Friedrich-Gundolf-Preis

STATUT

§ 1
Der 1964 begründete Friedrich­Gundolf-Preis für die Vermittlung deutscher Kultur im Ausland dokumentiert den Anspruch der Akademie, aktiv den Kulturaustausch zwischen den deutschsprachigen Ländern und anderen Nationen (insbesondere Europas) zu fördern und mitzugestalten.

Der Preis wird aus dem Jahreshaushalt der Akademie finanziert. Er ist mit 20.000 Euro dotiert und wird jährlich im Rahmen der Frühjahrstagung vergeben.

§ 2
Der Friedrich-Gundolf-Preis würdigt hervorragende Leistungen bei der Vermittlung deutscher Kultur, insbesondere der deutschen Sprache und Literatur in nicht deutschsprachigen Ländern. Dabei können auch Übersetzungsleistungen berücksichtigt werden, die der deutschen Literatur in anderen Sprachen Wirksamkeit verschafft haben.

§ 3
Der Preis darf nicht geteilt werden.

Kann der Preis aus zwingenden Gründen nicht ausgehändigt werden, so bleibt es dem Erweiterten Präsidium überlassen, die Verleihung des Preises auf das nächste Jahr zu verschieben.

§ 4
Eine Fachkommission der Akademie berät über Kandidatinnen und Kandidaten für den Friedrich-Gundolf-Preis. Sie besteht aus sieben sachkundigen Mitgliedern, die von der Mitgliederversammlung gewählt werden.

Auf der Grundlage des Vorschlags dieser Kommission für den Friedrich-Gundolf-Preis entscheidet das Erweiterte Präsidium über den Träger bzw. die Trägerin des Preises.

Eigenbewerbungen sind nicht möglich.

Beschlossen vom Erweiterten Präsidium am 24. März 2021

Isidor Levin

Volkskundler, Erzählforscher und Theologe
Geboren 20.9.1919

... einen der letzten großen Repräsentanten der deutsch-baltisch-skandinavischen Wissenschaftskultur der zwanziger und dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts, die mit dem Einmarsch deutscher Truppen in Estland 1941 untergegangen ist.

Jurymitglieder
Kommission: Heinrich Detering, Norbert Miller, Ilma Rakusa, Lea Ritter-Santini, Jean-Marie Valentin

Mitglieder des Erweiterten Präsidiums

Geistige Brücken zwischen Menschen

Hochverehrter Herr Akademie-Präsident, geehrte Juroren, liebe Kollegen, meine Damen und Herren,

