Friedrich-Gundolf-Preis

STATUT

§ 1
Der 1964 begründete Friedrich­Gundolf-Preis für die Vermittlung deutscher Kultur im Ausland dokumentiert den Anspruch der Akademie, aktiv den Kulturaustausch zwischen den deutschsprachigen Ländern und anderen Nationen (insbesondere Europas) zu fördern und mitzugestalten.

Der Preis wird aus dem Jahreshaushalt der Akademie finanziert. Er ist mit 20.000 Euro dotiert und wird jährlich im Rahmen der Frühjahrstagung vergeben.

§ 2
Der Friedrich-Gundolf-Preis würdigt hervorragende Leistungen bei der Vermittlung deutscher Kultur, insbesondere der deutschen Sprache und Literatur in nicht deutschsprachigen Ländern. Dabei können auch Übersetzungsleistungen berücksichtigt werden, die der deutschen Literatur in anderen Sprachen Wirksamkeit verschafft haben.

§ 3
Der Preis darf nicht geteilt werden.

Kann der Preis aus zwingenden Gründen nicht ausgehändigt werden, so bleibt es dem Erweiterten Präsidium überlassen, die Verleihung des Preises auf das nächste Jahr zu verschieben.

§ 4
Eine Fachkommission der Akademie berät über Kandidatinnen und Kandidaten für den Friedrich-Gundolf-Preis. Sie besteht aus sieben sachkundigen Mitgliedern, die von der Mitgliederversammlung gewählt werden.

Auf der Grundlage des Vorschlags dieser Kommission für den Friedrich-Gundolf-Preis entscheidet das Erweiterte Präsidium über den Träger bzw. die Trägerin des Preises.

Eigenbewerbungen sind nicht möglich.

Beschlossen vom Erweiterten Präsidium am 24. März 2021

Herman Meyer

Germanist
Geboren 8.6.1911
Gestorben 15.9.1993
Mitglied seit 1957

Er hat nicht nur seit Jahrzehnten und auch in schwierigen Jahren an der Universität Amsterdam für die deutsche Literatur gewirkt...

