung des Voß-Preises für die Übersetzung von Gattungen der Prosa, die − originalsprachlich vorbildlich gepflegt − von der Akademie durch den Johann-Heinrich-Merck-Preis für Kritik und Essay und den Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa längst in den literarischen Adelsstand erhoben sind. Trotz einer glanzvollen Geschichte seit Lessing und Herder hat essayistische Prosa in Deutschland ja nicht die selbstverständliche literarische Anerkennung erlangt wie in Frankreich und England, wo der Essay seit seinen Anfängen mit Montaigne und Bacon hohe Wertschätzung genießt, wo er sich als Medium der kritischen Öffentlichkeit und der Wissenschaft etabliert hat und wo seine Zugehörigkeit zur jeweiligen Literatur nicht in Frage steht.
Die »spießige Geringschätzung« (Hans Egon Holthusen) des Essay in Deutschland hat natürlich Folgen für die Übersetzung essayistischen Schrifttums. Das Bewußtsein für die Übersetztheit eines Textes ist bei Lesern ohnehin schwach ausgeprägt: Übersetzungen werden für gewöhnlich als Originale gelesen. Die Übertragung schöner Literatur hat zwar in den letzten Jahren durch spektakuläre Kontroversen, aber auch durch bedeutende Neuübersetzungen wichtiger Werke einige Aufmerksamkeit in den Feuilletons gefunden, doch gilt das für die Übersetzungen essayistischer oder wissenschaftlicher Werke kaum. In mehreren ausführlichen Besprechungen der von Hans-Horst Henschen übersetzten späten Bücher von Claude Lévi-Strauss fand ich nur eine einzige Bemerkung zur Übersetzung, und zwar als Parenthese in einem Satz über den Autor, »dem Hans-Horst Henschen wiederum ein kundigster Übersetzer« war. Immerhin ein Lob, das trifft − wenn auch vielleicht in einem allzu undifferenzierten Understatement. Für die sachkundige und verantwortungsvolle Kritik solcher Übersetzungen scheint kaum Interesse zu bestehen. Wo überhaupt publizistische Übersetzungskritik geübt wird, vertuschen nicht selten als Intuition firmierender Dilettantismus und sprachgeschmäcklerische Rechthaberei die mangelnde Sachkenntnis und die Unsicherheit des Urteils. Es gibt ja auch kaum wirkungsvolle normbildende Instanzen jenseits der »Produktionsgemeinschaft« von Übersetzern und Verlagen. Nur sie stellen die verantwortungsvolle wertende Frage nach der Qualität, die die moderne deskriptive Übersetzungswissenschaft mangels allgemeinverbindlicher theoretischer Fundierbarkeit nicht mehr stellen will.
In solcher Situation ist der heute verliehene Preis nicht nur Bestätigung und Ermutigung für den Übersetzer, der für gewöhnlich in einem »schalltoten Raum« (D. E. Zimmer) arbeitet, nur selten für seine Leistung gelobt, ja meist nicht einmal wahrgenommen wird. Der Preis lenkt darüber hinaus die öffentliche Aufmerksamkeit auf die sprachliche Bedeutung und den literarischen Rang der Übersetzung essayistischer Texte und setzt durch das Beispiel der gewürdigten Übersetzungen Maßstäbe der kritischen Beurteilung. Daß die Akademie in diesem Bestreben nicht alleine steht, zeigt die Stiftung eines Preises fur Übersetzungen wissenschaftlicher und essayistischer Prosa durch den C. H. Beck-Verlag München.
Das Übersetzen, von dem wir hier reden, heißt, die Interpretation eines fremdsprachigen Textes in der Muttersprache zu formulieren. Ein Übersetzer muß also in ganz emphatischem Sinne lesen, d.h. verstehen und schreiben können. Hans-Horst Henschen ist Übersetzer. Aber er ist nicht nur Übersetzer und wohl gerade deshalb ein so guter Übersetzer. Als er 1972 sein erstes Buch überträgt, hat er ein Studium der Germanistik, der Musikwissenschaft und der Philosophie in Göttingen, Wien und München hinter sich. Er hat als Autor und Redakteur an Kindlers Literatur-Lexikon mitgearbeitet, hat sich erste Sporen als Literaturkritiker verdient und eine Lektorenstelle bei Rowohlt angetreten. Die Lust an Sprache und Literatur und eine entsprechend breite Leseerfahrung, die vielfältige Bildung des Wissenschaftlers, die Akribie des Philologen, der geschärfte Blick des Redakteurs und Lektors fur die Richtigkeit und Stimmigkeit von Texten, das kritische Lesen und Schreiben des Rezensenten und schließlich das essayistische Schreiben des Publizisten − all dies zusammen bildet die Basis für seine erfolgreiche Übersetzertätigkeit. Denn die verschiedenen Tätigkeiten gehen über Jahre nebeneinander her und ergänzen und bereichern sich gegenseitig. Eine große Zahl von Buchbesprechungen, Nachworten und literarkritischen Essays über französische Autoren von Montaigne über Fontenelle bis Francis Ponge und viele zeitgenössische deutsche Autoren wie Achternbusch, Handke, Gert Jonke und Oskar Pastior zeigen seine zur Lust am Lesen verführende Leselust. Er diskutiert Biographien, berichtet über philosophische Tagungen und erörtert die von ihm übersetzten Autoren. Henschen erweist sich als Kritiker und Essayist von Graden, der jargonfrei, in unkonventioneller reicher Sprache, differenziert beschreibend, streng und persönlich urteilend über verschiedenste kulturelle Themen schreibt. Seine Arbeiten zeigen dabei immer wieder die scharfe Prüfung der Sprache auf ihren Realitätsgehalt hin und seine Abneigung gegen Texte, die, nach Roland Barthes, nicht meinen, was sie sagen, sondern immer nur »Ich bin Literatur!«.
Jeder Leser wird bemerken: Die Übersetzung von Philippe Ariès’ Kulturgeschichte, Claude Lévi-Strauss’ strukturalistischer Anthropologie oder Lionel Trillings Literatur- und Kulturtheorie setzt großes wissenschaftliches, kulturelles und sprachliches Wissen voraus. Wie vertraut Hans-Horst Henschen aber mit den Wegen der zeitgenössischen Geisteswissenschaften, mit Sprach- und Literaturwissenschaft, mit Semiotik, Psychologie und Soziologie, Philosophie und Anthropologie ist, und woher diese Vertrautheit rührt, zeigen vor allem seine Besprechungen und Essays. Man sieht das »Wurzelwerk« nicht, aus dem die Übersetzungen erwachsen. Nur in einem Ausnahmefall wie Fontenelles Totengesprächen geben uns umfangreiche und sorgfältig gearbeitete Anmerkungen, ein Essay über die literarhistorische Situation des Werks und ein Dossier über das Fortwirken der literarischen Form des Totengesprächs einen Eindruck von der geleisteten Hintergrundarbeit des Übersetzers. Hans-Horst Henschen ist unerbittlich im Verstehenwollen und deshalb im Recherchieren. Nicht selten macht er es selbst seinen Autoren schwer, und er darf das, weil er es sich mit ihnen nicht leicht macht. Wäre es möglich, ich glaube, er würde die Bayerische Staatsbibliothek als zweiten Wohnsitz wählen.
All dies erklärt nur zum Teil die Autorität, die seine Übersetzungen ausstrahlen, das Vertrauen in ihre Autoren, das sie vermitteln. Der andere Teil der Erklärung − nicht zu trennen von der fachlichen Souveränität − ist ihre Sprache. Mit der Denkweise verschiedener Autoren hat Henschen sich verschiedenste Sprechweisen erarbeitet. Nur in grober Verallgemeinerung kann ich die stilistische Bandbreite der streng speziellen, bald hermetischen, bald artistischen, dann wieder methodologisch reflektierenden Redeweise eines Lévi- Strauss andeuten, für die Henschen Entsprechungen genauso findet, wie für die geradezu antiwissenschaftliche Sprache des späten Roland Barthes, des »Poeten des Strukturalismus«, in seinen oft sehr persönlichen Fragmentsammlungen voller Bilder und packender Details. Henschens Übersetzungen von Aldous Huxleys Essays treffen deren intellektuellen, spielerischen Ton, ihren Witz ebenso wie ihren moralischen Ernst. Und für die Dialoge Fontenelles, mit ihrem kunstvoll lockeren Konversationston, fand er − ohne zu historisieren und ohne anbiedernd zu modernisieren − ein Deutsch, das zu lesen ein Genuß ist.
Doch genug des Lobens. Zum Schluß soll Pietro Aretino zu Wort kommen, so wie ihn Fontenelle in Hans-Horst Henschens Worten zum großen Augustus sprechen läßt − über Lobeshymnen. Aretino sagt, Lob dürften nur diejenigen spenden,