der hochgeschätzte Gundolf-Preis wird für die »Vermittlung deutscher Kultur im Ausland« verliehen. Bevor man diese edle, dichte Materie vermittelt, veräußert, muß man sie unmittelbar verinnerlicht haben. Erst lernen, dann lehren...
Gestatten Sie mir bitte, einige Quellen meines Wissens, eigentlich meines Lebens, zu offenbaren.
Mein Einstieg in die Geisteswissenschaft begann noch in der Oberprima. Wir waren 1936 für das Abiturexamen schon reif, als das Bildungsministerium Lettlands die Schulzeit um ein Jahr verlängert hatte. Da gab es für mich reichlich Zeit für ein Privatissimum in biblisch-hebräischer, auch talmudisch-aramäischer Sprache und Literatur, die ich noch früher lernte.
Ich hatte einen Verwandten, der in Basel Medizin und Chemie studierte. Dieser Verwandte – ein Adept deutscher Kultur – machte mich mit der Schweizer Psychiatrie bekannt und schenkte mir die Psychodiagnostik von Hermann Rorschach. Da fing ich an, mit den zufälligen Tintenklecksen zu experimentieren, die der Prüfling zu deuten hatte. Die »Inhalte« der Perzeption wurden qualitativ registriert und anschließend durch Korrelationen quantifiziert, als Symptome ausgewertet. Bald bekam ich auch Sigmund Freuds Einführung in die Psychoanalyse, auch sein Werk Traumdeutung zu lesen, die mir eine innere, quasi unbewußte Welt eröffneten. Freud und seine Anhänger behandelten, d. h. lediglich deuteten auch sprachliche, literarische Phänomene sowie volks- bzw. völkerkundliche Erscheinungen, z. B. Mythen, Witze, Sitten und Bräuche und dergleichen. Dieses Gebiet hat mich gefesselt.
Im Genuß dieser Propädeutik und mit geschärftem Blick auf Menschen wurde ich 1937 als Student der Philosophischen Fakultät der Universität Tartu / Estland immatrikuliert.
Zuerst hörte ich alle Vorlesungen über die »Wissenschaft vom Judentum« − das war eine ausgesprochen deutsche Wissenschaft, die trotzdem nach 1933 in Deutschland ausgemerzt wurde. Demzufolge wurde 1934 in Estland (befürwortet aus Berlin von Albert Einstein, Leo Baeck und anderen) an der Universität Tartu ein Lehrstuhl für Jüdische Wissenschaft eingerichtet. Berufen wurde der Leipziger Professor Lazar Gulkowitsch, der »zeitweilig« auf deutsch lehren durfte.
Als ich die estnische Sprache erlernt hatte, wählte ich als Hauptfach »Vergleichende Volkskunde«, die der berühmte Polyglotte und Märchenforscher Professor Walter Anderson lehrte.
Volkskunde galt seit Jacob Grimm als deutsche Wissenschaft, auch wenn man sich mit romanischem, slawischem, finnischem Altertum befaßte.
Die Folkloristik indes versteht man jetzt als Wissenschaft von der Varianz beliebigen Stoffes, die während der Überlieferung entsteht und schriftlich fixiert wurde, ganz gleich: wo? wann? zu welchem Zweck und in welcher Sprache?
Bei Anderson war es pure Textologie, die aufgrund zugänglicher Belege, Entstehungsort und -zeit die Urform, den genuinen Inhalt ermittelt. Allgemeine Theorien, auch Jacob Grimms von der Volksseele bzw. »kollektivem Bewußtsein« und dgl., verwies er in die »Mottenkiste der Romantik«...
Hiermit waren allerlei Deutungen eines geistigen, geworteten Phänomens, etwa aufgrund eines singulären, zufälligen Textes, á la Freud, C. G. Jung, Alfred Adler et composita up to date, auch für mich hinfällig. Immerhin wollte ich auch die gängigen allgemeinen Theorien über Sprache, Literatur, Geschichte, insbesondere Religionen anhand der Quellen kennenlernen. So wählte ich Studienfächer der Religionswissenschaftlichen (Theologischen) Fakultät.