Jurymitglieder
Kommission: Fritz Martini, Peter de Mendelssohn

Mitglieder der Erweiterten Präsidiums

»Friede den Hütten, Krieg den Palästen«

Gerne statte ich meinen sehr herzlichen Dank dadurch ab, daß ich Ihnen ein halbes Stündchen etwas aus dem Umkreis meiner jetzigen Studien erzähle. So schlug es unser Generalsekretär vor, und ich war natürlich einverstanden. Ich beschäftige mich in diesem Jahre mit der Thematik menschlicher Behausung und namentlich mit dem Gegensatz von Hütte und Palast als Motiv der Weltliteratur. Der Arbeitsplan ist schon viele Jahre alt, er mußte aber immer wieder anderen sich vordrängenden Plänen weichen und wäre fast verdrängt worden. Inzwischen haben sich das Material und damit auch die Anzahl möglicher Aspekte stark vermehrt, fast zu stark, und es ist mir gar nicht unlieb, durch den freundlichen heutigen Anlaß gezwungen zu sein, einmal durch diese wuchernde Vegetation hindurch einen deutlichen Pfad zu bahnen oder eine Schneise zu ziehen. Zu diesem Zweck stelle ich aus der komplexen Thematik den einen Aspekt zentral, von dem ich vor Jahren ausging und der gegeben ist durch das Motto, das Georg Büchner seiner im Jahre 1834 illegal gedruckten und heimlich verbreiteten Flugschrift Der hessische Landbote als Motto voranstellte. Es hat für mich, und hoffentlich für uns alle, den Reiz der Pikanterie, daß ich dieses scharfe Wort ausgerechnet unter dem gastlichen Dach eines hessischen fürstlichen Schlosses thematisieren darf; o quae mutatio rerum, einmal nicht im Sinne elegischer Klage.
Also dieses Motto: »Friede den Hütten! Krieg den Palästen!« Der doppelte Ausruf ist gleichsam die wehende Fahne, hinter der die anklagenden Sätze der Flugschrift aufmarschieren. Und diese Fahne ist nicht von heute oder gestern, sondern sie ist eine Reliquie aus der großen französischen Revolution, die für Büchner kanonische Geltung hatte. Das Wort wurde gesprochen von Nicolas de Chamfort im Jahre III der Revolution, es war die Kriegsparole, die er den in Feindesland ziehenden französischen Soldaten mitgab: »Guerre aux châteaux, paix aux chaumières.«
Es wäre genug Interessantes zur Frage zu bemerken, ob und wie Chamforts Parole und die Büchnersche sich inhaltlich decken oder unterscheiden. Ich deute nur höchst summarisch an: die Büchnerforschung hat die Unterschiede, nicht das Gemeinsame stark herausgestrichen. Was ihn, Büchner, so wird betont, von früheren Revolutionären und auch von vielen mitstrebenden Zeitgenossen unterscheidet, das ist die klassenkämpferische Tendenz, die sich nicht nur gegen das hessische monarchische Regime, sondern auch gegen die Herrschaft der bürgerlichen Klasse richtet, eine Tendenz, die in der Endfassung der Flugschrift durch Weidigs redaktionelle Eingriffe und Zusätze verunklärt wurde. Diese Meinung mag alles in allem richtig sein. Aber gerade wenn dem so ist, bekundet der Wortlaut des Pamphlets, wie stark die literarische Traditionalität auch in agitatorischer Rhetorik ist. Denn vordergründig und expressis verbis richtet sich Büchners Anklage im wesentlichen nicht gegen das neue kapitalistische Bürgertum als eigene Kategorie, sondern gegen die großherzogliche Regierung von Hessen und deren Machtapparat. Eure Söhne, so ruft er dem Volke zu, müssen »den Tyrannen schwören und Wache halten an ihren Palästen«. Und wie sieht es in diesen aus? »Der Fürstenmantel ist der Teppich, auf dem sich die Herren und Damen vom Adel und Hofe in ihrer Geilheit übereinander wälzen ‒ mit Orden und Bändern decken sie ihre Geschwüre, und mit kostbaren Gewändern bekleiden sie ihre aussätzigen Leiber. Die Töchter des Volks sind ihre Mägde und Huren, die Söhne des Volks ihre Lakaien und Soldaten.« Dem Volke dagegen bleibt nur der ironische Trost: »kriecht in eure rauchigen Hütten und bückt euch auf euren steinichten Äckern«. So dient das Chamfort-Zitat Büchner in sinnvoller Weise dazu, seine Schrift in die rühmliche Tradition der französischen Revolution zu stellen.
Warum gibt Büchner aber das Wort Chamforts nicht wörtlich genau wieder? Sie haben es gehört: er kehrt die Reihenfolge der beiden Imperative um und übersetzt »château« durch »Palast« und nicht durch das mehr auf der Hand liegende »Schloß«. Lag ihm vielleicht von der Sprache her und aus noch älterer Tradition etwas Zwingendes im Ohr, das die kleinen Abweichungen nahelegte? War »Palast« vielleicht ein ideologisch geladeneres Wort als »Schloß«? In Literatur des 17. oder 18. Jahrhunderts stößt man leicht auf Invektiven gegen die Hof weit wie folgende:

»Die Furcht, der Seele Frost, der Flammenstrom, der Zorn,
Die Rachsucht ohne Macht, des Kummers tiefer Dorn,
[...]
Der Liebe Folter-Bett, der leeren Stunden Last,
Fliehn von der Hütten Stroh und herrschen im Pallast.«

Diese Verse Albrecht von Hallers klingen mehr nach literarischem Erbgut als nach spontaner Erlebnisdichtung. So wundern wir uns nicht, wenn wir gut ein Jahrhundert vorher im frühen Barock die Verse finden:

»Der Todt gewiss klopffet mit einem Bein
An grösser Herrn Wolcken tragende Schlösser,
Und armer Leut liegende Hüttelein,
Und ist für beed weder böser noch besser.«

Die hier verkündete Wahrheit ist sogar einem Sancho Pansa geläufig: »Ich habe unseren Pfarrer sagen hören, der Tod tritt mit gleichem Fuß in die hohen Paläste der Könige wie die niederen Hütten der Armen«. Woher »hat« es aber der Pfarrer in Sanchos Dorf? Nun, das können Sie in Kortums Jobsiade nachlesen, wo es beim Tode des Titelhelden Hieronymus Jobs heißt:

»Es ist gewesen schon sehr lange
Wie uns Gelehrten bewußt ist, im Gange
Ein gar kluges Sprichwort, es hat’s
Der alte Kirchenvater Horaz:
Sowohl gegen die Paläste der Großen,
Als gegen die Hütten der Armen pflegt zu stoßen
Der überall bekannte Freund Hein
Mit seinem dürren Knochenbein.«

Also Horaz. Seine schöne Frühlingsode (I, 4) schildert das Glück des steigenden Jahres und fährt dann mit plötzlichem Gedankensprung fort

»Pallida Mors aequo pulsat pede pauperum tabernas
Regumque turres.«

Der bleiche Tod pocht mit dem gleichen Fuße an die Hütten der Armen und an die Paläste der Könige. Horaz stellt nicht nur Armut und Reichtum sub specie mortis einander gegenüber, sondern er spielt auch die friedliche Genügsamkeit des in mäßigem Wohlstand lebenden Menschen gegen das vergoldete Elend der Vornehmen und Mächtigen aus. Mag der snobistische Reiche auch durch übermütige Landgewinnung seinen Palast ins Meer hinaus bauen, doch entrinnt er nicht der Furcht und der Sorge, die überall hin ihm folgen. »Post equitem sedet atra Cura«. Landgewinnung, Palastbau, Bedrohung durch die Sorge: von selbst schlägt sich die Brücke, Sie erraten es schon, zu einem bedeutenden Werk der Neuzeit, auf das ich noch zu sprechen komme. Und auch zur dunkelsten Szene in jenem Werk, der durch despotisches Gelüst intendierten Vertreibung eines uralten Ehepaars aus ihrer im Wege stehenden Hütte, finden wir bei Horaz eine schlagende Entsprechung mit ähnlichem Stellenwert:

»Ob der bleiche Tod schon winkt,
Läßt du noch Marmor brechen, baust noch Schlösser,
Ungedenk der offnen Gruft,
Und quälst dich ab, den Strand hinauszurücken

Dort, wo Bajäs Welle braust,
Dünkst dich nicht reich genug auf festem Lande.
Immer weiter dehnest du
Von deinem Grund die Marken, springst voll Habsucht

Über deiner Pächter Rain,
Es irren ausgestoßen Mann und Gattin,
Nur der Götter Bild im Arm
Und ihre schmutzgen Kinder an den Händen.« (II, 18)

Zu einem Hauptthema wird solche Vertreibung der alteingesessenen Bewohner aus der bescheidenen Behausung in Vergils erster Ekloge, wo sich im Schicksal des Meliboeus das allgemeine grausame Los der Vertreibung wegen der Landverteilung an die veterani nach dem Bürgerkriege widerspiegelt. Meliboeus wird ins Exil, vielleicht nach Britannien verschlagen. Achtzehn Jahrhunderte später beklagt Oliver Goldsmith in The Deserted Village elegisch das Los der englischen oder irischen Pächter, die zur Befriedigung des Bauluxus des englischen hohen Adels aus ihren cottages vertrieben werden und im Exil der amerikanischen Wildnis verschmachten. Wieder anderthalb Jahrhunderte später geht in John Steinbecks Roman The Grapes of Wrath der traurige Zug der von kapitalistischen Bodenspekulanten aus ihren Farmhäusern vertriebenen armen Pächter von Oklahoma weiter nach Westen, ins Elend der kalifornischen Fronarbeit. So schlingt sich dieser traurige Reigen um den Erdball. Ich nehme diesen Faden später wieder auf, verweile aber noch einen Augenblick mit Ihnen im römischen Altertum. Das Thema Hütte versus Palast, Unschuldswelt und zivilisatorische Verderbnis, erweist sich als ein durchaus sentimentalisches Thema wie es im Buche steht, und zwar in Schillers Über naive und sentimentalische Dichtung. Die Dichter, die die literarische Motivik von Hütte und Palast wesentlich ausgebildet haben, vertreten in der Entgegensetzung von Ideal und Wirklichkeit, Natur und Künstlichkeit genau die drei sentimentalischen Empfindungsweisen, die Schiller namhaft macht, Satire, Elegie und Idylle. Neben Horaz geht von Seneca die stärkste Wirkung auf die neuzeitliche Entfaltung des Motivs aus. Bei Seneca wird das Motiv, im Sinne der erhabenen-strafenden Satire, lauter und greller; wir spüren den Übergang vom augusteischen zum neronischen Geistesklima; der Palast wird zum Schauplatz blutiger Verbrechen, cruenta aula, was besonders im Barock, bei Gryphius und anderen, stärkstens nachwirkt. Seneca spannt den Gegensatz von Hütte und Palast in einen geschichtsphilosophischen Rahmen ein, wobei er sich in einer nostalgischwonnigen Vorstellung primitiver Bedürfnislosigkeit gefällt. Jene ersten Menschen bauten noch keine Festsäle mit vergoldeten Decken; gegabelte Holzpfähle stützten ein schräges Dach aus Ästen und Zweigen. Aber in diesen primitivsten Hütten lebte man in Sicherheit und Freiheit. »Culmus liberos texit; sub marmore et auro servitus habitat.« Ähnlich beklagen die Chöre in mehreren seiner Dramen das vergoldete Elend und die Gefährlichkeit des Lebens im Palaste, sowohl für die Herrscher selbst wie für deren Untergebenen.

