Johann-Heinrich-Voß-Preis

The »Johann-Heinrich-Voß-Preis für Übersetzung« (Prize for Translation) has been awarded by the German Academy for Language and Literature since 1958 for the »outstanding achievements in translation,« with a particular emphasis on the translation of literature into German.
The prize is awarded annually at the spring conference of the German Academy.
The Johann Heinrich Voß Prize has been endowed with €20,000 since 2002.

Ernest Wichner

Translator and Writer
Born 17/4/1952

Seit 1990 erscheinen in stetem Rhythmus von ihm virtuos übertragende Werke der rumänischen Literatur...

Jury members
Iso Camartin, Elisabeth Edl, Aris Fioretos, Daniel Göske, Gabriele Leupold, Susanne Lange, Ernst Osterkamp

Laudatory Address by Lothar Müller
Literary scholar and Journalist, born 1954

Im Röhrengeflecht

Meine sehr verehrten Damen und Herren, lieber Ernest,

als André Breton 1932 seinem neuen Buch den Titel „Les Vases communicants“ gab, hatte er die Auflösung des Gegensatzes von Wirklichkeit und Traum im Sinn. Der Surrealismus spielte gern mit technischem Gerät, mit den Experimenten der Wissenschaft. Im Französischen heißt Freuds „Traumdeutung“, mit der Breton sich herumschlug, „La Science des Rêves“. Zum Glück haften die Titel nicht immer fest an den Büchern. Die kommunizierenden Röhren jedenfalls machten sich selbstständig, brachen auf nach Osteuropa und als sie dort ankamen, stellte sich heraus, dass sie auf die Traumtheorie nicht festgelegt waren. Sie erwiesen sich als mindestens so gut geeignet zur Aufnahme nachbabylonischer Sprachtheorien. Der Grund dafür war ihre Begegnung mit dem osteuropäischen Kauderwelsch.

Ernest Wichner ist zu dem bedeutenden Übersetzer geworden, der er ist, weil ihm die babylonische Sprachverwirrung und das Kauderwelsch, das ihr entspringt, lieber ist als jede Universalsprache, die den Verkehr zwischen den Zeichen und den Dingen scheinbar reibungslos regelt, lieber als jede Nationalsprache, die mit sich allein zu sein glaubt und auf ihre Reinheit pocht. Eine Übersetzungstheorie hat er nie geschrieben, das wäre ihm zu prätentiös, und doch gibt es sie , in seiner Laudatio auf Oskar Pastior, gehalten 2001 zur Verleihung des Peter-Huchel-Preises, und zwar im Kommentar zu Pastiors Buch „Der krimgotische Fächer“.

„In jenem Krimgotisch hat Oskar Pastior das betörende Kauderwelsch Osteuropas, einer mittlerweile in triste Nationalsprachigkeiten zurückgefallenen Region, in Dichtungssprache umbuchstabiert: die siebenbürgisch-sächsische Mundart der Großeltern; das leicht archaische Neuhochdeutsch der Eltern; das Rumänisch der Straße und der Behörden; ein bissel Ungarisch; primitives Lagerrussisch; Reste von Schullatein, Pharmagriechisch, Uni-Mittel- und Althochdeutsch; angelesenes Französisch, Englisch, so hat Oskar Pastior seine Sprachenmelange beschrieben. In diesem Idiom wird einer Landschafts- und Geschichtserfahrung die adäquate, eine zerstückelte, unsystematische Sprache abmodelliert.“

