Johann-Heinrich-Voß-Preis

The »Johann-Heinrich-Voß-Preis für Übersetzung« (Prize for Translation) has been awarded by the German Academy for Language and Literature since 1958 for the »outstanding achievements in translation,« with a particular emphasis on the translation of literature into German.
The prize is awarded annually at the spring conference of the German Academy.
The Johann Heinrich Voß Prize has been endowed with €20,000 since 2002.

Elisabeth Schnack

Translator and Writer
Born 23/12/1899
Deceased 14/5/1992

Lebendigkeit, Frische, Laune und eine Fähigkeit zu innerem Mitvollzug zeichnen ihre Übersetzungen aus.

Jury members
Kommission: Roger Bauer, Friedhelm Kemp, Hermann Lenz, Lea Ritter-Santini, Elmar Tophoven

Mitglieder des Erweiterten Präsidiums

Laudatory Address by Helmut Winter

Die Eloge ist aus der Mode gekommen, verdrängt durch das Kurzporträt, das Interview − journalistische Formen eher der Verkleinerung, des verkürzten Maßstabs, der handhabbaren Größe. Der Frager sucht nach den schwachen Stellen des Befragten, bis Selbstentblößung unvermeidlich wird; das Opfer, reduziert auf vermeintliches Normalmaß, erscheint nicht mehr bewundernswert, nur noch, in seiner Not, glaubwürdig. Elisabeth Schnack, der diese Laudatio gilt, riet mir, statt sie zu befragen, ihre autobiographischen Bücher zu lesen − darin stünde das Wissens- und Mitteilenswerte, weitergehende Fragen könne sie sich kaum vorstellen, die Bände verkauften sich im übrigen sehr gut. Inzwischen weiß ich, warum, und ich will versuchen, Ihnen die Gründe zu nennen; dabei wird, so denke ich, auch deutlich werden, daß die Verleihung des Johann-Heinrich-Voß- Preises an die große alte Dame der deutschsprachigen Übersetzer im Jahre 1985 Züge des Anachronistischen hat.
In den Fragmenten des griechischen Lyrikers Archilochos findet sich die Zeile »Der Fuchs kennt viele Dinge, aber der Igel weiß nur ein Großes.« Die Gelehrten streiten sich über die Bedeutung dieser Stelle − vielleicht will sie nichts anderes sagen, als daß der Fuchs mit all seiner List dem stachligen Selbstschutz des Igels unterlegen ist. Sucht man nach einem übertragenen Sinn, dann könnte hier ein fundamentaler Unterschied bezeichnet sein, der die Menschen in zwei Typen teilt: jene, die alles auf eine große, einheitliche Vision beziehen, ein umfassendes System, ein universales Prinzip, das allem, was sie tun und sagen, unausgesprochen zugrundeliegt − und jene anderen, die viele verschiedene Ziele verfolgen, oft widersprüchliche, die eher zentrifugal als zentripetal denken und kein Bedürfnis haben nach einem integrierenden System. Plato und Proust gehörten nach diesem Modell zu den Igeln − Aristoteles und Montaigne, Goethe und Joyce zu den Füchsen. Elisabeth Schnack, von ihren Freunden auch »die Schnecke« genannt, wird es mir hoffentlich nicht verübeln, wenn ich sie emphatisch den Igeln zuordne. Ihr großes Übersetzungswerk ist nämlich bestimmt von dem Prinzip des Respekts nicht so sehr vor den eigenen Sprachgebräuchen, sondern vor dem Originaltext, geprägt von der Überzeugung, daß ein Erfassen des fremden Werkes den Verzicht auf die schöne, die eingängige Übertragung bedeutet. Nur wenige Übersetzer haben so konsequent wie Elisabeth Schnack ihre Tätigkeit als die Beseitigung eines Mißstandes begriffen: der Vielsprachigkeit des Menschen. Es gehört ein hohes Maß an Intuition dazu, um zu erkennen, daß der Übersetzer vor allem verstehen muß, was eine Sprache ausspricht und was sie verschweigt − um dann in der eigenen Sprache sagen zu können, was die andere zurückhält. Von ihren Übersetzungen läßt sich behaupten, daß sie in der Annäherung an das Unübersetzbare selber zu nicht mehr rückübersetzbaren Originalen geworden sind. Elisabeth Schnack, obwohl in der Schweiz lebend, gehört durchaus nicht zu jener Schweizer Schule, die − von Bodmer und Breitinger bis zu Emil Staiger − auf der Einbürgerung des Fremden ins Heimisch-Vertraute und Angestammte besteht, und vor die Wahl gestellt, gelehrt oder lebendig zu übersetzen, würde sie sich spontan für das letztere entscheiden. Denn sie weiß aus erstaunlicher Erfahrung: solange die Übersetzung Kopie des Originals sein, die gleiche Wirkung erreichen will, hebt sie sich selbst auf − und verzichtet auf ihre wichtigste Aufgabe: die Wiederherstellung der originalen Verstehbarkeit. Es ist aber das Verstehen, von dem Goethe gesagt hat, es wolle dasjenige, was ein anderer ausgesprochen hat, aus sich selbst entwickeln, das die Übersetzerin immer im Auge behält, wenn sie daran geht, Unbekanntes durch Bekanntes begreiflich zu machen. Man erkennt dieses Prinzip noch im unauffälligsten Detail, wenn etwa ein »cedar-bemused cemetery« im Deutschen zu einem »von nachdenklichen Zedern bestandenen Friedhof« wird oder »a dusty road rife with honey-suckle« zu einer »staubigen Landstraße, die schwer war vom Duft des Geißblatts«. Das ist ein Übersetzen, das den Buchstaben verachtet und dem Geist folgt, nicht Wörter und Sätze überträgt, sondern Assoziationen aufnimmt und weitergibt. Je anspruchsvoller das Original, desto größer muß die Leistung sein, die zur Lösung der Übersetzungsprobleme nötig ist. Elisabeth Schnack, die mit John Keats begonnen hat, will, wie sie sagt, die Wege der Dichter gehen, ihr Werk nachempfinden − so wie sie es jüngst in ihren glänzenden, mit höchstem Lob bedachten Übertragungen der Romane von Joyce Carol Oates getan hat; dort zeigt sich, daß es ihr nicht nur um ein bloßes Verstehen- und Übersetzenwollen geht, sondern in einem weiteren Sinne um eine Art von Urbarmachung sprachlichen Brachlandes.
Doch bis dahin war es ein weiter Weg. Die Anfänge liegen vierzig Jahre zurück, die Vorgeschichte reicht ins vergangene Jahrhundert. So beschreibt sie sich selbst, in der Zauberlaterne:

