Friedrich-Gundolf-Preis

STATUT

§ 1
Der 1964 begründete Friedrich­Gundolf-Preis für die Vermittlung deutscher Kultur im Ausland dokumentiert den Anspruch der Akademie, aktiv den Kulturaustausch zwischen den deutschsprachigen Ländern und anderen Nationen (insbesondere Europas) zu fördern und mitzugestalten.

Der Preis wird aus dem Jahreshaushalt der Akademie finanziert. Er ist mit 20.000 Euro dotiert und wird jährlich im Rahmen der Frühjahrstagung vergeben.

§ 2
Der Friedrich-Gundolf-Preis würdigt hervorragende Leistungen bei der Vermittlung deutscher Kultur, insbesondere der deutschen Sprache und Literatur in nicht deutschsprachigen Ländern. Dabei können auch Übersetzungsleistungen berücksichtigt werden, die der deutschen Literatur in anderen Sprachen Wirksamkeit verschafft haben.

§ 3
Der Preis darf nicht geteilt werden.

Kann der Preis aus zwingenden Gründen nicht ausgehändigt werden, so bleibt es dem Erweiterten Präsidium überlassen, die Verleihung des Preises auf das nächste Jahr zu verschieben.

§ 4
Eine Fachkommission der Akademie berät über Kandidatinnen und Kandidaten für den Friedrich-Gundolf-Preis. Sie besteht aus sieben sachkundigen Mitgliedern, die von der Mitgliederversammlung gewählt werden.

Auf der Grundlage des Vorschlags dieser Kommission für den Friedrich-Gundolf-Preis entscheidet das Erweiterte Präsidium über den Träger bzw. die Trägerin des Preises.

Eigenbewerbungen sind nicht möglich.

Beschlossen vom Erweiterten Präsidium am 24. März 2021

Mazzino Montinari

Germanist und Historiker
Geboren 4.4.1928
Gestorben 24.11.1986

... dem sorgfältigen und kenntnisreichen Germanisten, dem Mittler zwischen Italien und Deutschland, besonders aber dem selbstlosen und tatkräftigen Nietzsche-Philologen.

Jurymitglieder
Kommission: Beda Allemann, Claude David, Eduard Goldstücker, Herman Meyer