Und, so fügte Ernest Wichner mit Blick auf Walter Benjamins Essay „Die Aufgabe des Übersetzers“ hinzu, in diesem Hallraum entsteht die Übersetzbarkeit von Texten. Er konnte das Krimgotische Oskar Pastiors so gut würdigen, weil seine eigene Sprachbiographie Berührungspunkte mit der von Pastior aufweist. Ernest Wichner ist 1952 in Guttenbrunn bei Arad geboren, Pastior ein Vierteljahrhundert zuvor gut fünfzig Kilometer weiter östlich in Hermannstadt, dem heutigen Sibiu. An die Stelle der siebenbürgisch-sächsischen Mundart der Großeltern Pastiors rückt bei Wichner die Sprachfärbung der Banater Schwaben, denen seine Familie angehörte. Das Rumänische der Straße und das der Behörden hat er früh gehört. Eine der Voraussetzungen seiner Übersetzertätigkeit ist die tief verwurzelte Zweisprachigkeit. Aber nicht durch sie allein wurde er zum Autor und Übersetzer, sondern durch den Gebrauch, den die „Aktionsgruppe Banat“, der er als junger Mann angehörte, von der Sprache machte. Die Anthologie, in der Ernest Wichner 1992 die Texte dieser Gruppe, darunter eigene Gedichte, herausgab, trug den Titel „Ein Pronomen ist verhaftet worden“. Die Sprache, die Syntax zum Spielfeld der Selbstbehauptung gegen das Bündnis von normativer Grammatik und Macht zu machen, das war ein Grundmotiv der Gruppe, die ihr Hauptquartier in Temeswar hatte. Sie kannte die Texte der Wiener Gruppe, las den frühen Peter Handke, las Thomas Bernhard, las Oskar Pastior, der das Land bereits 1968 verlassen hatte. Die jungen Poeten, zunächst geduldet, gar mit Preisen bedacht, erlebte, dass die egalitäre Syntax und die Sprachkritik anders als im Westen, nicht lediglich Sprachspiel bleiben konnten, dass man wegen eines Pronomens verhaftet werden konnte. So wurde, wie sich später herausstellte, im Bericht des IM „Moga“ aus Gerhard Ortinaus „Moritat von den 10 Wortarten der traditionellen Grammatik“, in der Pronomen verhaftet werden, Interjektionen sich auf die Zunge beißen und Präpositionen Anzeigen erstatten, ein persönlicher Angriff auf den „Genossen Präsidenten der Sozialistischen Republik Rumäniens“ herausgelesen.

Als junger Mann, im Alter von 23 Jahren ist Ernest Wichner 1975 aus Rumänien ausgereist. Da war Ceaușescu seit zehn Jahren an der Macht, und viele seiner Freunde hatten, wie Rolf Bossert, Herta Müller oder Richard Wagner, die härtesten Begegnungen mit der Securitate noch vor sich. Daran, dass er selbst, wie Herta Müller, zugleich aus der eigenen Minderheit ausgewandert war, hat Ernest Wichner nie einen Zweifel gelassen. An die Stelle der Brauchtumspflege in der Mehrheitswelt der rumäniendeutschen Minderheit trat bei ihm und seinen Mitstreitern der Import der internationalen ästhetischen Moderne.

Fünf Jahre vor der Geburt Ernest Wichners, im Jahr 1947, wurden in Rumänien die literarischen Surrealisten verboten. Er ist nicht nur ein Kind der Nachkriegsordnung, der bipolaren europäischen Welt nach Jalta, in der die sowjetischen Kulturfunktionäre nicht vergessen hatten, dass André Breton Louis Aragon und Paul Éluard wegen ihrer Nähe zur stalinistischen Sowjetunion aus der surrealistischen Bewegung ausgeschlossen hatte. Er ist zugleich das Kind einer rumänischen Kulturszene, in der es notwendig war, den Surrealismus zu verbieten, weil es ihn in Rumänien gab, nicht als Filiale des Hauptquartiers in Paris, sondern als eigenständige osteuropäische Größe, gewachsen seit dem frühen zwanzigsten Jahrhundert. Und damit sind wir wieder bei den kommunizierenden Röhren, in denen sich westeuropäische Avantgarden und osteuropäisches Kauderwelsch begegneten. In diesem Röhrensystem bewegte sich der rumänische Dichter Gellu Naum, der 1938, im Alter von 23 Jahren im Schlepptau des Malers Victor Brauner nach Paris ging und dort André Breton kennenlernte. Da war der französische Surrealismus schon im Zerfall, der osteuropäische aber sehr vital. „Gehen wir Ameisen und Kommissare schnetzeln“, hatte der junge Gellu Naum schon vor der Begegnung mit Breton geschrieben.