»Am 23. Dezember 1899 als ältestes von drei Mädchen in Joachimsthal am Wehrbellinsee geboren − Volksschule und die vom Vater gegründete Höhere Schule besucht (der Vater, Karl Schüler, war Lehrer und Botaniker) − 1913 Vater nach Herborn versetzt − Mittelschule bis zum Einjährigen − dann ein Jahr Lyzeum in Essen − 1916 Vater nach Erfurt versetzt − Oberlyzeum und anschließend Seminar besucht − nach Staatsexamen für Höhere Schulen erste Lehrerinnenstelle in einem Dorf, das wirklich Kotzbüttel hieß − nach einem Jahr Hauslehrerin in Budapest − Anfrage, ob Posten in Ostasien frei − Angebot einer Stelle in Kuba, Kommentar des Arbeitgebers bei gleichzeitiger Rücknahme des Angebots: »Sie werden uns gleich weggeheiratet!« − sechs Monate Hauslehrerin in Kattenvenne bei Berlin − 1924 Ausreise nach Mukden in die unwirtliche Mandschurei, Gründung einer deutschen Privatschule ebendort.«

Die Fortsetzung könnte, in Stichworten, lauten: Heirat mit einem deutschen Chinakaufmann − Geburt von Zwillingen − Krankheiten, Reisen − kurz vor dem Krieg Rückkehr nach Europa − der Ehemann fällt den Wirren des letzten Kriegswinters zum Opfer − sie überlebt mit den Kindern in der Schweiz. Die Fünfundvierzigjährige beginnt in Genf mit Sprach- und Literaturstudien, wird von dem Anglistik-Professor Hinterhäuser aufgefordert, an einer Keats-Auswahl mitzuarbeiten (als sie um ein Dissertations-Thema bittet, fragt er: »Was wollen Sie in Ihrem Alter mit einem Doktortitel?«). Der Lebensabschnitt, in dem die Biographie von der Bibliographie verdrängt zu werden scheint, beginnt mit dem Auftrag, eine Anthologie irischer Kurzgeschichten zusammenzustellen. Sie fliegt nach Dublin (wie später in alle Welt, zu ihren Autoren), die Sammlung erscheint 1952. Ein Jahr darauf überträgt sie, zusammen mit Paul Celan, Picassos »Wort und Bekenntnis«, danach Novellen von D. H. Lawrence, Erzählungen von William Goyen und Willa Cather, Romane von Thomas Hardy und Evelyn Waugh, Autobiographisches von Gertrude Stein, 1956 zum erstenmal William Faulkner. Irische Autoren rücken in den Vordergrund, voran die drei O’s: Frank O’Connor, Sean O’Faolain, Liam O’Flaherty. Ein anderer Schwerpunkt: die Literatur der amerikanischen Südstaaten − William Faulkner, Eudora Welty, Willa Cather, Carson McCullers. Dazu Klassiker: W. M. Thackerays »Vanity Fair«, die Erzählungen von Ambrose Bierce, Katherine Mansfields Kurzgeschichten. Sie übersetzt die südafrikanische Frauenrechtlerin Olive Schreiner, Romane von Muriel Spark und Edna O’Brien, ediert Sammelbände und zweisprachige Ausgaben, die Faulkner- und D. H. Lawrence-Briefe, Gesamtausgaben der Faulkner- und Mansfield-Erzählungen. Ein ehrfurchtgebietendes Pensum, mehr als zweihundert übersetzte Bücher, acht Seiten am Tag, jahraus, jahrein − man könnte verstehen, wenn sich Routine einschleicht, Geläufiges und Ungefähres, daß die Buntheit von Autoren und Stilen die Übertragungen in flüssiges Übersetzerdeutsch absinken läßt. Das Phänomen Elisabeth Schnack: zu Fleiß und − preußischer! − Disziplin gesellen sich Einfühlungsgabe und Begeisterungsfähigkeit, im Dialog mit schwierigen Schriftstellern erhalten sich Spannkraft und Frische, die Übersetzerin ist die Partnerin, niemals die Dienerin ihrer Autoren. Den Vergleich von Übersetzungen mit Fotografien von Skulpturen, den Hinweis auf die im Wesen der Übersetzung angelegte Unvollkommenheit − sie würde beides nur zögernd benutzen. »Ich freue mich, wenn andere das lesen können, was ich so liebe«, sagt sie statt dessen.