»Wer immer du bist, der ein Szepter du hältst, mag auch an deinem Hof die Menge in Scharen zu hundert Schwellen zugleich sich drängen: magst von noch so vielen Völkern umringt du einherwandeln, in noch so vielen Völkern wohnt kaum eine einzige Treue. Eine vergoldete Schwelle hält die Erinye besetzt, und haben sich die großen Torflügel aufgetan, so halten Betrug, verschlagene Listen und geheime Waffen Einzug; [...] ein Rasenziegel, weicher als tyrischer Purpur, führt noch immer furchtlosen Schlaf herbei; goldenes Dachgebälk stört die Ruhe, und Purpurdecken machen schlaflos lange Nächte.« (Hercules Oetaeus, V. 604ff.; Übersetzung von Theodor Thomann.)

Und wer hat im 16. Jahrhundert gerade diese Klage und Anklage übersetzt? Keine geringere als Königin Elisabeth. Die Übersetzung ist recht mittelmäßig, aber das tut nichts zur Sache; es muß uns darauf ankommen, daß sich die große Herrscherin gerade diesen Text zur Nachdichtung auswählt. Diese Bewandtnis ist nämlich symptomatisch: die Kritik am palatialen Dasein und das Lob des einfachen Lebens in der Rasenhütte ist in der römischen Zeit und in der beginnenden Neuzeit weitgehend ein Stück Selbstverständnis (Selbstanprangerung oder Selbstmitleid) der Palastbewohner selbst; das literarische Motiv Hütte und Palast gibt dem Lebensgefühl und Lebensverständnis der höfischen Gesellschaft Ausdruck, ist selber eine höfische Angelegenheit. Bedenken wir: so richtig zur Entfaltung kommt die Hütte-Palast-Motivik an der Schwelle der Neuzeit zuerst bei Petrarca, dem »ersten modernen Menschen«, wie man ihn immer wieder genannt hat, und zwar im Umkreis des ersten in sozial-wirtschaftlich-technischem Sinne modernen Hofes, nämlich des päpstlichen Hofes in Avignon. Es läßt sich hier beobachten, wie sehr die Hofkritik sich im Vergleich mit den klassisch-römischen Vorbildern dadurch radikalisiert, daß die evangelische Armut als Gegeninstanz und überhaupt der christliche Sündenbegriff ins Treffen geführt werden. Avignon ist das Babylon der Apokalypse, im Papstpalast regiert die babylonische Hure. Das Liber sine nomine, d. h. Briefe ohne Erwähnung der Namen der Empfänger, sind ein Teil von Petrarcas großem literarischen Avignon-Projekt. Im Zusammengehen von biblischer Erhabenheit und schärfster Satire, die sich der handfestesten Realismen und der Macht des Grotesken bedient, sind diese Pamphlet-Briefe mit Georg Büchners Flugschrift nahe verwandt, nur übertreffen sie, seltsam zu sagen, den Nach- fahren an wildem Haß, an apokalyptischem Grausen und an brennender Schärfe. Büchner kombiniert Groteskes und Apokalyptisches in seiner Invektive gegen den hessischen Großherzog: »Der Fürst ist der Kopf des Blutigels, der über euch hinkriecht, die Minister sind seine Zähne und die Beamten sein Schwanz. [...] Das L., was unter seinen Verordnungen steht, ist das Malzeichen des Tieres, das die Götzendiener unserer Zeit anbeten.« Petrarca apostrophiert Avignon-Babylon: »Du also, freue dich, die du die Tugenden wenigstens durch den Gegensatz lehrst, [...] du Feindin der Guten, du Kneipwirtin und Zuflucht der Schlechten, allerschändlichste Babylon, die du liegst an den wilden Ufern der Rhône, berüchtigte oder besser ruchlose Dirne, mit der ›gehurt haben die Könige der Erde!