Als er nach Westberlin kam, studierte Ernest Wichner Germanistik und Politikwissenschaft an der Freien Universität, aber wichtiger dürfte für seine Autorschaft die Privatuniversität gewesen sein, in der er Oskar Pastior begegnete, der ebenfalls in Westberlin lebte. 2006, im Todesjahr Pastiors, gab Ernest Wichner die deutsche Gesamtausgabe der Gedichte Naums heraus. Die meisten hatte Pastior übertragen, das Langgedicht in Perosa „Mein müder Vater. Ein Pohem“ mit der Anfangszeile „Mein müder Vater gebrauchte das Blick-Denken“ er selbst. Und dazu eines der hintersinnigsten Beispiele für das unpräteniöse Spiel des osteuropäischen Surrealismus mit den Formaten und Readymades der Alltagskultur. Es heißt „Der Vorzug der Vertebrae“ und sieht aus wie eine aus dem Archiv gezogene Seite mit illustrierten Werbeanzeigen der Bekleidungsindustrie des späten neunzehnten oder frühen zwanzigsten Jahrhunderts. Die Preise, Maße und Bestellnummern sind erhalten. Nur die Produktbeschreibungen sind gelöscht. An ihre Stelle treten Minierzählungen, Aphorismen, Meditationen über Buchstaben. „Und die Knochen verrosteten gleichgültig gegenüber allem was sich darüber befand“ steht unter der Livree eines Lakaien, der Weste eines Dandys, der Arbeitskleidung eines Chauffeurs. Zuvor schon hatte Wichner ein Fragment aus Naums Text „Medium“ übersetzt, ein Prosastück über das Unbehagen an einem Surrealismus, der nichts ist als Literatur, aus dem Jahr 1945: „Ich bewundere jene menschen, die, den Magiern gleich, mit einigen Wörtern, einigen Strichen grausame Bewusstseinskrisen auslösen, jene Menschen, die au der Straße Dichter anhalten, um ihnen in die Ohren zu brüllen: verzichten Sie auf die Literatur, die Athleten genau in dem Augenblick anhalten, da sie den Diskus losschleudern wollen, und fragen: wozu?“ „Gelebter Surrealismus“ heißt Ernest Wichners konzises Porträt des Dichters Gellu Naum, der bei Kriegsausbruch 1939 aus Paris nach Rumänien zurückkehren musste, wo er bis zu seinem Tod 2001 lebte.
Wie jeder Übersetzer hat Ernest Wichner Aufträge. Er hat aber zugleich und vor allem ein Projekt. Es besteht zum einen darin, die Gellu Naum-Linie, das zwischen Buchstabengrammatik und Lautgrammatik mäandernde Kauderwelsch der ästhetischen Moderne in der rumänischen Literatur seit dem frühen zwanzigsten Jahrhundert zur Geltung zu bringen. Und zum zweiten darin, den Hallraum der osteuropäischen Landschafts- und Geschichtserfahrung sichtbar zu machen, von dem er in der Laudatio auf Oskar Pastior gesprochen hat. In diesem Hallraum steht Ana Blandianas Roman „Die Applausmaschine“, geschrieben in den letzten Jahren vor 1989 unter Publikationsverbot, in dem eine Nervenheilanstalt zum Modell einer Unterdrückungsmaschinerie wird, der die Insassen zuarbeiten, oder Cătălin Mihuleacs Roman „Oxenberg und Bernstein“, den er trotz Bedenken gegen den allzu burlesk-frivolen Stil übersetzte, weil ihm der historische Stoff so wichtig war, die Ermordung Tausender rumänischer Juden beim Pogrom von Jassy im Sommer 1941.

Ernest Wichner ist selbst ein System kommunizierender Röhren, nur dass eben das Wort „System“ schlecht zu ihm passt. Sprechen wir also von Röhrengeflecht, weil darin die Elastizität der Einzelröhren anklingt. Es wird aktiv, wenn er am Schreibtisch sitzt und die imponierend vielen Wörterbücher konsultiert, über die er verfügt. Das Röhrengeflecht verbindet den Übersetzer mit dem Autor von Gedichten und Prosa, mit dem Ausstellungsmacher und Kurator, der 1988, als sein Gedichtband „Steinsuppe“ erschien, ans noch junge Berliner Literaturhaus ging, das er dann von 2003 bis 2017 leitete. Es verbindet ihn mit dem Verfasser eines ganzen Kompendiums erhellender Nachworte auch zu Büchern, die er selbst nicht übersetzt hat wie Liviu Rebreanus Roman „Der Wald der Gehenkten“ aus dem Jahr 1922 über einen aus Siebenbürgen stammenden rumänischen Leutnant, der uns unweigerlich in den Sinn kommt, wenn wir in Manfred Peter Heins Sammlung mit Gedichten der osteuropäischen Avantgarde zwischen 1910 und 1930 Ernest Wichners Übersetzung von Ion Vineas „Der Traum des Gehenkten“ lesen, mit einer Mittelstrophe, deren letzter Vers für deutsche Ohren an Gedichte von Bertolt Brecht erinnert: „Aufgehängt an Sternen mit dem Faden / wiegt sich der Gehenkte / bis zum Morgen überm gleichen Zaun, / ward erleichtert von der Liebe wie vom Leben / und das Hängen fühlt er kaum.“

