Friedrich-Gundolf-Preis

STATUT

§ 1
Der 1964 begründete Friedrich­Gundolf-Preis für die Vermittlung deutscher Kultur im Ausland dokumentiert den Anspruch der Akademie, aktiv den Kulturaustausch zwischen den deutschsprachigen Ländern und anderen Nationen (insbesondere Europas) zu fördern und mitzugestalten.

Der Preis wird aus dem Jahreshaushalt der Akademie finanziert. Er ist mit 20.000 Euro dotiert und wird jährlich im Rahmen der Frühjahrstagung vergeben.

§ 2
Der Friedrich-Gundolf-Preis würdigt hervorragende Leistungen bei der Vermittlung deutscher Kultur, insbesondere der deutschen Sprache und Literatur in nicht deutschsprachigen Ländern. Dabei können auch Übersetzungsleistungen berücksichtigt werden, die der deutschen Literatur in anderen Sprachen Wirksamkeit verschafft haben.

§ 3
Der Preis darf nicht geteilt werden.

Kann der Preis aus zwingenden Gründen nicht ausgehändigt werden, so bleibt es dem Erweiterten Präsidium überlassen, die Verleihung des Preises auf das nächste Jahr zu verschieben.

§ 4
Eine Fachkommission der Akademie berät über Kandidatinnen und Kandidaten für den Friedrich-Gundolf-Preis. Sie besteht aus sieben sachkundigen Mitgliedern, die von der Mitgliederversammlung gewählt werden.

Auf der Grundlage des Vorschlags dieser Kommission für den Friedrich-Gundolf-Preis entscheidet das Erweiterte Präsidium über den Träger bzw. die Trägerin des Preises.

Eigenbewerbungen sind nicht möglich.

Beschlossen vom Erweiterten Präsidium am 24. März 2021

Isidor Levin

Volkskundler, Erzählforscher und Theologe
Geboren 20.9.1919

... einen der letzten großen Repräsentanten der deutsch-baltisch-skandinavischen Wissenschaftskultur der zwanziger und dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts, die mit dem Einmarsch deutscher Truppen in Estland 1941 untergegangen ist.

Jurymitglieder
Kommission: Heinrich Detering, Norbert Miller, Ilma Rakusa, Lea Ritter-Santini, Jean-Marie Valentin

Mitglieder des Erweiterten Präsidiums

Laudatio von Alexander Gavrilow

Vorbildhaft und mitreißend

Sehr verehrter Herr Präsident, verehrte Gastgeber, liebe Gäste und Kollegen, meine Damen und Herren,