‹ Du bist ja jene selbst, die der heilige Evangelist im Geiste gesehen hat. [...] Klein bist du freilich an Umkreis der Mauern, aber an Lastern und stets umkreisenden Ränken der Herzen und unbegrenzter Gier, an Aufhäufung alles Bösen bist du nicht nur groß, sondern rießengroß, ja unermeßlich.« Die Schilderung dann der Tanz-, Sauf- und Unzuchtorgien in diesem Babylon stehen in darstellender Kraft nicht hinter einem Hieronymus Bosch zurück. Die Hofkritiker des 15., 16. und 17. Jahrhunderts ‒ Aeneas Silvius Piccolomini, Antonio de Guevara, La Bruyère ‒ können bei aller Schärfe nicht gegen Petrarcas Hyperbolik aufkommen.
Jetzt aber mit Siebenmeilenstiefeln weiter. Ich verfolge nicht den Prozeß starker Topisierung (der Erstarrung zu festen Topoi) unseres Motivs in Renaissance- und Barockliteratur und halte nur fest: in jenem höfischen Zeitalter war die Entgegensetzung von Hütte und Palast, auch wenn sie aus bürgerlicher Feder floß, doch wesentlich eine Angelegenheit der höfischen Gesellschaft. Die innerhöfische Klage macht nicht die Existenz der Höfe als solche, sondern nur deren interne Beschaffenheit zum Problem. Das ändert sich, allmählich, untergründig, aber doch wesentlich erst in den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts, am Vorabend und zur Zeit der französischen Revolution. Bisher hatte es in all den literarischen Ausprägungen fast immer so ausgesehen, als gälte das genaue Gegenteil des Bert Brechtschen Diktums: nur wer nicht im Wohlstand lebt, lebt angenehm. Euphorische Friedlichkeit in der Hütte, dysphorischer Unfriede im Palast, ‒ diese festeingefahrene Vorstellung wandelt sich erst spät in ein Ernstmachen mit dem Elend der Hütten und in die imperativische Forderung »guerre aux châteaux, paix aux chaumières«. Höchst fesselnd zu sehen, wie sich dieser Wandel in allmählichem Auf und Ab in der zunehmend bürgerlich orientierten Literatur seit den sechziger Jahren vollzieht, durch Werke hindurch wie Oliver Goldsmiths The Deserted Village, Johann Heinrich Voss’ Die Leibeigenen, Sébastien Merciers Drama Le juge, Bernardin de Saint Pierres La chaumière indienne. Sehr abgezirkelt, aber dadurch so gut zitierbar Bürgers Fabel Das Magnetengebirge im Göttinger Musenalmanach von 1793:

»Es lag oder liegt in großer schiffreicher See ein großer Magnetenberg, und viele kleinere Magnetenberge lagen oder liegen um ihn her. Das Magnetengebirge zog an sich weit und breit aus allen Schiffen alles Eisen und Stahl. Die Fugen der Schiffe zersprangen, und Trümmer bedeckten das Meer. Da rüstete man, anstatt mit Eisen und Stahl, die Schiffe mit Silber und Gold; und die neue Schiffahrt bestand.
Auch lag oder liegt in großer hüttenvoller Flur eine große Magnatenburg, und viele kleinere Magnatenburgen lagen oder liegen um sie her. Das Magnatengebürge zog an sich weit und breit aus allen Hütten alles Silber und Gold. Die Fugen der Hütten zersprangen, und Trümmer bedeckten das Land. Da rüstete man, anstatt mit Silber und Gold, die Hütten mit Eisen und Stahl; und die neue Bauart bestand. Das Magnetengebirge lag oder liegt, ich weiß nicht wo; das Magnatengebürge, wo jedermann weiß.«