Mitglieder des Erweiterten Präsidiums

Laudatio von Karl Pestalozzi
Germanist, geboren 1929

Mazzino Montinaris Person und germanistische Tätigkeit verbinden sich für uns − und das wird auch für viele nach uns so sein − mit dem Werk Friedrich Nietzsches. Sein Name steht auf bisher 21 Bänden der Kritischen Nietzsche-Gesamtausgabe, die auch als Taschenbuch-Studienausgabe und ins Italienische und Französische übersetzt vorliegt. Er gibt eine umfassende Sammlung von Nietzsches Briefen heraus, 16 Bände, er ist Initiator und Mitherausgeber der Nietzsche Studien, bisher 13 Bände, er hat zahlreiche Vorträge und Aufsätze zu Nietzsche verfaßt. Wo er als Herausgeber erscheint, ist er nicht der Koordinator eines weitläufigen Teams. Selber saß er jahrelang in Weimar über Nietzsches Manuskripten. Er hat die meist im Gehen niedergeschriebenen Notizen entziffert, hat Zusammenhänge unter ihnen und mit den gedruckten Werken rekonstruiert, ihren Lektüre-Anregungen nachgespürt; noch die Herstellung eines druckfertigen Manuskripts und die Fahnenkorrekturen lagen auf ihm. Man kann nur staunen, wenn man sich vorzustellen sucht, welche innere und äußere Kraft, welch ein Gedächtnis, welche nie erlahmende Aufmerksamkeit dazu nötig sind. Es ist eine Arbeit über Jahrzehnte hinweg; neben einer mit Liebe umsorgten großen Familie und, seit gut zehn Jahren, neben den täglichen Pflichten eines germanistischen Ordinariats, erst in Urbino, dann in Florenz, nun in Pisa. Mazzino Montinaris Dienst an Nietzsche ist möglicherweise eine der letzten großen Ein-Mann-Leistungen in der Philologie.
Wer sich in dieser Weise für Nietzsche engagiert, gerät unvermeidlich in Auseinandersetzung mit jenen unheilvollen Bewegungen unseres Jahrhunderts, die sich zur ideologischen Rechtfertigung mit Vorliebe auf Nietzsche beriefen, mit dem italienischen Faschismus und dem Nationalsozialismus. Deren Beschlagnahmung Nietzsches, auch wenn sie nicht so einhellig war, wie es uns rückblickend erscheint, illustriert jene bekannte demonstrativsymbolische translatio: Elisabeth Förster-Nietzsche überreichte Hitler 1934 bei seinem Besuch im Weimarer Nietzsche-Archiv einen Spazierstock ihres Bruders. Und Hitler ließ 1943 Mussolini zum 60. Geburtstag, er war da bereits in Gefangenschaft bei der italienischen Marine, eine kostbar gebundene Ausgabe der gesammelten Werke Nietzsches zukommen, die Mussolini früher schon gelesen hatte. Sätze wie der aus Nietzsches »Fröhlicher Wissenschaft«, das Geheimnis, den Genuß des Daseins einzuernten, heiße »gefährlich leben«, und ähnliche Stellen aus dem »Zarathustra« konnten als Vorbereitung des »vivere pericolosamente« erscheinen, das sich die Faschisten auf die Fahnen geschrieben hatten.
Für Mazzino Montinaris innere und äußere Legitimation zu seiner Lebensaufgabe war und ist es entscheidend, daß er, sechs Jahre nach dem Marsch auf Rom geboren, aber nach Mazzini getauft, als Gegner des Faschismus zum ersten Mal auf Nietzsche stieß. 1943 wurde er in Lucca wegen einer antifaschistischen Demonstration mit ändern zusammen von der Schule ausgeschlossen. Sie lasen darauf bei geheimen Zusammenkünften Plato, Kant und den »Zarathustra«. Auf Nietzsche waren sie durch ihren jungen Philosophieprofessor Giorgio Colli aufmerksam gemacht worden, von dem sie auch die Opposition gegen den Faschismus gelernt hatten; er konnte danach in die Schweiz flüchten. Von Giorgio Colli, einem gentiluomo nach Geist und Statur, ging später die Anregung zu einer neuen italienischen Nietzsche-Übersetzung aus, und er beteiligte sich an der Kritischen Nietzsche-Gesamtausgabe, bis er, leider schon 1979, starb. Im weitergeführten Miteinander der Namen Giorgio Colli und Mazzino Montinari auf jedem Band der Werk- und der Briefausgabe ist diese Vorgeschichte gegenwärtig. Sie machte beider Eintreten für Nietzsche von allem Anfang an nicht nur unverdächtig, sie prädestinierte sie dazu, Nietzsches Werke gereinigt und erstmals vollständig allen daran Interessierten zugänglich zu machen.