Ihre eigenwilligste Liebe galt und gilt der irischen Literatur, hier sind ihre Verdienste monumental, in die Kulturgeschichte eingegangen, vor fünfzehn Jahren gewürdigt mit dem Ehrendoktortitel des University College, Dublin, − heute, hier, verspätet geehrt. Die Übersetzungen etwa der »Irischen Liebesgeschichten« oder der »Tiergeschichten« von Liam O’Flaherty sind wie ein Spiegel, der in der Reflexion neues Licht zu erzeugen scheint, sie gehören zu jenen Ausnahmen, wo erst die Übersetzung die Fülle der im Original schlummernden Möglichkeiten ans Tageslicht gebracht hat. Die Wirkung dieser Stücke liegt in der unbeirrbaren Einfachheit und Unmittelbarkeit der Sprache. Elisabeth Schnack hat eine Abneigung gegen Schwulst. Unangenehm, so sagt sie, sind ihr die mittelmäßigen Autoren, diejenigen, die etwas vorstellen wollen, zeigen möchten, wie belesen, wie weit- und reiseerfahren sie sind. »Steigt herab von Eurem hohen Kothurn«, so würde sie ihnen gerne zurufen (heißt es in den Spiegelungen), »schreibt, wie Euch der Schnabel gewachsen ist, dann seid Ihr gar nicht so übel!« (Ich muß befürchten, daß sie bei manchem, was ich hier sage, Ähnliches denkt und zu sich sagt: »ballyhoo! blarney!« − für Irisch: ›Schnickschnack‹).
Es gibt die alte Forderung, die Übersetzung solle einer Glasscheibe gleichen, vollkommen transparent sein, so daß der Leser ihr Vorhandensein nicht merkt. Klar und durchsichtig ist Elisabeth Schnacks Stil; was sie schreibt, hat Bewegung und Anschaulichkeit, ist frisch, launig, beschwingt- sie ist, was man ein erzählerisches Naturtalent nennt. In ihren eigenen Geschichten und Gedichten, in den autobiographischen Büchern, gewiß auch in dem Roman, an dem sie sitzt, geht es um jene Vision, die sie zum − eingangs erwähnten − Igel macht, der nur ein Großes kennt: den Glauben an die Einheit alles Lebendigen und an die unzerstörbare Überlebenskraft der Natur. Wie bei den alten Chinesen ist das Symbol der Verbundenheit aller Lebewesen untereinander für die Botanikerin Schnack eine Pflanze, die linnaea borealis, das Moosglöckchen, das seine Blütenzweige durchs Moos hindurch ans Licht treibt, Inbegriff eines zarten und zähen Lebens.
Vor sechzig Jahren erschien in Heidelberg, bei Carl Winter, Karl Vosslers Buch »Geist und Sprache«, in dem es an einer Stelle heißt: »Ich will nicht sagen, daß das Übersetzen keine löbliche Arbeit sei, denn der Mensch kann mit schlimmeren Dingen seine Zeit zubringen, die ihm weniger Nutzen bringen. Wenn man heute angelsächsische Romane verdeutscht, so will man damit den Ausschank eines Getränkes ermöglichen, das unsere landsässigen Brauereien herzustellen nicht ausreichen − kurzum, die meisten dieser Übersetzungen verfolgen den wirtschaftlichen Zweck einer Kraftersparnis. Das Übersetzen hat seinen praktischen Sinn in der Vermittlung.« Die Vermittlerin Elisabeth Schnack hat uns Nutzen gebracht − dafür gebührt ihr Dank.