ich danke Ihnen für die Gelegenheit, vor dieser Versammlung über Isidor Levins lange, zum Teil exotische und zugleich überaus fruchtbare literarische Laufbahn zu sprechen und ihm damit zugleich meinen persönlichen Dank abzustatten.
Isidor Levin ist der geborene Kulturvermittler, und er bringt dafür etwas mit, was heute recht selten geworden ist: außerordentliche Sprachkenntnisse, diese conditio sine qua non jeder Kulturvermittlung. Sein Großvater war in Daugavpils (deutsch Dünaburg), einem vielsprachigen Zentrum der multikulturellen Provinz Letgallen, ansässig. In der väterlichen Firma, die »Internationale Spedition« hieß, waren ein ehemaliger deutscher Leutnant, ein Pole und eine Russin angestellt. Von Haus aus konnte Isidor Levin Jiddisch und Lettisch; einmal eingeschult, lernte er außer Deutsch, Latein und Russisch auch noch das Alt-Hebräische, welches im »Hebräischen Gymnasium« in Dünaburg anstelle des Griechischen angeboten wurde; außer der Bibel studierte man z. B. auch die Geometrie auf hebräisch.
Für die weitere Ausbildung war die Universität Dorpat – Juriew – Tartu (die internationalste von allen baltischen Universitäten) eine natürliche Wahl. Dort eignete sich Levin in zwei Semestern das Estnische an – immerhin die siebte Fremdsprache –, um den Vorlesungen des Bibelforschers und Orientalisten Uku Masing folgen zu können. Die Wissenschaftsauffassung Masings, der sich in Tübingen und Berlin akademisch qualifiziert hatte, war allerdings ganz und gar von den deutschen Geisteswissenschaften geprägt. Trotz der Begeisterung der baltischen Republiken für ihre nationale Rückbesinnung sprach die Wissenschaft an der Universität Tartu doch vor allem deutsch. Daher kommen Levins Vertrautheit mit dem Deutschen als Wissenschaftssprache sowie seine Affinität zu den geisteswissenschaftlichen Traditionen Deutschlands.
Bei Lazar Gulkowitsch, einem bedeutenden Judaisten, der nach 1933 von Leipzig nach Tartu berufen worden war, konnte Isidor Levin seine semitologischen Kenntnisse vertiefen. Hinzu kam als Lehrer der große Folklorist Walter Anderson – die Säule der finnisch-estnischen geographisch-historischen Schule. Dieser bedeutende Erzählforscher war mit Estland, Rußland und Deutschland gleichermaßen verbunden (wie die Familie von Georgij Albrecht, dem Vater des anderen heutigen Preisträgers, verweilten die Andersons zeitweilig im traditionsreichen Kazan). Von Walter Anderson wußten die Dorpatenses zu erzählen, daß er die 40 Sprachen, über die er verfügte, alle mit einem deutschen Akzent aussprach und nur die deutsche mit einem russischen. Levin wie Anderson ging es weniger um einzelne Sprachen als vielmehr um ganze Sprachsippen. Mehrere germanische, baltische, slawische, romanische (in Tartu hat er das rigorose Latinum magnum abgelegt) und finnougrische Sprachen sind Levin geläufig und für Forschungszwecke verfügbar – ebenso wie neuere und ältere Ausprägungen der semitischen Sprachen. Levins hochliterarisches und raffiniert präzises Russisch muß sich in seiner späteren Lebensperiode ausgebildet haben.
In der frühen Epoche seines Lebens erscheint Levin wie ein mozartisches Wunderkind, doch sollte er bald schon, und zwar ab 1940, von den totalitären Furien, zunächst den russischen, dann den deutschen, dann wieder den russischen, heimgesucht werden. Um unser heutiges Fest nicht zu düster zu stimmen, erwähne ich nur, daß er beinahe vier Jahre in deutscher Haft und im KZ Stutthof bei Danzig verbrachte, darauf aber auch noch acht Monate in sowjetischem Gefängnis. Die spätere Laufbahn in Rußland stand also von Anfang an unter keinem günstigen Stern. Der Prozeß der Eingewöhnung in die sowjetischen Realitäten ging um so schwieriger vor sich, als Levin sich dem politischen Druck in der SU nicht anpassen wollte, wenn er es auch nie ablehnte, im Interesse der einheimischen Kulturen, ob es sich nun um die russische oder irgendeine andere wie die tadschikische oder armenische handelte, aktiv einzusetzen.
