Johann-Heinrich-Voß-Preis

The »Johann-Heinrich-Voß-Preis für Übersetzung« (Prize for Translation) has been awarded by the German Academy for Language and Literature since 1958 for the »outstanding achievements in translation,« with a particular emphasis on the translation of literature into German.
The prize is awarded annually at the spring conference of the German Academy.
The Johann Heinrich Voß Prize has been endowed with €20,000 since 2002.

Ernest Wichner

Translator and Writer
Born 17/4/1952

Seit 1990 erscheinen in stetem Rhythmus von ihm virtuos übertragende Werke der rumänischen Literatur...

Jury members
Iso Camartin, Elisabeth Edl, Aris Fioretos, Daniel Göske, Gabriele Leupold, Susanne Lange, Ernst Osterkamp

„ ... das falsche Wort für einen Vorgang, den es nicht gibt“ (Sechs Abschweifungen und ein Zwischenruf)

Abschweifung 1 – vom verständlichen Zwitschern

Die nordamerikanische Indianermeise, ein kleiner grau-weißer Vogel, versteht es bestens, die eigenen Artgenossen und viele andere Vogelarten in ihrer Umgebung vor Gefahren zu warnen. Sie verwendet für verschiedene Gefahren verschiedene Alarmsignale. Da sie über drei Tontypen verfügt, die mit unterschiedlicher Intensität, Schnelligkeit und in ganz verschiedenen Häufungen und Abfolgen getschilpt, gezwitschert und gesungen werden können, kann sie in ihren Warnrufen etwa mitteilen, wer angreift und wie gefährlich der Angriff ist. Wenn eine große Eule angreift, weiß die Indianermeise dies mitzuteilen und mit dem Kommentar „ungefährlich“ zu versehen, die Eule ist schließlich viel zu träge, als daß sie eine Meise erjagen könnte. Wenn allerdings eine kleine und wendigere Eule angreift, teilt die Meise das Herannahen einer großen Gefahr mit. Ebenso wissen die Indianermeisen vor Habichten, Sperbern oder etwa Katzen zu warnen und offenbar tatsächlich etwa fünfzig anderen Vogelarten ihre Beobachtungen und Warnungen detailgenau mitzuteilen. Verblüffend, und für unser Thema interessant dürfte sein, daß die europäischen Meisen, die durchaus auch zu den intelligenteren Vögeln zählen und ebenfalls ein differenzierteres Repertoire an Kommunikationsformen aufweisen, wiewohl sie selbst sich anders äußern als die Indianermeisen, diese verstehen können.


Abschweifung 2 – vom anstößigen Übersetzen

Was aber ist die Übersetzbarkeit? Sie ist einleuchtend. Sie ist so einleuchtend, daß der Fuhrmann sie dem jüngsten Sohn abnimmt und ohne Schwierigkeit durchs zwanzigste Jahrhundert vehikuliert. Sie ist ein Hoffnungsschimmer, den Worte ans sich haben, die Politik machen, indem sie ihr heimleuchten. Der Kürbis wird von innen erhellt, eine Fuhre Illumination. Wir erweisen Denkanstößen die Reverenz, indem wir sie anstößig übersetzen.

Dies ist ein Höricht, aus Oskar Pastiors 1975 erschienenem Gedichtband „Höricht. Sechzig Übertragungen aus einem Frequenzbereich“. Es spricht vom Übersetzen, genauer gesagt, von der Übersetzbarkeit, die in einer Weise beschrieben wird, dass alles, was dazu gesagt wird, selber wieder interpretationsbedürftig also auf eine Übersetzung angewiesen ist. Dazu will ich Ihnen ein paar Stichworte nennen. Zu Oskar Pastiors Kommilitonen an der Universität Bukarest wo er von 1955 bis 1959 Germanistik studierte, gehörte auch Dieter Fuhrmann (1935-2009), „ein freundlich-unnachsichtiger Kultureinpeitscher dieser Jahre [...], eine dauernd detonierende Bildungsbombe“, wie ihn einer seiner Freunde beschrieb. Dieser Dieter Fuhrmann übersetzte in den siebziger Jahren Walter Benjamins Aufsatzband „Illuminationen“ ins Rumänische. In dieser Sammlung ausgewählter Schriften steht natürlich auch Walter Benjamins Übersetzeraufsatz und in diesem der skandalös oder anstößig klingende Satz, es „bleibe die Übersetzbarkeit sprachlicher Gebilde auch dann zu erwägen, wenn diese für die Menschen unübersetzbar wären“. Darüber hinaus hatte der gestrenge Walter Benjamin schon gleich zu Beginn seines Aufsatzes den nicht minder anstößigen Satz formuliert: „Denn kein Gedicht gilt dem Leser, kein Bild dem Beschauer, keine Symphonie der Hörerschaft.“