Walter Benjamins Gedanken vom Nachreifen des Originals in der Übersetzung hat sich Ernest Wichner zu eigen gemacht, aber nicht im Sinne der Selbsterhöhung des Übersetzers, sondern als strenge Aufgabe. Die Vorstellung des Übersetzens als Lösung des Rätsels, das ein Original aufgibt, ist ihm fremd, und damit auch jeder Triumphalismus der richtigen, endgültigen Übersetzung. Wenn man ihm eine Formel für das Verhältnis der Übersetzung zum Original abverlangte, dann würde er mit Jorge Luis Borges antworten: „Das Original ist der Übersetzung nicht treu.“ Über seiner Werkstatt steht als Motto der Satz Oskar Pastiors, Übersetzen sei das falsche Wort für einen Vorgang, den es nicht gibt. Allenfalls die Orientierung des Übersetzers an den Fährleuten, Transporteuren, Fuhrleuten lässt er gelten. Das passt zu der Auskunft, die er einmal, befragt nach seinem Selbstverständnis, gegeben hat. Er sei Literaturvermittler. Und zu seiner Arbeit als Herausgeber, darunter das Gesamtwerks von Oskar Pastior, und als Anthologist, der schon 1987 und dann noch einmal nach der Zäsur von 1989/90 dem deutschen Publikum „Das Land am Nebentisch“ nahebrachte, „Texte und Zeichen aus Siebenbürgen, dem Banat und den Orten versuchter Ankunft“, oder in der Übersetzerwerkstatt „Balkanische Alphabete“ die rumänische Lyrik der jüngsten Jahrtausendwende. Vor allem dem Werk des 1960 geborenen Dichters Daniel Bănulescu, der in jungen Jahren noch gegen die späte Ceaușescu-Diktatur anschrieb, hat er, mal hingerissen, mal abgestoßen, in Übersetzung und Kommentar den Weg ins Deutsche bereitet. Den Furor, mit dem hier ein Nachfahre der schwarzen Romantik und der „Zone“ Apollinaires in der Maske des poète maudit und sexuellen Eroberers durch Bukarest zieht, aus den Buchstaben von Firmenschildern seinen eigene Namen zusammensetzt und aus Worten die „Republik Daniel Bănulescu“ errichtet, aufgeteilt in einen Nordstaat und einen Südstaat, hat Ernest Wichner gegen den Verdacht in Schutz genommen, hier tobe sich lediglich das hypertrophe Ich eines selbsternannten Kraftgenies aus. Dass er zugleich Christopher Middleton aus dem Englischen übersetzte, dürften sein ohnehin sehr empfindliches Gehör für die Mehrsprachigkeit im Innern von Texten weiter geschärft haben.