So war es nicht verwunderlich, daß Levin bald nach seinem Eintreffen in Leningrad wesentliche Mängel des Fremdsprachenunterrichts in der SU konstatierte. Zusammen mit dem westdeutschen Sprachdidaktiker H. Kessler hat er ein deutsches Lernbuch ausgearbeitet, in das er vieles von seinem praktischen Können und seinen theoretischen Vorstellungen einbrachte. Das Büchlein von 120 Seiten (Deutsch für Ausländer. Leichter Anfang Teil 1; 1962 in Königswinter erschienen) macht von keinem einzigen nichtdeutschen Wort Gebrauch, so daß das Lehrwerk von der jeweiligen Muttersprache des Studierenden völlig unabhängig ist. Auch in Vologda, Nowgorod und in den Südrepubliken der SU hat Levin seine didaktische Kunst erprobt. Die indoktrinierten Pädagogen warfen seinem Lernbuch allerdings vor, daß da schlicht von ›Deutschland‹ gesprochen wurde, nicht von der BRD oder der DDR und dgl. mehr.
In diesen Tauwetterjahren hat Levin dank einer einmaligen Gunst der Stunde einen – leider insgesamt weniger als vier Semester dauernden – Lehrauftrag an der Universität Leningrad erhalten. Als Student erlebte ich 1961/62 seine auf deutsch gehaltenen Vorlesungen zur »Deutschen Volkskunde«. Sie sind in der Geschichte des Unterrichts an der hiesigen Philologischen Fakultät singulär geblieben. Hier wurde der Zuhörer mit dem gesprochenen, literarisch fein abgewogenen Deutsch konfrontiert, nicht als einem didaktischen Gegenstand, sondern als einem Vehikel des Wissens und der intellektuellen Einsicht. Man lernte Levin als einen Forscher und Denker kennen, auf den ein Wort Gundolfs über Schleiermacher passen würde: »In seinem Geist lösten sich wie in einer Säure die festesten Gegenstände auf.«
1967 hat sich Levin im »Moskauer Institut für Orientalistik« mit einer Untersuchung über die Etanasage habilitiert. Die vielleicht fünftausendjährige Erzählung vom Flug des Adlers mit dem Menschen Etana durch die Lüfte hat der Schüler Andersons anhand von ca. 400 Varianten im Zusammenhang mit dem Erzählgut vieler Völker studiert. Nun, das ›Autoreferat‹ war – wie es sich gehörte – auf russisch abgefaßt, als Veröffentlichungen des Verfassers zum Thema wurden jedoch neben einem einzigen russischen Aufsatz fünf deutsche aufgeführt, einer von diesen – ich fühle bis heute noch einen heiligen Schauder davor – stand in den Hessischen Blättern für Volkskunde, was sich in der sowjetischen Atmosphäre merkwürdigerweise wie ein Attentat anhörte!
Trotz einer gewissen Isolierung Levins in Leningrad bemerkte man gerade in jener Zeit, daß die Großfürsten der sowjetrussischen Wissenschaft (der bedeutendste Leningrader Finnougrist D. Bubrich, Folkloristen wie V. Propp und M. Azadowskij; Germanisten wie V. Zhirmunski; Bibel- und Orientforscher wie I. Djakonoff und J. Amussin; der in Wien ägyptologisch geschulte Russist P. Berkov, der Übersetzer und Literaturkenner Jefim Etkind und andere) – daß diese Granden Levin sehr wohl kannten und ausgesprochen schätzten. Einige von ihnen haben ihm sogar auch geholfen, in der bedrückenden Atmosphäre der Zeit einige seiner Ziele durchzusetzen.
Den Fachleuten in aller Welt ist Levin als Märchen- und Erzählforscher bekannt. Sein Lebensgang und seine wichtigsten Schriften werden in der Enzyklopädie des Märchens unter dem Lemma »Levin« dargestellt, recht passend im Reich der Mitte zwischen Leviathan und Claude Levi-Strauss platziert. Dennoch ist Levin in Rußland exterritorial geblieben. Seine großangelegten Forschungsunternehmen hat er in Tadschikistan und Armenien durchgeführt – wofür einer der führenden Folkloristen, Archer Taylor, die beiden Siglen TSL und ASL vorgeschlagen hat – als ob seine Systematiken zur Erfassung der mündlichen Kulturen dieser beiden Regionen schon ein klassischer Kodex seien.