Und selbstverständlich zählte im Bukarest jener Jahre die Vorstellung, man könnte dem verordneten sozialistischen Realismus in der Literatur mit einer der eher linksmarxistisch klingenden Thesen Walter Benjamins beikommen zu den Hoffnungsschimmern, die Worte an sich haben, die Politik machen, indem sie ihr heimleuchten, etwa folgende Benjamin-Sentenz: „...daß die politische Tendenz, und mag sie noch so revolutionär scheinen, solange gegenrevolutionär fungiert, als der Schriftsteller nur seiner Gesinnung nach, nicht aber als Produzent seine Solidarität mit dem Proletariat erfährt“. Was zu unserer Verständlichkeit übersetzt heißt, der Schriftsteller habe, wenn er denn revolutionär sein mag, an seinen Mitteln, der Sprache, seiner Ästhetik – diese verändernd und modernisierend, und nicht an und mit seiner Gesinnung zu arbeiten.


Abschweifung 3 - Svetlana Geier im Gespräch mit Taja Gut

Sie sagten, Sie hätten nie daran gedacht, Übersetzerin zu werden –

Ja, ich habe schon ganz richtig empfunden, daß es ein völlig unattraktiver Beruf ist. Ich habe wirklich nie daran gedacht, eine Übersetzerin zu werden. Und ich glaube auch nicht, daß man es lernen kann. Der Studiengang „Übersetzen“ ist sinnlos. Man kann Übersetzen nicht lernen. – Was mich von Anfang an interessierte, wirklich interessierte, ganz praktisch und ganz konkret: Wie verhalten sich die Sprachen zueinander, „Ruhest du auch“ zu „Отдохнешь и ты“?

Schon früh?

Ja, das ist sehr früh gewesen. [...] Mein Blick war damals von vorneherein auf das Defizitäre beim Übersetzen gerichtet. Ich habe nie gedacht, wie schön, daß es einem gelungen ist, oder: Das ist es! Nie. Ich habe immer das Gefühl gehabt, das ist nie dasselbe.

Und das war der Ansporn?

Vielleicht versucht man mit der Zeit, das doch zu minimalisieren. Aber daß es nicht dasselbe ist, das war mir klar. Und das ist im Grunde keine förderliche Einstellung für den Übersetzer. Denn er müßte eigentlich von dem Glauben besessen sein, es ist dasselbe. Aber für mich ist es nicht dasselbe.

Zwischenruf Herta Müller:
„Cer“ heißt auf Rumänisch „Himmel“, und ein Gesuch heißt „Cerere“. Also ist ein rumänisches Gesuch eine Bittschrift an den Himmel – demnach kann es gar nichts bringen.


Abschweifung 4 – Sprache und Sprachen – jeweils und miteinander eine Gemengelage
(Oskar Pastior: Das Unding an sich. Frankfurter Vorlesungen)

Was spreche ich? Klipp und klar pastior. Auch wenn ich es als Privatidiom bezeichne und hin und wieder krimgotisch nenne, indem ich auf die Randphänomenalität der Gemengelage in jeder Sprachbiographie verweise.

„Mein Herr! Sie glauben doch nicht ernstlich, Ihren Zufall mit meinem Zufall vergleichen zu können!“ – Marcel Duchamps. Oder war’s Lukrez?