»die es ohne Eigennutz sprechen. Nur sie dürften überhaupt loben. Woher kommt es denn, daß Euer Vergil Cato so treffend gelobt hat, als er sagte, daß er den Vorsitz in der Versammlung ehrbarster Männer fuhrt, die in den Elysischen Gefilden abgesondert von den anderen leben? Daher, weil Cato tot war und Vergil, der sich weder von ihm noch von seiner Familie irgend etwas erhoffte, ihm nur einen einzigen Vers gegönnt und seine Eloge auf einen vernünftigen Gedanken beschränkt hat. Woher kommt es aber, daß er Euch zu Beginn seiner Georgica, trotz eines wahren Wortschwalls, so linkisch gelobt hat? Er bezog eine Rente von Euch. [...] Warum habt Ihr’s nicht so gehalten wie einer Eurer Nachfolger, der, sobald er an die Macht gekommen war, durch ausdrückliches Edikt verbot, jemals Verse zu seinem Lob zu schreiben?«

Augustus antwortet darauf:

»Leider! Er hatte mehr Verstand als ich. Die wirklichen Lobeserhebungen sind nicht diejenigen, die uns dargebracht werden, sondern die wir anderen abnötigen.«

Ein Übersetzer kann niemandem eine Rente aussetzen. Meine Lobeserhebungen − notgedrungen länger als ein einziger Vers des Vergil − hat Hans-Horst Henschen mir abgenötigt. Ob meine Eloge allerdings auch einen vernünftigen Gedanken enthalten hat, das mag heute er ganz allein abwägen.