Friedrich-Gundolf-Preis

STATUT

§ 1
Der 1964 begründete Friedrich­Gundolf-Preis für die Vermittlung deutscher Kultur im Ausland dokumentiert den Anspruch der Akademie, aktiv den Kulturaustausch zwischen den deutschsprachigen Ländern und anderen Nationen (insbesondere Europas) zu fördern und mitzugestalten.

Der Preis wird aus dem Jahreshaushalt der Akademie finanziert. Er ist mit 20.000 Euro dotiert und wird jährlich im Rahmen der Frühjahrstagung vergeben.

§ 2
Der Friedrich-Gundolf-Preis würdigt hervorragende Leistungen bei der Vermittlung deutscher Kultur, insbesondere der deutschen Sprache und Literatur in nicht deutschsprachigen Ländern. Dabei können auch Übersetzungsleistungen berücksichtigt werden, die der deutschen Literatur in anderen Sprachen Wirksamkeit verschafft haben.

§ 3
Der Preis darf nicht geteilt werden.

Kann der Preis aus zwingenden Gründen nicht ausgehändigt werden, so bleibt es dem Erweiterten Präsidium überlassen, die Verleihung des Preises auf das nächste Jahr zu verschieben.

§ 4
Eine Fachkommission der Akademie berät über Kandidatinnen und Kandidaten für den Friedrich-Gundolf-Preis. Sie besteht aus sieben sachkundigen Mitgliedern, die von der Mitgliederversammlung gewählt werden.

Auf der Grundlage des Vorschlags dieser Kommission für den Friedrich-Gundolf-Preis entscheidet das Erweiterte Präsidium über den Träger bzw. die Trägerin des Preises.

Eigenbewerbungen sind nicht möglich.

Beschlossen vom Erweiterten Präsidium am 24. März 2021

Paul Michael Lützeler

Literaturwissenschaftler
Geboren 4.11.1943

Durch sein persönliches Engagement und seine diplomatische Kunst des Kulturdialogs ist ein wirkmächtiges Zentrum der Begegnung mit der deutschen und europäischen Literatur entstanden.

Jurymitglieder
Günter Blamberger, László Földenyi, Daniel Göske, Claire de Oliveira, Marisa Siguan, Stefan Weidner und Leszek Żyliński