Und aus der Gemengelage gleich auch zur Befindlichkeit. Zu voreilig, ja wie automatisch, scheint es mir, setzen spätestens seit Plato eingefleischte Realismusvorstellungen „Gefühle als Textbausteine“ gleich. Der Dichter als Gefühlshandwerker. Das Leiden an. Das Heimweh nach. Das Zuhause in. Das Fremdsein vor. Oder die Metaphern vom Nabelstrang, vom Niemandsland, von den Grenzgängern, von der Brücke. Auch ich vergesse zu leicht, daß es diese deutschen Wörter sind, die mir die Gefühle beigebracht haben. Andere „Muttersprachen“ gibt es nicht: anderswo heißt und ist die Sache eben anders – die Nominalismusmühle, auch in dieser kniffligen Frage.

Der „Geist einer Sprache“ ist doch nur so gut wie die Texte dieser Sprache, und die sind umso besser, als sie in die Beweglichkeit der Normen hinein- oder gar aus ihnen herausreichen. Sprache sind nämlich nicht nur die beweglichen Normen, sondern auch die normenbewegenden Texte; und ein Text lebt, weil er, singulär, Normen nicht gerecht wird und das auch weiß (wer sonst?); weil er, und sei es im Verlauf der Rezeption, sich in seiner Vermessenheit an den vielerlei Normen misst.

„Unterschiedenes ist gut“ – noch ein Zitat.

Wenn ich eine Utopie hätte, so wären es zwei: Alle Unterrichtsfächer an den Schulen sollten doch bitte immer auch Sprachfächer sein; selbst die Physik; selbst der Literaturunterricht. Und zweitens: statt all der (natürlich begrüßenswerten) Anstrengungen, die Literaturen der Welt in die Sprachen der Welt hin und her zu übertragen, sollte man lieber die Sprachen der Welt, zumindest die jeweils räumlich nächsten, möglichst viele Einzelne erlernen lassen. Nichts ersetzt das Original. Im Grunde ist ja Übersetzung nicht möglich. Übersetzung ist das falsche Wort für einen Vorgang, den es nicht gibt. In einer anderen Sprache denkst du anders, agierst du anders, bist du anders.

Ärmer und reicher ist im Gemenge keine Alternative. Ich lobe mir das Gemenge, meine Privatsprache. Sie ist für mich die einzige Chance. Sie erlaubt mir – wie jede andere Privatsprache ihrem Text – eine tendenziell maximale Bedeutungsdichte anzupeilen und zu erreichen ...

Weil für ihn einzig die Privatsprache in der Lage ist, den Sprecher für und vor sich selbst zu beschreiben, sie diesem mithin auch einziges Medium der Wahrheit ist, hat Oskar Pastior die babylonische Sprachenvermehrung mit der Bemerkung versehen, er habe daran allein zu kritisieren, dass sie vorzeitig abgebrochen ist oder abgebrochen wurde. Schließlich hätte sie erst beim Individuum und dessen je eigener Sprache ihr Ende erreichen sollen – sie wäre dann allerdings nicht mehr als Strafe, sondern als Befreiung zu interpretieren gewesen. Welcher Gott aber will Befreiung und nicht Abhängigkeit?


Abschweifung 5 – Vom Gemenge zum Gehäuse. Noch einmal Svetlana Geier

Am Freiburger Münster habe ich gelernt, daß jedes Handwerk eine Art Schutzengel hat: seinen Heiligen. Ob Schuhe nähen oder Bilder malen oder Schweine schlachten – alles Tun hat seinen Patron. Auch das Übersetzen. Ich habe meinen Patron erst vor kurzem kennengelernt. Das ist der heilige Hieronymus. Er hat im Auftrag des Papstes die drei vorhandenen Heiligen Schriften, hebräisch, griechisch, lateinisch, neu übersetzt und in der Vulgata vereint.
Und zum heiligen Hieronymus gehört ein Detail, ein wichtiges Detail: „im Gehäuse“. Hieronymus im Gehäuse. Ich habe im Grimmschen Wörterbuch nachgeschlagen, da gibt es mehrere Spalten zum „Gehäuse“. Es ist ein ganz wichtiges Wort in der deutschen Sprache. Die Vorsilbe „Ge-“ ist eine Sammelvorsilbe – Gebirge, Getöse usw. Das Gehäuse ist die äußere Hülle, sie schützt, isoliert auch, aber nicht nur: Das Gehäuse ist ein abgeschlossenes und abschließendes Ganzes. Unter anderem: Uhrgehäuse, aber auch Mumie. Es ist immer dieselbe Funktion. – Im Russischen gibt es übrigens das Wort „Gehäuse“ überhaupt nicht. [...]