Mein Lehrer in biblicis, überhaupt in orientalischer Kulturgeschichte wurde Professor Uku Masing, ein Este – Ordinarius für Alt-Testamentliche Wissenschaft, die bekanntlich aus Deutschland stammt. Prof. Masing hatte an mehreren Doktorseminaren in Tübingen und Berlin teilgenommen. Er brachte eine erlesene Gelehrsamkeit und sachkundig ausgewählte Bücher mit. Ich habe alle seine Vorlesungen und Seminare besucht. Er nahm mich später in Untermiete und ließ mir durch seine Privatbibliothek und allabendliche Gespräche ein Stück deutscher Gelehrtheit angedeihen. Ich war auf dem Wege, die Kultur einiger Sprachvölker philologisch zu erforschen, etwa lettisches, estnisches, slawisches, jüdisches deutsches Wort- und Denkgut, vergleichend im gegenwärtigen europäischen Zusammenhang zu verstehen. Da brach der 2. Weltkrieg aus...
Prof. Anderson, ein Balte, fühlte sich gezwungen, »heim ins Reich« zu wandern, denn er hat den Terror tatarischer Nationalisten in Kasan und den der Bolschewisten in Minsk, seiner Geburtsstadt, sattsam erlitten.
Meine baltische Heimat wurde von der Sowjetunion, im Einvernehmen mit Hitler-Deutschland, im Juni 1940 besetzt. Das war für uns ein Schock!
Die Theologische Fakultät (keine kirchliche Hochschule) und der Lehrstuhl für Jüdische Wissenschaft wurden sofort geschlossen. Die Professoren, u. a. Gulkowitsch und Masing wurden aus ihren Ämtern entfernt und blieben erwerbslos. Alle Fächer, die ich studiert hatte, wurden sowjetisch entwertet oder marxistisch-leninistisch gleichgeschaltet. Meine Pflichtexamina, somit das Studium habe ich noch vor der Sowjetisierung der Universität abgelegt, habe jedoch die Immatrikulation behalten, freilich ohne Stipendium und Arbeitsstelle...
Die I. sowjetische Okkupation Estlands dauerte genau ein Jahr. Am 2. Juli 1941 nach einigen zusätzlichen Prüfungen erhielt ich mein Diplom und nahm Abschied von der Universität, ich blieb gewissermaßen illegal unter deutscher Besatzung auf einem Bauernhof.
Am 16. März 1942 wurde ich bei einer Razzia in Südestland vom »Sicherheitsdienst« unter Verdacht in Untersuchungshaft genommen und fast ein Jahr im Gefängnis festgehalten. Danach leistete ich als KZ-Häftling Zwangsarbeit beim Brückenbau deutscher Firmen. Da hegte ich die irreale Hoffnung, daß ich, wenn ich am Leben bleibe, geistige »Brücken« zwischen Menschen errichten werde... Kurz vor dem Rückzug der Wehrmacht aus Tallinn wurden viele Häftlinge, auch ich, per Schiff nach Danzig gebracht und am 1. September 1944 in das Konzentrationslager Stutthof eingeliefert. Während eines »Todesmarsches« in Richtung Ostsee wurden wir am 8. März 1945 von der Roten Armee sozusagen befreit, und zwar in erbärmlichem Zustand...
Nach einer ausgiebigen Erholung fuhr ich vor Weihnachten alleine nach Tartu. (Post factum erfuhr ich, daß meine Familie noch im Sommer 1941 in Dünaburg getötet worden war.) Mein Lehrer und bewährter Freund Uku Masing und seine Frau, denen ich mein Leben verdanke, haben den Krieg überlebt, wohnten unter der zweiten sowjetischen Okkupation erwerbslos in Tartu. Ihm wurde sein Universitätsdiplom und Titel, weil er Theologe war, rücksichtslos aberkannt; da konnte er keinerlei Lehraufträge erwarten.
Bald nach meiner Anmeldung in Tartu wurde ich verhaftet und mußte Rechenschaft geben, wie es kam, daß ich am Leben geblieben bin. Nach vielen Monaten Untersuchungshaft im Gefängnis (wo ich während der deutschen Besatzung hingerichtet werden sollte) wurde ich vor ein Kriegstribunal gestellt, wurde aber seltsamerweise »wegen Mangels rechtswidrigen Geschehens« freigesprochen. Angesichts meiner doppelten ungewöhnlichen Rettung blieb ich immerhin suspekt. Ich wollte aber meine unterbrochene wissenschaftliche Arbeit wiederaufnehmen.