Mit dieser Jugendepisode, die Mazzino Montinari in seinem Vortrag »Über die neue kritische Gesamtausgabe« erzählt, stand noch keineswegs fest, daß Nietzsche zu edieren seine Lebensaufgabe würde. Der Weg dahin führte, nach einer kirchengeschichtlichen Dissertation, über die Übersetzung einer Reihe anderer Autoren aus dem Deutschen ins Italienische: Franz Mehring, Karl Kautsky, Georg Lukács, ferner Goethe, Arthur Schopenhauer, Jacob Burckhardt, Sigmund Freud. Diese Zusammenstellung könnte diesseits der Alpen erstaunen. Doch ist sie wie alles, was Mazzino Montinari ist und tut, in keiner Weise beliebig, sondern zeugt von einer ganz persönlichen Legierung von Humanität, Sozialismus und Skepsis, die ergibt, was man vielleicht Lebensfreundlichkeit nennen darf. Er ist selber − zum Glück − kein Nietzscheaner. In der umfassenden runden Menschlichkeit seiner Person, die besonders auch die Fähigkeit einschließt, eines Freundes Freund zu sein, liegt für mich die unmittelbarste und tiefste Garantie für die Unbescholtenheit seines Eintretens für Nietzsche.
Mazzino Montinari hat sich Nietzsche als Historiker, der er von Hause aus ist, und als Philologe genähert. Es war das philologische Bedürfnis nach einem gesicherten Text als Grundlage seiner Übersetzung ins Italienische, das ihm die Misere der vorliegenden Ausgaben von Nietzsches Nachlaß, die Karl Schlechta 1956 erstmals publik gemacht hatte, zum praktischen Problem werden ließ. Er erkannte, daß es nicht zu umgehen sei, zu den Quellen zurückzusteigen und nochmals von Nietzsches Handschriften her anzufangen. Das Neue seiner Ausgabe besteht vor allem darin, daß sie Nietzsches nachgelassene Aufzeichnungen vollständig wiedergibt, ganz so, wie sie in den Notizheften stehen und aufeinander folgen. Viele Nietzsche-Texte sind darin überhaupt zum ersten Mal zugänglich. Auf jede eigenmächtige Systematisierung ist verzichtet. So wird beispielsweise ersichtlich, welch wechselvolles Schicksal die suggestive Formel »Willen zur Macht« als Titel eines Buches, das nie geschrieben wurde, durchlief. Die Aphorismen Nietzsches erscheinen nun als Einfälle eines grundsätzlich experimentierenden Denkens, dem nichts ferner lag als endgültige Wahrheiten. − Wie Mazzino Montinari durch diese Präsentation des Nachlasses als Philologe der Verabsolutierung einzelner Gedanken Nietzsches entgegenwirkt, so wirkt er als Historiker darauf hin, Nietzsche aus der Stilisierung zum einsamen Propheten in den Kontext seiner Epoche zurückzuholen. Seine Forschungen zu Nietzsches Lektüre weisen nach, daß Nietzsche ein unermüdlicher Leser zeitgenössischer Autoren war und oft der Widerspruch zu ihnen, oft auch ihre Parodierung am Anfang eigener Gedanken und Formulierungen stand. Mazzino Montinari hat viele jüngere Forscher angeregt, solchen produktiven Lese-Beziehungen nachzuspüren. Ihre und seine eigenen Ergebnisse, die in den Nietzsche-Studien ihr Forum haben, machen deutlich, wie stark Nietzsche dem Geist des 19. Jahrhunderts verhaftet war, gegen den er sich so sehr sträubte.
Mazzino Montinaris Bemühungen um Nietzsche zeigen beispielhaft, daß die Germanistik im Ausland nicht einfach als Provinz, gar als Kolonie der deutschsprachigen zu betrachten ist. Von anderen sprachlichen, kulturellen und politischen Bedingungen können Impulse ausgehen, welche die einheimische Germanistik, aus welchen Gründen auch immer, nicht aufbringen kann. Es ist kein Zufall, daß sich nach Karl Schlechta kein deutscher Germanist an die Neuerarbeitung des Nietzsche-Nachlasses gewagt hat. Die »völkische« Nietzsche-Interpretation, die Tatsache, daß das Nietzsche-Archiv in Weimar liegt, auch wenn