Transatlantische Blickwechsel: Thomas Mann und Hermann Broch

Verehrter Herr Präsident, meine sehr geehrten Damen und Herren:
Mitte Mai 1934 unternahm Thomas Mann, damals achtundfünfzig
Jahre alt, von Boulogne-sur-Mer aus seine erste Transatlantikfahrt. Der New Yorker Verleger Alfred A. Knopf hatte ihn eingeladen. Die Erfolge der beiden ersten Bände der Tetralogie Joseph und seine Brüder, die 1933 und 1934 erschienen waren, galt es in den USA zu feiern und zu stabilisieren: Die Geschichten Jaakobs wurden 1934 und Der junge Joseph 1935 unter den Titeln The Stories of Jacob und Young Joseph in den USA publiziert. Während der Schiffsreise im Mai 1934 machte sich der Autor eine Reihe von Notizen. Die arbeitete er zwei Monate später aus zum essayistischen Bericht Meerfahrt mit Don Quijote, der in Fortsetzungen im November 1934 in der Neuen Zürcher Zeitung erschien. Seit 1933 lebte Thomas Mann in Küsnacht in einer Art Vor-Exil, und diese Situation kommt im Bericht zur Sprache. Er hatte sich als Lektüre für die zehn Reisetage Cervantes’ Don Quijote mitgenommen. In den tagebuchartigen Aufzeichnungen wechseln die Leseeindrücke ab mit Anekdoten über das Geschehen an Bord des Dampfers der Holland America Line, aber auch mit Kommentaren zu den nichts Gutes verheißenden Entwicklungen in Europa. Thomas Mann ist der Don Quijote als »Weltbuch« die angemessene Lektüre auf der »Weltreise« durch das »Weltmeer«. Die Transatlantiküberquerung war sicherlich keine Weltreise, aber sie öffnete dem Autor eine andere Welt in der Neuen, die schon bald sein Exilland sein würde. Cervantes’ Roman ist ihm ein »Menschheitsbuch«, das – im Sinne des damaligen Klassik-Verständnisses – über Zeit und Raum seiner Entstehung hinausrage. Was das Werk zu einem »Menschheitsbuch« mache, sei das »Humoristische« als »Wesenselement des Epischen«. Gleichzeitig fallen Thomas Mann auch Eigentümlichkeiten des spanischen Nationalcharakters an der Figur des Helden auf. Spanien versteht er als »eine Nation«, die in der Lage sei, »die melancholische Travestie und Ad-absurdum-Führung ihrer klassischen Eigenschaften« einzubekennen, Charakteristika, die der Autor umschreibt mit »Grandezza, Idealismus, schlecht angepaßte[m] Hochsinn, unlukrative[r] Ritterlichkeit«. Cervantes’ Charakterisierung des Don Quijote führe eine »Selbstironie« und »Freiheit« der Spanier vor Augen, die dieses »Volk vielleicht nicht sonderlich geschichtstüchtig«, aber doch »gewinnend« mache. Das »Gewinnende« einer nationalen Eigenschaft aber spiele die entscheidende »Rolle in der Geschichte«.
Die sozialen Konflikte des Landes, die sich zwei Jahre später explosionsartig als Bürgerkrieg entladen, erkennt Thomas Mann noch nicht. Er lässt aber durchblicken, dass es ihm mit der Aussage über den spanischen Nationalcharakter weniger um eine exakte Umschreibung iberischer Mentalität geht als vielmehr um einen Kontrast zur dominierenden nationalsozialistischen Ideologie in Deutschland. Er fährt fort: »[die Menschheit] beugt sich wohl vor dem Erfolg, vor dem fait accompli der Macht, gleichgültig, wie es zustande gekommen. Aber sie vergißt im Grunde das menschlich Unschöne, das Gewalttätig-Ungerechte und Brutale nicht, das in ihrer Mitte geschehen, und ohne ihre Sympathie ist zuletzt kein Macht- und Tüchtigkeitserfolg haltbar«. Ja, er stellt sich sogar einen Gewaltpolitiker als Don Quijote vor und fragt: »Aber was wäre nun erst ein gegenidealistischer, ein finsterer und pessimistisch-gewaltgläubiger Don Quijote, ein Don Quijote der Brutalität [...]?« Der habe außerhalb des Vorstellungshorizonts von Cervantes gelegen. Aber er lag keineswegs außerhalb des Erfahrungsbereichs des Reisenden. Thomas Mann kommt auf die »jüdischen Auswanderer«, die Flüchtlinge auf dem Schiff zu sprechen. So wird dem zeitgenössischen Leser klar, auf welchen »Don Quijote der Brutalität« hier angespielt wird. Auch die Interpretationsansätze des Autors sind im Hinblick auf die neue politische Situation in Deutschland verstehbar. Der Roman des Cervantes ist Thomas Mann »ein Produkt christlicher Kultur, christlicher Seelenkunde und Menschlichkeit«. Gegen das antisemitische Neuheidentum gewandt, dessen Verbreitung er in Deutschland erlebt hat, hält er fest: »Das Christentum, diese Blüte des Judentums, bleibt einer der beiden Grundpfeiler, auf denen die abendländische Gesittung ruht und von denen der andere die mediterrane Antike ist.