Die Staatliche Universität Tartu war noch nicht befugt, Dissertationen anzunehmen, die Akademie der Wissenschaften wurde noch nicht konstituiert. Ich zog also nach Leningrad. Prof. Bubrich, Lehrstuhlinhaber für finnisch-ugrische Philologie, gab mir einen Lehrauftrag »Estnische Sprache und Kultur«. Zugleich habe ich die nötigen sowjetischen Prüfungen für eine Promotion in vergleichender Folkloristik cum laude abgelegt, obwohl ich nicht gerade sowjetische Lehrmeinungen vortrug.
Es war 1947, Gelehrte wurden des »Kosmopolitismus« bezichtigt. Prof. Asadovski, der gerade mich noch examiniert hat, wurde zwangsweise emeritiert, und Prof. Propp, der Märchenkundler, wurde von höchster Seite gerügt; er sollte mein Doktorvater werden. Ich kehrte nach Estland zurück.
Erst nach Stalins Tod 1953 wurden die ideologischen Repressalien laxer. Ich habe in Leningrad im Fernstudium die Fakultät für »Russische Sprache und Literatur« absolviert und danach auch die Aspirantur zwecks Promotion erfüllt, zumal ich an einer Monographie über das sumerisch-akkadische Etana-Märchen gearbeitet habe. Es ist ja das älteste Märchen der Welt! Für diese Dissertation habe ich den Dr. phil. habil. (1967) vom Institut für Orientalistik der Akademie der Wissenschaften in Moskau erhalten. Das wäre früher kaum denkbar gewesen, denn »die ganze Richtung« paßte in der Sowjetunion nicht, es wäre methodologisch Häresie gewesen...
Nun komme ich auf meine akademische Tätigkeit zu sprechen. In keinem Lande wurde meines Wissens soviel Zeit und Geld für den obligatorischen Fremdsprachenunterricht aufgewendet wie just in der UdSSR, trotzdem waren die Ergebnisse nirgends in Europa so miserabel wie hierzulande! Es wurde mir klar, daß man lediglich eine sorgfältig konzipierte Didaktik braucht, und zwar unter vollem Ausschluß der Muttersprache.
In kollegialer Zusammenarbeit mit Hermann Kessler, seinem Verlag für Sprachmethodik, und zwar für Ausländer, haben wir ein Lehrwerk herausgegeben. Die Unterstufe bietet einsprachig garantiert verständlich rund 1200 nützliche Wörter und dies in bestimmten grammatischen Strukturen. Hierfür braucht man 94 bis 110 Stunden in der Klasse. Für die Heran- oder Umschulung der Lehrer − 50 Stunden.
Ich habe an Hochschulen in mehreren Städten der Sowjetunion Seminare durchgeführt. Meine Zuhörer setzen die Verbreitung der Methodik des Deutschunterrichts an verschiedenen Orten erfolgreich fort.
Unser erklärtes Ziel lautete: die Verständigung der Völker durch die Sprache zu fördern. Für mich war es, wie so oft in meiner Tätigkeit, eine Sache des gefolterten Gewissens.
An der Philologischen Fakultät der Universität Leningrad habe ich etliche Semester (zum ersten Male in der Geschichte dieser sowjetischen Hochschule) Vorlesungen in deutscher Sprache, nämlich über Volkskunde Deutschlands, Österreichs und der Schweiz gehalten, bis mir diese Lehrbefugnisse aus politischen Gründen manu tacita entzogen wurden. Da nahm ich schweren Herzens Abschied vom Unterricht. Schade! Denn die Studenten erhielten einen in Sachgruppen systematisch, volkskundlich gegliederten Wortschatz, der ihnen ein realeres, geographisch-historisches Deutschlandbild ad oculos bot, zu jener unseligen Zeit, als sie kaum Aussichten hatten, ins wirkliche Ausland zu reisen...
Ich hatte es gewagt, die von den fünfziger bis in die siebziger Jahre hinein verpönte komparatistische Märchenforschung zu beleben. Es gelang, einige Märchenbücher mit meiner innovativen »Typologischen Analyse der Erzählstoffe (plots)« herauszugeben. So wurden awarische, abchasische, ossetische und andere Märchenrepertoires in russischer Sprache wissenschaftlich präsentiert. Für deutsche, d. h. auch internationale Märchenkundler habe ich im verdienstvollen Diederichs-Verlag wissenschaftliche Anthologien (z. B. aus dem Kaukasus, vom Pamir, Armenien) typologisch ausführlich kommentiert und mit kritischen Forschungsberichten im Nachwort veröffentlicht. Über die Ergebnisse der Märchenforschung betreffs Letten, Esten, Udmurten (Wotjaken), Wepsen, Russen habe ich in der Fachzeitschrift Fabula, in der Enzyklopädie des Märchens, in anderen Zeitschriften und Festschriften für meine Freunde meistens auf deutsch publiziert.
