Johann-Heinrich-Voß-Preis

The »Johann-Heinrich-Voß-Preis für Übersetzung« (Prize for Translation) has been awarded by the German Academy for Language and Literature since 1958 for the »outstanding achievements in translation,« with a particular emphasis on the translation of literature into German.
The prize is awarded annually at the spring conference of the German Academy.
The Johann Heinrich Voß Prize has been endowed with €20,000 since 2002.

Karl Dedecius

Translator
Born 20/5/1921
Deceased 26/2/2016
Member since 1977

Sein Enthusiasmus hat die neuere polnische Literatur als Beitrag der europäischen für unser Bewußtsein wiederentdeckt.

Jury members
Kommission: Rudolf Hagelstange, Hans Hennecke, Karl Krolow, Horst Rüdiger, Walter Franz Schirmer, W. E. Süskind

Mitglieder des Erweiterten Präsidiums

Zwischen Ein- und Aussicht: Das Übersetzen

Die Tugend des Schreibens wurzelt in der Untugend der Indiskretion. Der Umgang mit Menschen (soweit er heute noch möglich ist) empfiehlt das Verschweigen. Je besser wir uns kennen, desto weniger Worte tun gut, oder: desto weniger Worte haben wir nötig. Noch anders: je mehr wir aussprechen, desto weniger sprechen wir an. Das ist der stille Kummer eines jeden, der heute glaubt, seinen Mitmenschen etwas mitteilen zu müssen. Wir beobachten, wie sich die Sprachen fortentwickeln, und wir erleben, wie sich die Sprechenden auseinanderleben.
Wer die Verständnislosigkeit nicht mehren, sondern das Befremden reduzieren möchte, der hat eine Chance: als Dolmetsch. Und wer glaubt, daß ein Wort besser ist als zwei, der hört auf diejenigen, die das Auseinandergeratende zu verdichten trachten. Und wer die Vielfalt liebt, aber die Sprachverwirrung scheut, der übt eine strenge Auswahl.
Sprache als Dichtung erfüllt diese Zwecke alle.

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Die polnische Literatur, derentwegen ich hier stehe, trägt das Stigma der Dichtung. Das macht ihre Anziehungskraft und ihre Größe aus. An diesem Ort und zu dieser Stunde verbindet mich mit ihr mein Vorredner Witold Wirpsza. Wir sind uns beide in diesem Augenblick mehrfach einig: wir erfahren nicht nur das Gleiche, wir tun nicht nur gegenseitig Gleiches, wir wissen auch voneinander ‒ bis ins Herz unserer Sprachen hinein ‒ das Gleiche. Und wir bauen auf Gleiches, nämlich daß Einsicht und Harmonie übertragbar seien, selbst wenn es Cervantes, Voltaire, Winckelmann, Ortega bestritten oder gar, wie Shelley, für »reinen Wahnsinn« gehalten haben.
Der Sinn einer jeden Philosophie ist, das Undenkbare denkbar zu machen, das Unmögliche, wie derselbe Ortega zugab, das Utopische zu wagen. Darin waren sich die Denker ‒ von den
Vorsokratikern bis zu den Existentialisten ‒ immer einig. Darin steckt auch der Sinn und die Faszination des Übersetzens.
Die polnische Literaturgeschichte hält dafür ermunternde Beispiele bereit. Ähnlich wie die deutsche Bibel-Übersetzung Luthers waren in Polen die Übersetzung der Psalmen durch Jan Kochanowski und die Übersetzung des Orlando furioso und der La Gerusalemme liberata durch seinen Neffen Piotr eine gesetzgeberische Leistung. Mit ihnen nahm die polnische Literatursprache ihren Anfang.
Zu Beginn des XX. Jahrhunderts, im Zeitalter des Modernismus, da das Polnisch zu einer künstlichen Floskelsprache zu verkümmern drohte, schaffte die einsame Tat eines Übersetzers ‒ Tadeusz Boy-Żeleński ‒, der Bahnhofsarzt gewesen ist, die Erneuerung seiner Muttersprache: abgesehen davon, daß er den Polen erst eigentlich ‒ in nahezu 200 Bänden ‒ die französische Literatur erschlossen hatte. Er übersetzte so unterschiedliche Autoren wie Villon und Molière Balzac und Montaigne, Voltaire und Stendhal, Proust und Gide. Ich zitiere Boy, der als der größte Übersetzer Polens in diesem Jahrhundert gilt, und der seine Arbeit nicht nur mit Kunstverstand, sondern auch mit einer kulturmissionarischen Besessenheit betrieben hatte, nicht ohne Grund: er war mir Vorbild für die realen Möglichkeiten des Übersetzens.

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Wenn man bedenkt, wie beschämend die bunten Läppchen sind, die man den Übersetzern allezeit am Zeug flickte, fragt man sich, woher diese überhaupt noch den Mut und die Kraft nehmen, ein so gering geschätztes Geschäft zu besorgen. Wie abgegriffen sind solche Wortwitze wie »Übersetzt Buch ‒ verletzt Buch«, »traduttore ‒ traditore«, »Wenn treu, dann nicht schön, wenn schön, dann nicht treu«, oder der Aphorismus von Jean Paul: »Ein Wunderwerk, das einer Übersetzung fähig ist, ist keiner wert«. Man hat das alles im Verdacht, es sei ‒ wie bei Literaten gar nicht selten ‒ des Wortspiels, des Bonmots wegen und nicht der Wahrheit wegen gesagt oder geschrieben worden.

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Nicht weniger stereotyp als die negativen, die Nackenschläge, sind die positiven, die Vor- und die Ratschläge. Was wir darüber heute lesen und schreiben, hätte man kürzer und klarer bei Sankt Hieronymus finden können. Er wußte damals schon, daß »non verbum e verbo, sed sensum exprimere sensu«. Aber auch er, der erste große Bibelübersetzer, hatte diese Einsicht nicht selbst erfunden. Er sagte nur, was lange vor ihm Quintus Horatius Flaccus in seinen Epistolae an die Pisonen adressiert hatte: »Du wirst als treuer Übersetzer nicht versuchen, das Wort durch das Wort wiederzugeben« (»nec verbum verbo curabis reddere fidus interpres«). Doch auch Horaz war keinesfalls originell: er wiederholte einen älteren, Marcus Tullius Cicero, der früher als er bekannt hatte: »In quibus non verbum pro verbo necesse habui reddere, sed omnium verborum vimque servavi« (»... nicht Wort für Wort, sondern den eigentlichen Sinn aller Wörter und ihre Kraft...« usw.).
Wir sehen, im Grunde ist jeder Autor Übersetzer (Wiederholer). Nur wissen die meisten nicht mehr, daß und was sie übersetzen ‒ also signieren sie ihre Übertragungen mit dem eigenen Namen. Im Grunde ist genauso wie der Autor, der Erfahrenes in Sprache übersetzt, auch sein Leser Übersetzer, der ein fremdes Sprachwerk in seinen geistigen Kreislauf einbezieht, assimiliert, also in eigenes Selbstverständnis übersetzt. Et manifesta est exercitationis huiusque ratio...

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Ich bitte, mir nachzusehen, daß ich so viel Latein zitiere. Schuld daran ist diese Stadt und ihr gastfreundliches Oberhaupt, das uns heute die »Römer am Rhein« zu zeigen versprochen hatte. Das provoziert, eingedenk meines Namens (nomen als omen), mich hier selbst als »Römer am Rhein« zu stellen: um dem Ort und dem Anlaß eine angemessene Reverenz zu erweisen.
Die Fast-Namensvetter von mir, die diversen Decii, die zu verschiedenen Zeiten europäischer Geschichte in verschiedenen Ländern dieses Kontinents verschieden auftauchen, scheinen mir eine nachdenkenswerte Parabel zu liefern.
Vor zweitausend Jahren hausten unter italischem Himmel sowohl Plebejer als auch Kaiser des gleichen Namens: Decius.
Einer von ihnen, ein Plebejer, der fabulöse Decius Lanuvius, war im vierten Jahrhundert vor Christus Flötenbläser, sogar Vorsteher dieser Zunft. Als solcher hatte er einen Musikantenstreik in Rom angezettelt, weil der Senat seinen Mannen den Mai-Schmaus verweigert hatte und weil die Priester den Meister selbst an einer Liebesaffäre hindern wollten. Der Streik war wirksam, denn ohne Flötenbegleitung konnte der Senat nicht seine Feste und die Priester nicht ihre Gottesdienste begehen. Der Plebejer setzte sich durch.
Ein anderer Decius ‒ Decius Mus, der Caesar ‒ tat sich fünfhundert Jahre später in demselben Rom als roher Christenverfolger hervor. Sein Fiasko ist ein Beispiel dafür, wie wenig Gewalt auf die Dauer auszurichten vermag. Entwicklungen, die kommen müssen, können wohl aufgehalten, aber nicht abgewendet werden. Decius Mus, der Kaiser, hatte das Christentum nicht verhindert.
Den Makel dieser beiden ungleichen aber gleich unheiligen Deciorum aus Rom machten gut tausend Jahre später andere Decii woanders durch beispielhafte Gottgefälligkeit wett. Franciskus Decius aus Valenza war um die Mitte des sechzehnten Jahrhunderts Professor der Rhetorik in seiner Vaterstadt und suchte seinen Schülern das damals vernachlässigte Studium der Alten näherzubringen. Er war traditionsbewußt, konservativ und hinterließ eine Reihe frommer oratorischer und eucharistischer Schriften.
Dann gab es noch einen italienischen Decius, Anton Decius von Orta im Patrimonio Petri. Dieser war Poet, lebte am Ende des 16. Seculi und hielt mit Torquato Tasso vertraute Freundschaft. Er hatte die Mode gemocht und wäre also modern, vielleicht progressiv zu nennen; aber er starb sehr jung und hinterließ deshalb nur ein bekannt gewordenes Werk: eine Tragödie.
Es ließen sich auch noch mehrere spanische Decii ‒ gute Katholiken, Jesuiten-Fratres, Schriftgelehrte, Professoren, tüchtige Inquisitoren ‒ aufzählen.
Die deutschen Deciuse hielten es mit der Reformation. Nikolaus Decius zum Beispiel, ein Mönch, Probst am Nonnenkloster zu Steterburg bei Wolfenbüttel, Lehrer in Braunschweig, dann ‒ 1522 ‒ Pfarrer an Sankt Nikolai zu Stettin, dichtete Kirchenlieder für Luther, die noch heute nach dem evangelischen Gesangbuch gesungen werden.
Indem ich an die Decii der Religionskriege anknüpfe, mahnen mich die Fehler der Geschichte: gemeinsame Wurzeln nicht zu zerstören.
Als letzten Decius möchte ich einen präsentieren, der mich am stärksten beeindruckt; den Humanisten Jost Ludwig Decius, den der polnische König Sigismund der Alte aus dem Westen Deutschlands nach Krakau gerufen hatte, um sich seines Rates und seiner Tatkraft zu erfreuen. Dieser brave Jodovicus Ludovicus Decius hatte sich in Polen folgende Titel, Ämter und Ehrenämter allesamt erworben (ich zitiere eine polnische Quelle wörtlich): Comes sacrii Palatii und der Republik Pohlen, wie auch Königs Sigismundi Secretarius, verdienter Schriftsteller und Verleger, Autor ökonomischer und historischer Traktate, Stadtrat, Vizekastellan, Direktor der königlichen und der preußischen Münzanstalten, Ädil der Marienkirche zu Krakau, Provisor des Hospitals des Heiligen Rochus, Vorstand des Salzbergwerkes in Wieliczka, Schultheiß in Piotrków und viele andere mehr. Berecci hatte ihm in Wola Chelmska bei Krakau, die später der Jostsche Freigrund genannt wurde, eine stattliche Renaissance-Residenz (italienisch natürlich) erbaut. Die von Jost Decius geschriebenen Werke ‒ leider wieder Latein ‒ »de vetustatibus Polonorum« und drei Bände »de regis Sigismundi temporibus« (Cracovia 1521) sind noch heute in der Bibliothek der Jagellonen-Universität und in der Bücherei der Polnischen Akademie der Wissenschaften in Danzig zu lesen.
Damit wäre, glaube ich, meine Absicht vollends offenbar: mit Hilfe des Namens Decius (als omen und als pars pro toto) eine europäische Windrose zu zeichnen, die vielfache Einsichten eingibt. Vor allem diese: die Gegensätze von Nord und Süd, West und Ost genealogisch zu naturalisieren.
Der letzte Decius übrigens, der Deutsche Jost Ludwig, besaß in Krakau, wo er lebte, einen polnischen Freund, Jan Laski, der häufig nach Deutschland reiste, Gönner des Erasmus und selbst einer der bedeutendsten Humanisten jener Zeit gewesen ist. Dieser Jan Laski, den geistige und herzliche (er war mit zwei Deutschen verheiratet ‒ nacheinander selbstverständlich) Bande mit Deutschland verknüpften, hatte einen deutschen Verleger, und zwar hier in dieser Stadt, in der Person des damaligen Kölner Erzbischofs Hermann von Wied.
Ich kenne noch einen ruhmreichen Sohn dieser rheinischen Landschaft, der sich Verdienste um die polnische Literatur erworben hatte, Konrad Pickel, genannt Celtis, Absolvent der hiesigen Universität, der dann in Leipzig, Erfurt und Rostock gelehrt hatte und von Kaiser Friedrich III. 1487 in Nürnberg den Dichterkranz verliehen bekam. Er war als poeta laureatus nach Krakau gegangen und hatte dort in den Universitäts- und Patrizierkreisen eine ungewöhnliche Aktivität entfaltet. Er hatte lateinische Gedichte und Epigramme verfaßt ‒ auch Liebeselegien an eine Polin, die Krakauer Bürgerin Hasilina ‒, polnische Reise- und Jagdbücher veröffentlicht, und war der Gründer der ersten polnischen literarischen Gesellschaft, der Sodalitas Vistulana, die später leider einging, als Celtis nach Ingolstadt als Professor für Poetik und Rhetorik berufen wurde.
Die polnische Literaturgeschichte widmet ihm jedenfalls bedeutende Sätze und betont, er hätte einen starken Einfluß auf den frühen Krakauer Humanismus ausgeübt.
Doch zurück zum Thema.

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So wie Hieronymus Horaz, Horaz Cicero, Cicero seine älteren Kollegen fast wörtlich wiederholt haben, so sind die späteren Auslassungen über das Übersetzen nicht viel mehr als Variationen, Modifikationen der ersten antiken Wahrheit. (Weshalb ich mir nicht erst die Mühe gebe, hier neue Worte für alte Tatsachen zu suchen.) Luther, Novalis, Goethe, von Schlegel, bis zu den Heutigen haben das alte Dilemma um neue Aspekte, aber nicht um neue Einsichten bereichert. Der Ur-Sinn und die ihn begleitenden Widersprüche sind die gleichen geblieben. Auch der Un-Sinn blieb der gleiche.
Dichtung ist eine Kunst der einsamen Entschlüsse. Die Übersetzung deckt sich darin mit ihr vollkommen. Jede Zeile, jedes Wort stellt uns vor neue Probleme, deren Lösungen wir nirgendwo fix und fertig nachschlagen können. Die Philosophen nehmen ihre Hypothesen zum Ausgangspunkt und ihre Formel zum Kriterium: ohne am Phänomen selbst gelitten zu haben. Ihre Methode, Übersetzungen zu bedenken, ist eine a priori. Die Übersetzer beginnen meist umgekehrt, mit der Praxis. Diese führt sie später zu Überlegungen, mit denen sie in der Regel die Richtigkeit oder Notwendigkeit eigener Erfolge (oder Mißerfolge) zu begründen suchen. Sie bedienen sich der Methode a posteriori.
Ich habe mich, den Übersetzer, im selben Verdacht. Kaum ist mir etwas mißlungen, schon suche ich nach einer logischen Motivation (gibt es denn einen Deutschen, der keine fände?), um die Unumgänglichkeit meines Scheiterns zu begründen.

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Kunst unterscheidet sich dadurch von der Wissenschaft, daß sie sich nicht gültig objektivieren, nicht endgültig normalisieren läßt. Cecil Day Levis, vor Auden Inhaber des Oxforder Lehrstuhls für Poetik, nannte das Übersetzen eine Sache von Kunstfertigkeit, Liebe und Glück. Darüber hinaus aber ist das Übersetzen ohne philologische Erkenntnis, ohne exaktes Instrumentarium, was schon Schlegel deutlich machte, undenkbar. Somit wäre das Übersetzen etwas, was zwischen Kunst und Wissenschaft wirkt, oder gar beides zusammen. Wir sehen, wir kommen nicht darum herum: die Dichter wie die Dolmetscher bedürfen eines Dritten: des wissenschaftlichen Deuters. Mit diesem Satz möchte ich den circulus vitiosus vollenden, den Bogen, den ich von Krakau nach Köln zog, noch weiter westlich und nördlich bis nach Edinburgh spannen und wieder nach Köln zurückführen, um zu sagen, was mich mit meinem Nachredner, Professor Eudo C. Mason aus Edinburgh verbindet. Es war nämlich ein Schotte, Professor der Geschichte an der Universität von Edinburgh, der sachlich und ökonomisch das zu präzisieren wußte, was man den vielen sehr tiefschürfenden deutschen Untersuchungen nicht ebenso kurz und klar entnehmen kann. Diesem Professor, Alexander F. Tytler, gelang es meiner Ansicht nach mustergültig, die Kunst der Übersetzung auf einen genialisch einfachen Nenner zu bringen. Er kam dabei mit drei Sätzen aus:
1. Die Übersetzung sollte den ganzen Inhalt des Originals wiedergeben.
2. Ihre ästhetischen Merkmale sollten denselben Charakter haben wie die des Originals.
3. Die Übersetzung sollte die Freiheit (die Leichtigkeit, die Natürlichkeit) einer originellen
Komposition besitzen.
Ich gestehe, diese drei Maximen, 1791 im »Essay on the Principles of Translation« in Edinburgh von einem dortigen Professor verkündet, sind mir bis heute ein Kompaß.
Ansonsten berief sich Tytler mehrmals auf den »guten Geschmack« (a just taste requisite), ohne freilich gesagt zu haben, was überall und zu allen Zeiten denn mit Sicherheit als guter Geschmack zu gelten habe.
Eine andere sehr wesentliche angelsächsische Einsicht ist die, die aus Blakes Definition der intellektuellen Redlichkeit herrührt. Man könne seine Ansichten wechseln, sagte Blake, ohne seine Grundsätze zu wechseln. Man kann also unterschiedliche Autoren unterschiedlich, nach unterschiedlichen Methoden übersetzen, ohne den Grundsatz der Treue, der Natürlichkeit und der Nützlichkeit aufzugeben, ohne Verrat an der intellektuellen Redlichkeit zu üben.

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Das Übersetzen bändigt Gegensätze. Es übt die Bescheidenheit, die Selbstlosigkeit, die Toleranz ‒ alles Eigenschaften, die wir dringend nötig haben. Es ist eine der seltenen Botschaften, weil sie zwei sich fremden Völkern, oft sich verständnislos gegenüber stehenden Kulturen zugleich einen guten Dienst erweist. Das Übersetzen ist auch eine soziale Arbeit, die die Volksbildung fördert, und es ist eine politische Arbeit, die Ressentiments, Dünkel, geistige Barrieren abbaut ‒ also Grundlagen für eine Friedenspolitik schafft. Hier blicken wir gottlob auf eine großartige alte deutsche literarische Tradition zurück. Denken wir nur an den uns von Herder und Schleiermacher hinterlassenen ‒ und von vielen praktizierten ‒ Ruf nach Gedankenübertragung, die uns, wie es Schopenhauer nannte, von der Nationalbeschränktheit, die sonst jedem anklebt, befreit. Was natürlich nicht heißt ‒ ich darf zum Schluß als Neu-Frankfurter einen Alt-Frankfurter zitieren ‒, daß »die Nationen sollen überein denken, sondern sie sollen nur einander gewahr werden, sich begreifen, und wenn sie sich nicht wechselseitig lieben mögen, sich einander wenigstens dulden lernen«. Um durch den Zustand der Weltliteratur für den Zustand des Weltbürgertums zu reifen. Solange diese Aussicht besteht, wird sie dem Übersetzer helfen, seine Zweifel zu meistern und sie nicht zur puren Verzweiflung degenerieren zu lassen.