« Er fährt fort: »Die Verleugnung einer dieser Grundvoraussetzungen unserer Sittlichkeit und Bildung, oder gar ihrer beider, durch irgendeine Gruppe der abendländischen Gemeinschaft würde ihr Ausscheiden aus dieser [...] bedeuten.« In der Parteinahme für das Christentum distanziert sich der Autor von Nietzsche. Er schreibt: »Der hektische Kampf Nietzsches [...] gegen das Christentum war eine unnatürliche Exzentrizität und mir im Grunde von je eine Verlegenheit.«
Meerfahrt mit Don Quijote ist der Auftakt zu Europa-Essays, die
Thomas Mann in den folgenden zwei Jahren publizierte: Achtung, Europa! von 1935 und Der Humanismus und Europa aus dem Jahr 1936.
In Achtung, Europa! nahm er Stellung gegen die kollektivistische Manie und plädierte für den europäischen Widerstand gegen den Nationalsozialismus und vergleichbare totalitäre Bewegungen. Dazu heißt es: »Was heute not täte, wäre ein militanter Humanismus, ein Humanismus, der [...] sich mit der Einsicht erfüllte, daß das Prinzip der Freiheit, der Duldsamkeit und des Zweifels sich nicht von einem Fanatismus, der ohne Scham und Zweifel ist, ausbeuten und überrennen lassen darf.« Im darauffolgenden Jahr ließ Thomas Mann den Essay Der Humanismus und Europa folgen, wobei er die religions- und geistesgeschichtliche Verankerung des europäischen Humanismus erneut betonte. Wie schon in Meerfahrt mit Don Quijote versteht er als »die beiden Grundpfeiler der abendländischen Gesittung [...] das Christentum und die mediterrane Antike«.
Was Thomas Mann hier sagt, klingt im Kontext der Zeit überzeugend,
ist aber heute durch differenziertere Kulturtheorien zu ergänzen.
Um beim architektonischen Bild zu bleiben: Anzuerkennen sind nicht
nur zwei Grundpfeiler, sondern zahlreiche Verstrebungen zu vorchristlichen okzidentalen und zu zeitlich parallelen außereuropäischen Zivilisationen, die zur Tragfähigkeit dessen beitrugen, was man mit dem europäischen Kulturgebäude zu umschreiben sucht. Statische Symbole wie die von Bauwerken sind überhaupt wohl eher durch Metaphern der Mobilität zu ersetzen. Mit Edgar Morin zu sprechen: Das Verhältnis unterschiedlicher, auch entgegengesetzter Kulturströmungen bleibt in Europa dialogisch und widersprüchlich und beruhigt sich nicht zu Synthesen. In den nie aufhörenden Konflikten gilt es aber weltanschaulich – da hat Thomas Mann recht –, juristisch und politisch auf Überzeugungen von Freiheit, Zweifel, Humor, Duldung, Menschenrecht und Menschenwürde zu beharren, die Versklavung, Fanatismus, Unterdrückung, Ausgrenzung, Rassenhass und Krieg zu verhindern suchen.
Thomas Manns Meerfahrt mit Don Quijote entdeckte ich erst vor wenigen Jahren, und sie erinnerte mich an meine eigene erste Schiffsreise in die USA. Das war vierunddreißig Jahre nach Thomas Manns Atlantiküberquerung, und ich war vierunddreißig Jahre jünger als der Autor im Jahr 1934. Mit der Tatsache, dass ich mich Ende August 1968 als vierundzwanzigjähriger Student auf einem amerikanischen Passagierschiff in Richtung New York befand, hören die Vergleichsmöglichkeiten zu Thomas Manns Meerfahrt aus offensichtlichen Gründen schon auf. Ich dachte weder an Kulturvermittlung noch an Auswanderung, und den Don Quijote steckte ich auch nicht ins Reisegepäck – oder vielleicht doch? Im Sommersemester 1967 hatte ich an der Freien Universität Berlin die Romane von Hermann Broch entdeckt. Damals lasen fast alle Kommilitonen Ernst Bloch, und wenn ich Broch erwähnte, meinte
man ständig Bloch zu verstehen und pflichtete mir bei, dass Das Prinzip Hoffnung doch so angesagt bewusstseinsverändernd wirke. Ich las die Trilogie Die Schlafwandler von Hermann Broch, und jener zweite Roman, der mich am meisten faszinierte, war Esch oder die Anarchie. Das Buch wollte ich erneut studieren und nahm es als Lektüre in einer selbstironischen Anwandlung mit aufs Schiff, spielen doch nicht realisierte Amerika-Auswanderungsphantasien bei dem Helden Esch eine große Rolle. Mit subtilen Anspielungen verdeutlicht der Erzähler in Brochs Roman: Esch ist ein Don Quijote des 20. Jahrhunderts. Also »Meerfahrt mit August Esch«. Wie Thomas Mann empfand auch Broch eine Affinität zum Helden des Cervantes. Und tun wir das nicht alle, die wir mit und von Literatur leben?