Im Röhrengeflecht Ernest Wichners durchdringen sich Poesie und Prosa. Groß ist sein Gespür für das Schwingen weiblicher und männlicher Endreime, für die Binnenreime, die unreinen, verschliffenen Reime und für synkopische Rhythmen. Chaos und Komplexität zu mehren, sei die vornehmste Selbstverpflichtung der Poesie, hat er einmal gesagt. Es gibt dazu, tief verwurzelt im Deutsch seiner Herkunft, in der Prosa ein Gegenstück, sein Gefühl für die Rhythmik des Satzbaus, von den scheinbar schlichten Parataxen bis zu den vielstöckig geschichteten langen Perioden, für Klammern, Gedankenstriche und Parenthesen, für den Reichtum der Partizipien. Diese Seite der Übersetzerkunst Ernest Wichners hat sich bewährt, als er das Werk M. Blechers, der 1909 geboren wurde, dem rumänischen Judentum entstammte, im Alter von 19 Jahren an Knochentuberkulose erkrankte und schon 1938 starb, dem deutschen Publikum zugänglich machte, die beiden schon zu Lebzeiten erschienenen Bücher „Aus der unmittelbaren Unwirklichkeit“ und „Vernarbte Herzen“ und die Aufzeichnungen aus dem Nachlass, das Sanatoriumstagebuch „Beleuchtete Höhle“. In dieser Trilogie der unerbittlichen Introspektion und ebenso unerbittlichen Erfassung der äußeren Wirklichkeit tauchen früh die Wörter „Sumpffieber“ und „Chinin“ auf, in überscharfer Präzision werden die Räume und Obsessionen der Kindheit gemustert, alte Fotografien, frisch aufgebahrte Tote, zerfließende Wachsfigurenkabinette. Die sexuellen Abenteuer des Heranwachsenden, Puppenballette eher als Eroberungen, sind von Grammophonklängen unterlegt, die Seiten über das noch stumme Kino denen in Sartres „Wörtern“ ebenbürtig. Niemand, der im zweiten Band „Vernarbte Herzen“ mit M. Blecher im Sanatorium in Berck-sur-Mer an der französischen Atlantikküste war, mit seinen Fluren, Korridoren, Behandlungszimmern und Ritualen, wird die Tänzerin je wieder vergessen, die dort voller Hoffnung zugrundgeht. Ernest Wichner ist für den dritten Band dieser Trilogie zum Forscher im Archiv geworden, zum Zeitzeugenbefrager und Höhlenbeleuchter. Es gibt in der Literatur als Entsprechung zur rettenden Kritik die bergende Übersetzung.
Ernest Wichners Blecher-Projekt, die Erschließung eines bedeutenden europäischen Autors in deutscher Prosa ist dafür ein glänzendes Beispiel.

Im Jahr 2007 hat die rumänische Lyrikerin, Romanautorin und Übersetzerin Nora Iuga den Friedrich Gundolf-Preis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung erhalten. Die Laudatio hielt ihr Übersetzer Ernest Wichner. Nora Iuga, deren körpernahe, spitzzüngige Dichtung, in der das Zufügen von Schmerz nicht den Männern vorbehalten ist, ihr zu Zeiten Ceaușescus den Vorwurf des „morbiden Erotismus“ und ein Schreibverbote einbrachte, war die Mentorin des jungen Mircea Cărtărescu. Als Ernest Wichner den Auftrag erhielt, Cărtărescus opus magnum „Solenoid“ zu übersetzen, war er gut vorbereitet. Er hatte schon in den 1980er Jahren Erzählungen von Ștefan Bănulescu übersetzt, in denen Balzacs Oberst Chabert mit dem Ich aus Gogols „Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen“ verschmilzt, und Norman Maneas Erzählung „Der Trenchcoat“, außerdem Cărtărescus Roman „Travestie“ sowie den Erzählungsband „Die schönen Fremden“ und diesen – ausnahmsweise, um des Hallraums willen – mit Anmerkungen zu den historischen Figuren und Ereignissen versehen. Seine eigene Lyrik stand dafür ein, dass er keine Angst vor Maden hatte, vor dem Aufquellen des Anorganischen ins Organische, vor verwesenden Häusern in einem Bukarest, das mindestens so sehr ein abgründig unterkellerter Geisteszustand ist wie eine Stadt. Blechers Sanatorien hatten ihn auf das Innenleben der Schulen im rumänischen Sozialismus vorbereitet, auf die Präventionsklinik mitten im Wald, in die Kinder als potentielle Tuberkulose-Opfer verbracht werden. „Wären die Träume nicht gewesen, wir hätten nie gewusst, dass wir eine Seele haben“ übersetzte Ernest Wichner und wusste, dass das keine beruhigende Auskunft war angesichts der Albträume, die ihn erwarteten. Er zeigte sich den kommunizierenden Röhren gewachsen, in denen Poesie und Prosa gemeinsam ein Atelier zur Modellierung der Träume betreiben, durch das André Breton spukt. Im Inneren des deutschen „Solenoid“ haust der sprachschöpfende, wortschöpferische Übersetzer, der Satzbaukünstler.

Er hat einmal gesagt, man werde jünger beim Übersetzen. Freuen wir uns also auf die künftigen Früchte der Kindheit des Übersetzers Ernest Wichner. Herzlichen Glückwünsch zum Johann-Heinrich-Voß-Preis.