Und dann, schon im 19. Jahrhundert, zwei Jahre vor dem Hessischen Landboten, auf einsamer Höhe eine letzte Substantialisierung des sonstwo schon im Erstarren begriffenen Motivs: Faust II, 5. Akt, das ungerechte Vorgehen des Herrschers im Palast, Faust, gegen Philemon und Baucis, ihr gewalttätiger Tod und die Verbrennung ihrer Hütte. Mit mächtigem Griff wird hier in der Aufeinanderfolge von Landgewinnung, Palastbau, Verbrechen an Philemon und Baucis und Fausts Erblindung durch den Anhauch der Sorge eine Reihe von motivischen Elementen von Horaz und Vergil her neu integriert. In motivgeschichtlicher Sicht erweist sich die in der Faustdeutung verbreitete Meinung, daß Goethe hier einer Art von Vulgär-Hegelianismus huldige und die verbrecherische Tat letzten Endes als geschichtsphilosophische Notwendigkeit bejahe, als ein abscheuliches Mißverständnis.
Die fortschreitende Erstarrung unseres Motivs im Laufe des 19. Jahrhunderts deutete ich schon an. Aktueller als die Hütte wird die Mietskaserne des Industrieproletariats. Bei der so gegebenen Einschränkung des Wirklichkeitsgehalts wird die Formel zu einem ideologischen Schibboleth, nämlich: die Harmonie zwischen Hütte und Palast bekundet den Geist des restaurativen Konservatismus, die Antithese verweist auf fortschrittliche oder revolutionäre Gesinnung. Ich gebe nur sehr wenige und kurze Beispiele und Gegenbeispiele. Im Leopoldstädter Theater in Wien in den dreißiger Jahren schließt ein getreulich kakanisches Gelegenheitsspiel, Titel Palast und Hütte, mit dieser Apotheose:

»Im Pallast und in der Hütte
Dampft empor das Opferfeuer,
Vom Pallaste strömen Spenden
Für die Armuth reichlich aus.
Dort im engen, niedern Haus
Siehst du dankbar die versammelt
Die zur Zeit der höchsten Noth,
Durch die Huld des besten Herrschers
Arbeit fanden ‒ fanden Brod.
Ein vereinter Jubelchor
Steiget aus Pallast und Hütte
Zu dem Ewigen empor!
Nur Ein Wunsch erfüllet alle
Sey es in geschmückter Halle
Sey’s im engen niedern Haus.
Nur Ein Wunsch erfüllt sie ganz!
Gott erhalte Franz den Kaiser,
Lang’ noch unsern Vater Franz!«

Wenige Jahre später Karl Marx (in den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten) über das Phänomen der Entfremdung: »Die Arbeit produziert Wunderwerke für die Reichen, aber sie produziert Entblößung für den Arbeiter. Sie produziert Paläste, aber Höhlen für den Arbeiter. Sie produziert Schönheit, aber Verkrüppelung für den Arbeiter. Sie ersetzt die Arbeit durch Maschinen, aber sie wirft einen Teil der Arbeiter zu einer barbarischen Arbeit zurück und macht den andren Teil zur Maschine. Sie produziert Geist, aber sie produziert Blödsinn, Kretinismus für den Arbeiter.« Und umgekehrt: ausgerechnet aus dem Revolutionsjahre 1848 die folgende Bejahung des göttlich tiefen Sinnes der gefestigten Klassenordnung in einem geistlichen Lied:

»The rieh man in his castle
The poor man at the gate
God made them high and lowly
And ordered their estate.«

Unsere englischen Generationsgenossen haben das noch in der Sonntagsschule gesungen.
Die Trivialisierung setzt sich zusehends fort, gleichviel ob auf der linken oder auf der rechten Seite. Ein gutgemeintes Gedicht von Leopold Jacoby auf Karl Marx’ Totenfeier im Cooper-Institut in New York am 19. März 1883, erschienen 1893, ist zusammengeflickt aus Fetzen der epigonalen bürgerlichen Literatur der Geibel-Epoche:

»Im Arbeitskittel viele Tausend
Sie sitzen, stehn zumal,
Und ihr Gemurmel füllet brausend
Den Riesensaal.

In all den Sprachen, in den Zungen
Der Weltnationen dort
Dem toten Kämpfer ist erklungen
Ein Abschiedswort.

Der Britte sprach: ›Geliebt in Hütten,
Gefürchtet im Palast,
Hat er gelebt, gewirkt, gestritten,
Ohn’ Hast und Rast.

Sein Name wo Maschinen schwirren,
Bei uns in Stadt und Land
Die Fenster der Fabrik erklirren,
Wird heut genannt!‹«

Und, wieder auf der anderen Seite, etwa gleichzeitig (1891) die Harmonie von Hütte und Palast im Eingangsgedicht zur 6. Auflage der Gesammelten Gedichte der unfreiwilligen Komikerin Friederike Kempner:

»Mit regem Dankgefühl
Send’ ich euch wieder mal
Euch Blätter ohne Zahl
Ins menschliche Gewühl!
Bringt meinen Gruß der Welt
Und habt ihr ihn bestellt,
Verfolget euer Ziel
Und ‒ gleichsam wie im Spiel ‒
Verkündet allzumal:
Auf Bergen und im Tal,
In Hütte und Königssaal,
Der Schönheit Ideal,
Der Wahrheit Erz und Stahl,
Der Tugend Götterstrahl!«

Werfen wir noch schnell einen Blick hinüber nach der Neuen Welt. Als Henry James in seinem bekannten Essay über Hawthorne die sozialkulturelle Dürftigkeit Amerikas in damals jüngster Vergangenheit, also um die Mitte des 19. Jahrhunderts, im Vergleich mit Europa konstatiert, da erstreckt sich die Aufzählung auch über die Wohnkultur: »no palaces, no castles, nor manors, nor old countryhouses, ... nor thatched cottages, nor ivied ruins.« Amerika hat per definitionem keine Hütten und Paläste im europäischen Sinne. Stünde uns noch ein weiteres halbes Stündchen zur Verfügung, so könnten wir verfolgen, wie stark unser Motiv dennoch in der Literatur jenes Landes gewirkt hat und wirkt; zwar mit gewissen Modifikationen, unter denen besonders die Literarisierung der Blockhütte, der log cabin ins Auge springt. Es wäre fesselnd, zu sehen, wie die fundamentale Antithese immer wieder durchschimmert: in Hawthornes Erzählkunst, in Thoreaus Kulturkritik, in Harriet Beecher Stowes Uncle Tom’s Cabin und in der immer stärker mythisierenden Hagiographie des Märtyrer-Präsidenten Abraham Lincoln From the Log Cabin to the White House ‒ ein Buchtitel, der nicht nur für Lincoln, sondern für eine ganze Reihe von Präsidenten mit großer Vorliebe verwendet wird. ‒ Aus diesem bunten Komplex nur ein einziges Zitat, und zwar aus Walden, der berühmtesten Schrift des faszinierenden angry young man Henry David Thoreau, wobei sich ausführen ließe, wie sehr seine Verherrlichung des einfachen Lebens in der Hütte am Waiden Pond in Senecaischer Tradition steht und wie stark sich zu gleicher Zeit seine Sozialkritik bis ins Einzelne mit Karl Marx’ soeben zitierten, etwa gleichzeitigen Formulierungen und namentlich mit dessen Begriff der Entfremdung berührt: »The luxury of one class is counterbalanced by the indigence of another. On the one side is the palace, on the other are the almshouse and ›silent poor‹. ... The mason who finishes the cornice of the palace returns at night perchance to a hut not so good as a wigwam.« Wir müssen auf solche Behandlung verzichten, ebenso wie auf eine nähere Analyse der grundlegenden Behausungssymbolik in manchen amerikanischen Romanen, unter denen Scott Fitzgeralds The Great Gatsby, der klassische Roman der roaring twenties, emporragt. Hier ist diese Symbolik gerade deshalb so echt, weil sie das Unechte und sozial Tiefproblematische der palatialen Wohnkultur der Neureichen so überzeugend sichtbar macht. Runden wir unsre Betrachtung ab mit einem kleinen Nebenzug, der ebenso erheiternd wie belehrend ist. Wir hören über das palastartige Herrenhaus, das Gatsby sich auf Long Island gekauft hat: »A brewer had built it in the ›period‹ craze a decade before, and there was a story that he’d agreed to pay five years’ taxes on all the neighboring cottages if the owners would have their roofs thatched with straw.« Wir dürfen sicher sein, daß der Bierbrauer keinen Horaz und Seneca, keinen Goethe und Thoreau gelesen hatte. Gerade deshalb bekundet sein sonderbares Ansinnen etwas, das den Literaturfreund in hohem Maße angeht: die gewaltige Kraft literarischer Tradition ‒ in der Literatur, und im Leben auch.