In Fortführung der »Finnischen, geographisch-historischen vergleichenden Schule« in der Volkskunde habe ich ein Dokumentationssystem für die Erfassung zerstreuter Quellen, chaotischer Unterlagen für Folklore der Sowjetunion erarbeitet und eine strenge Methodik für die Vorbereitung und Drucklegung von repräsentativen Korpuswerken vorgelegt. Ich bemühte mich, auf Fachkonferenzen dafür zu werben, damit die volkskundliche Arbeit koordiniert und optimiert für die Welt erschlossen wird.
Ich wurde von der Akademie der Wissenschaften der SSR Tadschikistan nach Duschanbe berufen, um dort in den Sammlungen Ordnung zu schaffen und Korpuswerke herauszugeben. Dafür bekam ich rund 30 junge Leute mit örtlicher Hochschulbildung anzuleiten. Es war notwendig, Lehrgänge durchzuführen, wobei ich die deutsche Philologie für sie adaptierte. Zugleich habe ich sie mit genauen Instruktionen versehen und zu teamwork angehalten. Es war ein Durchbruch in Eurasien auf dem Gebiet der Folkloristik.
Nach wenigen Jahren wurde ich auch von der Akademie Armeniens berufen, die dortigen reichen Belege materieller und geistiger Kultur systematisch zu erfassen und rund eine halbe Million Texte als Korpuswerke druckfertig zu machen. Ich fühlte mich vor die Aufgabe gestellt, den Inhalt von zwei synchronischen Folklorerepertoires, etwa Vierzeiler, einerseits iranisch-muslimischer und andererseits armenisch-christlicher, einheitlich analytisch zählbar zu erfassen und womöglich zu charakterisieren. Derartige Aufgaben pflegten Literaturwissenschaftler sowie Volkskundler intuitiv, impressionistisch zu erledigen. Ich suchte präzise, objektive, empirische Verfahren.
Ich habe mich stets bemüht, die philologische, leider angefochtene Einheit von Sprache und Literatur, wie sie noch Gundolf und nun auch die Akademie verstand, methodologisch in der Volkskunde als historische Disziplin wiederzugewinnen.
Im Laufe vieler Jahrzehnte wurde allenthalben in Europa, wohl von Jacob Grimm angeregt, allerlei mündliches Wortgut qua ›Volksdichtung‹ alias ›Folklore‹ fleißig aufgeschrieben und in Museen und Archiven für künftige Forscher deponiert.
Über Wert und Gehalt dieser Millionen von Aufzeichnungen haben etliche Gelehrtengenerationen mannigfaltig diskutiert. Es handelte sich, in voreingenommener Analogie zu den Sprachen, um Herkunft und Verbreitung, Alter, um nationale, regionale, lokale, soziale, psychologische Eigenart der Märchen, Schwänke, Lieder, Sprichwörter in diversen Sprachen; diskutiert wurde über alles, was man im Volke zu singen und zu sagen pflegte. Darüber wurden weltumfassende Theorien aufgestellt und verfochten...
Noch gegen Ende des 19. Jahrhunderts neigte man dazu, Land und Leute, Sprache und Literatur, demzufolge Volk und Folklore als begnadete »Ganzheiten« zu beurteilen, meistens romantisch volkstümelnd. Es gab hierfür, z. B. in Rußland, in der UdSSR mehr oder weniger zufälliges oder gar willkürliches Material, aber die primären Aufzeichnungen bleiben dürftig geordnet und darum für vertiefte Forschung, streng genommen, ungeeignet.
Mein Ziel wurde, ein einheitliches Dokumentationssystem für die analytische Erfassung dieses Nachlasses zwecks Gestaltung einer Quellenbasis zu schaffen.
Positivistische Forscher haben im Alleingang eine Unmenge von monographischen Untersuchungen verfaßt, aber selten wurde versucht, die Ergebnisse verallgemeinernd zu interpretieren.
Es fehlte eine exakte Methode, um die schlichte Frage nüchtern fundiert zu beantworten: was ist der Inhalt der riesigen Kollektionen? worüber wurde erzählt, gesungen, geweint oder gelacht? welche Meinungen hatten die Träger, die Sammler und Forscher der überlieferten Stoffe? (Die Notwendigkeit, die Texte zu verifizieren, wurde bona fide unterschätzt).
Ein Folklorist mußte vor allem wahrnehmen, daß jede eingelieferte Aufzeichnung nur die Reproduktion einer meistens anonymen, mehr oder weniger populären Schöpfung darstellt. Jeder Erzähler oder Sänger könnte sie von verschiedenen Personen in mehr oder weniger abweichenden Fassungen rezipiert haben. Folglich ist die erste Aufgabe, die entsprechenden Texte aus den Kollektionen zusammenzustellen. Die Unterschiede sowie die Übereinstimmungen der Fassungen, also die unvermeidliche Varianz eines überlieferten Stoffes, sollte man lege artis in einer Synopse erfassen und aufgrund dieser »Zeugen« die Urform, den Archetyp oder wenigstens die »Normalformen« ermitteln.
Wenn es schon um mehrere Hunderte von Texten geht, ist auf Gedächtnis kein Verlaß. Damit die zerstreuten Aufzeichnungen inhaltlich leicht identifizierbar werden, habe ich ein »idiotensicheres« Kennwortverfahren entwickelt, das sich manuell tausendfach bewährt hatte.
Jede Synopse der Varianz, die oft als Bündelung von »Motiven« in heterogenen Zeilen erscheint, darf man als genuinen, eigenständigen Typ (trotz möglicher Kontaminationen) anerkennen. Die Gesamtheit der Synopsen auf Typenebene ergibt ein Korpuswerk, stellt das »Repertoir(e)« dar.
Um solch eine komplexe Einheit, Entität zu charakterisieren, wie es allseits stets erwünscht wird, muß man wiederum eine exakte Methode schaffen.
Literaturforscher hatten ursprünglich mit einem bestimmten Werk – mag es auch in verschiedenen Abschriften überliefert vorliegen – zu tun. Literaturhistoriker können sich mit dem Œuvre eines ganz bestimmten namhaften Autors beschäftigen. Da wird der Inhalt eines Romans kurz zusammengefaßt und ausgelegt. So bequem hat es der Folklorist nicht. Lieder etwa, Vierzeiler oder Sprichwörter lassen sich überhaupt nicht nacherzählen.
In der Meinungsforschung, Demoskopie, erfragt man anhand eines festen Fragebogens, wobei die Antworten vorprogrammiert wurden. Für die Volkskunde wurden Meinungen anders erhoben und quantitativ kaum charakterisiert. Das von mir empfohlene, experimentell überprüfte Verfahren, den Inhalt einer Menge von Synopsen zahlreicher Texte zu beschreiben, ist wie folgt.
Man habe aus jeder Synopse (mit Volltext) die Kennworte zu exzerpieren (mit Vermerk der Nummer der Synopse also »Schöpfung«). Das bildet einen signifikanten Teil der Kollektion. Diese Kennworte muß man lemmatisieren und alphabetisch ordnen. Das ist zwar eine handliche, aber keinesfalls sinnvolle Ordnung.
Jetzt folgt die wichtigste Operation, nämlich die inhaltliche Gliederung des lemmatisierten Wortschatzes. Wie sollte man die Wörter gliedern, ordnen?
Es hat sich gezeigt, daß die Einteilung nach Häufigkeit nicht ergiebig ist, weil da wesentliche Beziehungen zerflattern. Wörter wie Pferd, Stute, Gaul, Roß sind sachlich eng verwandt, sie entfallen aber auf verschiedene Ränge. Auch ist der Stellenwert eines Wortes für die Volkskunde unterschiedlich, bedeutsam für die Charakteristik eines Repertoires sind in der Regel jene Wörter, die in verschiedenen Werken, Liedern, Vierzeilern vorkommen, ferner jene, die in verschiedenen Ortschaften, zu verschiedenen Zeiten und von diversen sozialen Schichten stammen. Der Stellenwert ist nicht von der zählbaren Häufigkeit der Sachgruppe, des »Wortfeldes« bestimmt. Da ist von den Sprachinhaltforschern, etwa Trier, Weisgerber, Ipsen, Dornseiff u. a., vieles für Volkskundler zu lernen.