Vier Jahre nach Thomas Mann, also 1938, war Hermann Broch ebenfalls
mit einem Dampfer der Holland America Line nach New York gefahren.
Er schrieb dabei am entstehenden Roman Der Tod des Vergil: also »Meerfahrt mit Vergilius Maro«. Zu Beginn des Buches schildert der Erzähler die Ankunft des römischen Dichters auf einer Trireme der Holland America Line im Hafen von Brundisium. Meine eigene Ankunft in Amerika hatte mit der Hermann Brochs ebenfalls nichts gemein. Ich war kein mittelloser Verbannter auf der Flucht vor Verfolgern. Im Gegenteil, ich konnte meinen Studienausflug als Fulbright Stipendiat an der Indiana University genießen und war immer wieder überrascht zu sehen, wie anders – und für mich sehr attraktiv – das akademische Leben dort verlief.
Broch schrieb während des Exils seinen Roman Der Tod des Vergil,
ferner das politisch-psychologische Buch Massenwahntheorie, die Studie Hofmannsthal und seine Zeit sowie den Roman Die Schuldlosen. Alle vier Bücher sind ohne die Erfahrung von Verbannung und Flucht nicht denkbar. Wie die meisten exilierten Schriftsteller versuchten Thomas Mann und Broch sich als literarische, kulturelle und politische Mittler zeitlich zwischen der erlebten amerikanischen Gegenwart und einer nach-totalitären Zukunft Europas zu positionieren. Die beiden Autoren wurden 1940 zu Mitarbeitern an dem Buch The City of Man. Das war eine Deklaration von amerikanischen und aus Europa geflohenen Intellektuellen, die mit dem New Deal des Präsidenten Roosevelt sympathisierten. Da wurde kritisch überprüft, was an der amerikanischen Demokratie als nachahmenswert in Europa, ja gar global gelten könne. Das waren stark idealistische, fast schon Don Quijoteske Vorstellungen. Beide Autoren erlebten während der Jahre um 1950 in der McCarthy-Ära eine Erschütterung der Demokratie, nicht die erste und nicht die letzte. Die Forschung zeigt, wie stark die amerikanischen Erfahrungen die Exilierten prägten und wie sehr die Exilierten andererseits die intellektuelle Szene in den USA veränderten. In meinem Verstehen internationaler Zusammenhänge bin ich durch die Beschäftigung mit den Werken der verbannten Autoren und Autorinnen – und speziell jenen Hermann Brochs – geprägt worden.
Im Exil war Hermann Brochs bester Freund der Kulturhistoriker
Erich von Kahler. Mein Eindruck ist, dass Thomas Mann und Hermann
Broch nach 1938 im Leben Kahlers jene Bezugspersonen wurden, die in früheren Jahrzehnten Stefan George und Friedrich Gundolf gewesen waren. Der verehrte Meister war nun statt Stefan George Thomas Mann, und der brüderliche jüdische Freund Kahlers war jetzt Hermann Broch statt Friedrich Gundolf. Erich von Kahler hatte sich im Kontakt mit Gundolf im Denken in europäischen und weltliterarischen Kategorien geübt. Davon strahlte einiges ab auf die Freundschaft Kahlers mit Broch. Die beiden Freunde waren sich mit Thomas Mann einig darin, dass man nach der Besiegung des deutschen Don Quijote der Brutalität in der amerikanischen Demokratie auf der Hut vor diktatorischen
Entwicklungen sein müsse. So ernst beide die intellektuelle
Auseinandersetzung mit Politik und Zeitgeschichte nahmen, so spielte
doch auch das von Thomas Mann an Cervantes so geschätzte Humoristische und Selbstironische in ihrer Freundschaft eine entscheidende Rolle, wie u. a. der Briefwechsel Brochs mit Kahler zeigt.
Im Frühjahr 1951 bereitete Broch eine Meerfahrt in anderer Richtung
vor: von Amerika nach Europa. Deren Höhepunkte sollten der Besuch
beim Zürcher Verleger und die Visite in der Darmstädter Akademie
sein. Er starb kurz vor der Abreise. Ich fühle mich geehrt, in Zürich, der Wahlheimat Thomas Manns und der ersten Verlagsheimat Hermann Brochs, den Friedrich-Gundolf-Preis der Deutschen Akademie
für Sprache und Dichtung entgegennehmen zu können.
Mein Dank gilt dem Präsidenten, dem Präsidium, dem Generalsekretär
und seinen Mitarbeiterinnen, dem Preis-Komitee und dem Laudator. Und Ihnen allen danke ich fürs Zuhören.