es dort aufs sorgfältigste verwaltet wird und der Forschung zugänglich ist, schließlich die Präokkupation der deutschen Nachkriegsgermanistik durch die Bemühungen um ein neues Selbstverständnis standen im Wege. Daß Mazzino Montinari als italienischer Germanist alle Voraussetzungen besaß, die es brauchte, die Fackel der Nietzsche-Philologie zu übernehmen, vor allem aber, daß er es auch wirklich tat, ist ein ungewöhnlicher Glücksfall. Dank ihm haben nun die Nietzsche-Forschung und die Nietzsche-Leser überhaupt erstmals eine Textbasis zur Verfügung, die so vollständig, zugleich so transparent ist wie noch nie. Man sagt nicht zuviel, wenn man das als Geschenk an die deutsche, ja an die europäische Kultur bezeichnet.
Mazzino Montinari versteht sich als Philologe und Historiker, was zur Folge hat, daß er sich bewußt neuer, gar spektakulärer Nietzsche-Interpretationen enthält. Seine eigenen Arbeiten hat er unter dem zurückhaltenden Titel »Nietzsche lesen« veröffentlicht. Darin macht er vor, wie man etwa mit den von ihm bereitgestellten Nietzsche-Texten umgehen kann, wie sie sich nun vielfach selber erhellen, wenn man sie nur mit wachem Sinne aufnimmt. Doch bleibt er nicht beim Aufzeigen textimmanenter Bezüge. Sein idealer Nietzsche-Leser wäre derjenige, der sich von Nietzsche zum eigenen Denken und zur permanenten Kritik daran erziehen ließe. Wegleitend dafür ist ihm ein Ausspruch von Nietzsches Basler Freund Franz Overbeck: »Nietzsche ist ein Mensch, in dessen Nähe ich am freiesten geatmet und demgemäß auch meine Lungen für den Gebrauch im Bereich menschlichen Daseins, zu dem in Beziehung zu treten mir überhaupt beschieden gewesen ist, am erfreulichsten geübt habe.« Warnungstafel ist der Satz Thomas Manns: »Wer Nietzsche ›eigentlich‹ nimmt, wörtlich nimmt, wer ihm glaubt, ist verloren.« Kaum merklich geht hier die philologisch-historische Bescheidung, wie sie Mazzino Montinari übt, ins Moralische über.
Es kann der Eindruck entstanden sein, die befreiende Tat von Mazzino Montinaris philologisch-historischer Arbeit an Nietzsche habe ihren Widerpart in überstandenen Ideologien und deren Umfeld. Im Vorwort zu »Nietzsche lesen« stellt er jedoch fest, daß sich heute »oft mit der neuen Gesamtausgabe und durch sie«, ein eigener Nietzscheanismus bilde, »und zwar aus dem ganz einfachen Grunde, weil sich die Massenbedürfnisse und Modeerscheinungen unserer Zeit nach eigenen Gesetzen und Ursachen entwickeln, gegen die − so lange sie am Werke sind − der kritische Geist und der historische Sinn ohnmächtig bleiben«. Man muß noch weitergehen und darauf hinweisen, daß der neue Nietzscheanismus es gerade auf den kritischen Geist und den historischen Sinn abgesehen hat. Nietzsche ist ihm ein früher Kronzeuge der Hoffnung, mit dem Menschen als individuellem und logoszentriertem Wesen gehe es allmählich dem Ende entgegen, man habe deshalb alles daranzusetzen, diesen Untergang zu beschleunigen. Auf diesem Hintergrund erscheint Mazzino Montinaris individuelle Lebensleistung auch als Widerstand nach vorn, als Verteidigung Nietzsches gegen die Apokalyptiker unter seinen Verehrern.

Generationenlang haben Deutsche, unter ihnen auch Nietzsche, den Süden als eine »Schule der Genesung« von der nordischen »Dunst- und Nebelwelt« aufgesucht. Mazzino Montinari ist den umgekehrten Weg gegangen und hat in einen Bereich, für den die Dunst- und Nebel-Metapher besonders angebracht ist, mediterrane Helle, Klarheit und Konturen gebracht. Mit der Verleihung des Friedrich-Gundolf-Preises wird ihm heute dafür öffentliche Anerkennung zuteil. Unser aller bewundernder Dank ist begleitet vom Wunsch, Gesundheit, geistige Spannkraft und günstige Umstände mögen es Mazzino Montinari gestatten, sein Werk zu Ende zu bringen im Sinne seiner selbstgewählten Verpflichtung für Mitwelt und Nachwelt.