Die Inhaltsforscher wählen sich »Sinnbezirke«, »Begriffe« aus dem Wortschatz einer Sprache. Als Volkskundler war ich genötigt, zur Vorbereitung von Korpuswerken die ganze Sammlung, den vollen Textbestand auf Synopsen reduziert zu bearbeiten. Folglich war für mich der Wortschatz bereits objektiv beschränkt.
Hierzulande fand die Sammeltätigkeit ziemlich synchron statt. Das ist für die Charakteristik gewiß vorteilhaft, wie z. B. die Tatsache daß es im Iranischen (Tadschikisch) sehr wenig Verben gibt, sie sind immer zusammengesetzt und haben keine Bedeutung bei der Lemmatisierung.
Wie gewinnt man tiefere Einblicke in die »Sachgruppen«, die sich in teamwork experimentell nach der Lemmatisierung ergaben? Da kamen mir meine Erfahrungen mit dem diagnostischen Rorschach-Test sehr zugute. Jedes Wortfeld, »Sachgruppe«, wird durch die Gesamthäufigkeit der Gliedwörter dividiert durch die Zahl derselben. Nun steht der Weg für allerlei Korrelationen frei (u. a. für »Oppositionen«).
So läßt sich ermitteln, ob überhaupt und worin genau sich etwa Vierzeiler aus dem Sprichwörterrepertoire in einer Sprache von denselben Gattungen einer ändern Sprache inhaltlich unterscheiden – nach zusätzlichen Prozeduren, die einen repräsentativen Vergleich überhaupt erst ermöglichen.
Inwiefern sind literarische Gattungen inhaltlich eigenartig? Man neigt dazu, von der Folklore einer Sprachgemeinschaft auf ihre Mentalität zu schließen. Mein methodologischer Beitrag zur Volkskunde ermöglicht die Bestätigung solcher (Vor-)Urteile, aber auch, was wichtiger ist, die Widerlegung solcher Topoi, stereotypen Vorstellungen. Quod erat demonstrandum!
Abschließend möchte ich noch einmal dem Präsidenten der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung zu Darmstadt und seinem Jurorengremium danken.
Leider ist von meinen Lehrern und Kommilitonen keiner, sind von meinen ehemaligen Schülern und Mitarbeitern nur wenige noch am Leben. Möge mein Dank sie über das Grab hinaus erreichen!
Sehr verpflichtet bin ich der deutschen Einrichtung »Inter Nationes«, die in den repressiven sechziger und siebziger Jahren für meine Belesenheit sorgte, indem sie mir großzügig Bücher sandte, von denen auch meine Kollegen zehrten, obwohl manche Werke den Stempel der Zensur eingebleut trugen: »Nur für eignen Gebrauch!«.
Lange Zeit stützte mich mit Informationen nicht nur geistig, sondern auch physisch, richtiger physiologisch, Frau Prof. Dr. Dr. h.c. Elisabeth Noelle-Neumann und ihr Institut für Demoskopie in Allensbach. Umfrageforschung und Volkskunde mögen eng verbunden sein.
Ich danke auch Herrn Walter Kahn und seiner Europäischen Märchenstiftung, die mich zum 70. Geburtstag als Preisträger erkor, was mir kraft der Note seitens der österreichischen Botschaft an das sowjetische Außenministerium einen Reisepaß einbrachte.
Schließlich möchte ich es nicht versäumen, dem Wissenschaftskolleg zu Berlin, seiner Magnifizenz, dem Rektor Prof. Grimm, für die Aufnahme als Gast-Fellow zu danken. Ich erhielt die Möglichkeit, ein »Volkskundliches Dokumentationssystem für jiddische Sprache und Kultur« für Europa auf deutsch vorzulegen. Hoffentlich wird dieses Elaborat in Deutschland, Osteuropa und Rußland bei der Erfassung verstreuter Belege für eine verklungene Sprachkultur Verwendung finden.
Das ist wohl mein letzter Schritt in jener Richtung, die die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung mit der Verleihung des ehrenvollen Gundolf-Preises eingeschlagen hat.
Danke, meine Damen und Herren Kollegen für Ihre aufmerksame Anwesenheit! Gott vergelt’s!