Das „Gehäuse“ ist keineswegs eine Metapher oder ein Vergleich für das Übersetzen. Es ist nur ein uraltes Bild für den menschlichen Leib als Hülle der Seele.


Abschweifung 6 – zurück über steinerne Klippen voran

das boot setzt über, ufer sind längst zeiten,
aus stein gemacht, doch mit vergängnismalen.
wir geben gern die freien, radikalen,
so völlig ohne kopf- und herzkrankheiten.

doch hier im boot sind alle nur für einen
moment ganz eins mit sich, und die gestalten
beginnen aus der zeit ersatz zu falten
für ihr und ihresgleichen nichterscheinen.

wer übersetzt, spricht nicht mehr miteinander,
wir sind so still wie feuersalamander,
fixiert auf grauen schleusenkammerwänden.

die worte mühen sich, uns zu entwischen
ins ungesagte, wie beim fliegenfischen:
ihr wechsel, ihre ungestalten enden.

Mit diesem Gedicht beginnt ein Sonettenkranz, der sich über fünfzehn Sonette dem Übersetzen widmet – seinen „energiebilanzen“, „grenzkonflikten“, „atemspenden und tellerminen“, sowie den „unfehlbarkeiten“ der „staatendichter“ mit der „falschen mutter sprache“ – schließlich wurden solche in den vormals sozialistischen Staaten großzügig mit Geld und Reisemöglichkeiten bedacht, wenn sie aufgrund von Interlinearfassungen etwa die Dichtungen der Bruderländer Usbekistan, Turkmenistan, und Kannitverstahn „durch schnellen tanz in die unfehlbarkeiten“ der eigenen Staatsdichtersprache übertrugen – Nachdichtung war das falsche Wort für eine Sache, die an dem Eigensinn der Poesie nur gelindes Interesse fand.
Hier aber: „das boot setzt über, ufer sind längst zeiten / aus stein gemacht, doch mit vergängnismalen“, werde ich schon in den ersten beiden Zeilen daran erinnert, dass dem Übersetzen in seinen Anfängen eine erhebliche Zeitdimension eingeschrieben war. Schließlich trennten Homer und seinen deutschen Übersetzer Johann Heinrich Voß mindestens zweitausendfünfhundert Jahre, so breit war der Strom, den das Boot von einem Ufer bis zum anderen zurückzulegen hatte, um es dann „aus stein gemacht“ vorzufinden. Mithin beschreibt der Vers „wer übersetzt, spricht nicht mehr miteinander“ den Vorgang des HinÜberSetzens sehr viel präziser als die Vorstellung, man befinde sich im Gespräch.
Wir befinden uns immerzu in hochkomplexen und asynchronen Abhängigkeitsverhältnissen, die kein Gespräch je aus der Welt zu schaffen vermag. Warum wohl erzählen sämtliche Bücher des vielsprachigen Gelehrten, Übersetzers, Essayisten und Dichters Klaus Reichert immerzu auch seine eigene Bildungsgeschichte mit? Weil die Befähigung zum Übersetzen stets neu erworben, erweitert, aktualisiert, mit Wissen gespeist und verfeinert werden muss, soll sie keinen Substanzverlust erleiden. Ich selbst habe dies einmal in einem Gespräch als ein Gefühl von Verjüngung beim Übersetzen beschrieben. Dabei hatte ich mich als Schüler vor Augen, der sich all das, was er jenseits der schulischen Wissensbestände zu erfahren wünschte, auf neugierig-dilettantische Weise aus Büchern entlegenster Fachgebiete herbeischaffte. Bis auf den heutigen Tag ist mir die Beglückung über den treffenden Fund im richtigen Augenblick frisch geblieben – dass ich mittlerweile immerhin weiß, wie der richtige Augenblick einigermaßen verlässlich herbeizuführen ist und wo sich jener dringend benötigte Fund tätigen lassen könnte, ändert daran nichts.

Ich danke der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung und der von ihr berufenen Jury für diese Auszeichnung und kann – wie ich es von meinem Freund Mircea Cărtărescu mehrfach schon übersetzen durfte – nur versichern, dass ich mich bemühen werde, mich ihrer als würdig zu erweisen.