Johann-Heinrich-Voß-Preis

The »Johann-Heinrich-Voß-Preis für Übersetzung« (Prize for Translation) has been awarded by the German Academy for Language and Literature since 1958 for the »outstanding achievements in translation,« with a particular emphasis on the translation of literature into German.
The prize is awarded annually at the spring conference of the German Academy.
The Johann Heinrich Voß Prize has been endowed with €20,000 since 2002.

Rudolf Wittkopf

Writer and Translator
Born 5/8/1933
Deceased 22/9/1997

Rudolf Wittkopf für seine Übertragungen französischer und lateinamerikanischer Autoren...

Jury members
Kommission: Hanno Helbling, Friedhelm Kemp, Marian Szyrocki, Elmar Tophoven, Hans Wollschläger

Mitglieder des Erweiterten Präsidiums

Identifizieren, nicht imitieren

Herr Präsident, meine Damen und Herren, liebe Freunde −
Am Anfang waren die Wörter. Warme, heimelige Wörter, bei denen einem wohlig war, denen man ganz vertraute und denen man sich an vertrauen konnte: Wörter der Mutter, der Muttersprache.
Doch dann hieß es, daß es noch andere Sprachen gäbe und daß man die lernen müsse: zwei tote − wie grauslich − und zwei weitere, die man als »lebend« bezeichnete, obgleich sie Anfang der vierziger Jahre in Deutschland nur von den Lehrern gesprochen wurden, die sie vermutlich nur aus Büchern kannten.
So begannen wir denn alle im Alter von etwa zehn Jahren halb treuherzig, halb ruppig mit der Arbeit des Übersetzens. Und seitdem zieht sich eine feine rote Linie durch unser Leben: es ist die senkrechte Linie in unseren Vokabelheften.
Diese Linie erweist sich nicht selten als eine schwer zu überschreitende Grenze. Ein oft angeführtes, bis zur Albernheit banales Beispiel: Wir lernen, daß pain mit Brot zu übersetzen sei. Indes evozieren diese beiden Vokabeln unterschiedliche Bilder: einerseits ein blondes, schrundiges, stangenförmiges, progressives Gebilde; andererseits einen graubraunen, hausbackenen, rundlich gedrungenen, gemütvollen Laib. Entsprechend verschieden sind die Geräusche des Brotschneidens: beim einen Brot ein verheißungsvolles, sprühendes Knisterkrachen, beim anderen das satte Geräusch einer leicht klitschigen Gemütstiefe.
Da es nun nicht darum geht, das französische Brot »einzudeutschen«, sondern als eben ein solches zu vergegenwärtigen, ist der Übersetzer gehalten, die dem Wort impliziten Attribute mit über die Grenze zu bringen; dem Leser den Gegenstand, den das Wort bezeichnet, mit seiner ganzen Aura vor Augen zu führen und sinnlich erfahrbar zu machen.
So ist die Arbeit des Übersetzens recht eigentlich ein Identifizierungsprozeß. Ich muß den Text mit allen Sinnen − nicht zu vergessen den sechsten: die Ahnung − zu erfassen suchen; muß ihn mir einverleiben, anverwandeln, mir ganz zu eigen machen. Ich muß in ihm aufgehen, ohne Rest. Ich muß gleichsam von Kopf bis Fuß mit dem Text tätowiert sein. Erst dann, aber dann werde ich ihn, euphorisch gesprochen, singen und tanzen können.
Identifizieren bedeutet nicht imitieren, sondern neu schaffen. Nicht als sekundäres Schaffen ist das Übersetzen zu verstehen, sondern als ein konkurrierendes Schaffen: Die Arbeit des Übersetzers tritt mit der des Schriftstellers implizite in Konkurrenz. Und schönstenfalls wird das Ergebnis keinen nur mittelbaren Charakter haben, sondern wird von Unmittelbarkeit strahlen. Dann wäre die Übersetzung dem Original ebenbürtig. Dann wären aus den Wörtern Worte geworden.
Es ist mir bewußt, daß ich diesem hohen Anspruch ans Übersetzen − ein Anspruch, den keine Theorie, sondern der Text selbst an mich stellt − noch nie ganz genügt habe. Er wird Anspruch bleiben, von Text zu Text.
Ich danke der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, daß sie mich ihres ebenso angesehenen wie ansehnlichen Übersetzerpreises für würdig befunden hat; ich danke meinem lieben Kollegen Fritz Vogelgsang für seine freundlichen Worte; und ganz besonders danke ich meiner Frau, Mirjam, ohne deren langjährige, liebevolle Assistenz ich heute nicht hier stehen würde.