Levin wohnte zeitlebens in Leningrad, obgleich er hier nie eine Anstellung fand; und seine vor allem deutschsprachigen Untersuchungen wurden vorwiegend im westlichen Ausland gedruckt. Warum dann überhaupt diese Wahlheimat Rußland? Mußte es ihm nicht klar sein, daß die entsprechende Zwitter-Rezeption die Resonanz seiner Arbeiten verdoppeln oder aber umgekehrt halbieren konnte? Levin läßt an verschiedenen Stellen seiner Schriften immerhin Gründe dafür erahnen, wieso er, von der Liebe zu Rußland keinesfalls geblendet, dennoch hier geblieben ist. Als ein eurasischer Vielvölkerstaat mit gewissen Traditionen der Erforschung mündlicher Überlieferungen ist Rußland für einen Kulturforscher wie ihn in fachlicher Hinsicht kein schlechter Standort. Nicht zuletzt gibt es hier, dank der deutsch-russischen Zusammenarbeit seit dem 18. und 19. Jahrhundert Grundlagen, an die man anknüpfen konnte. So hat es Levin als seine Aufgabe betrachtet, russische Forschungen dem westlichen Leser zu vermitteln, die Erträge der deutschen und internationalen Forschung dagegen den russischen Gelehrten verfügbar zu machen. Am wichtigsten für seine Entscheidung war aber wohl etwas anderes. Darüber hat er sich in einem Vortrag in Wien zu Theodor Herzl geäußert: Alles, was er in den 40er Jahren erlebt habe, führt ihn zu dem Entschluß, sich künftig nicht nach dem »warum«, sondern nach dem »worum« zu richten; demzufolge sei er dort geblieben, wo sein Wissen und Können am nötigsten gewesen wären.
Geistig unabhängig und gelassen, würdig abseits stehend und völlig ungebrochen seinem wissenschaftlichen Lebenswerk hingegeben, so wirkte Levin sein Leben lang in diesem Lande und über es hinaus. Nicht umsonst hat er mir einmal diese alte deutsche Wendung nachdrücklich empfohlen: Das »Wirken« in der Vita eines Gelehrten sei keine konkret faßbare Aktion, geschweige denn irgendeine strukturierte Aktivität, sondern vielmehr etwas Geistigeres, Unfaßbares, dafür aber unverfälschbar Wirkungsvolles.
Levins Wirkung in Rußland ist bestimmt auf einen relativen kleinen Kreis beschränkt gewesen, doch kann es sein, daß sie sogar auch breiteren Anklang findet. So wenden sich immer häufiger politische Journalisten an den Volkskundler Levin, wenn sie Fragen nach ethnischen Konflikten stellen, um dann von dem geschworenen Feind, aller Volkstümelei zu hören, daß es keine Völker (im Sinne von Ethnien) gibt. Wenn es einen radikalen Verfechter der heute im Westen so heiß diskutierten Ideen einer cultural mobility, von grenz- und kulturübergreifenden Austauschprozessen gibt, dann ist er es.
Der erste Präsident Estlands nach 1991, L. Meri, verlieh dem ehemaligen Tartu-Absolventen Levin kürzlich den »Weißen Stern« der Republik Estland und verbrachte die letzten zwei Tage seiner zweiten Präsidentschaft im Gespräch mit dem heutigen Preisträger: Da Meri zu Beginn des Zweiten Weltkriegs in Sibirien weilte, wollte er von Levin wissen, was in jenen kritischen Monaten und sogar Stunden in Tartu vor sich ging.
Daß heute die »Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung« zusammen mit anderen Repräsentanten der deutschen Kulturwelt sowie Vertretern der Petropolis docta diese Ehrung für Isidor Levin veranstaltet, mag als Beleg für das gelten, was Levin in seinem Aufsatz Zur Herkunft des russischen Märchenrepertoirs einmal folgendermaßen ausgedrückt hat: »die Erde sei glücklicherweise noch rund, so nimmt jede Entfernung einerseits zu, andererseits ab, je nachdem, wohin man schaut«. Die Deutsche Akademie erkennt die Verdienste eines Mannes an, der die deutsche Sprache, besonders als Instrument der Wissenschaft, vorbildhaft und mitreißend verwendet hat, und dies in einer Zeit, in der die Deutschen nicht nur Beiträge zur Menschlichkeit geleistet haben. Rußland, das von der übrigen Welt durch eine abstruse Politik so lange abgesperrt war, hat in ihm seinerseits ein Beispiel für eine stolzere Geisteshaltung, für das, was alteuropäische Bildung zu gewähren imstande war.
Die »Internationale Spedition«, die sein Vater in Daugavpils-Dünaburg-Dwinsk aufgebaut hatte, hat Isidor Levin ehrenvoll und gewinnbringend weitergeführt.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit!