The »Johann-Heinrich-Voß-Preis für Übersetzung« (Prize for Translation) has been awarded by the German Academy for Language and Literature since 1958 for the »outstanding achievements in translation,« with a particular emphasis on the translation of literature into German.
The prize is awarded annually at the spring conference of the German Academy.
The Johann Heinrich Voß Prize has been endowed with €20,000 since 2002.
Literary critic and Translator
Born 30/3/1897
Deceased 21/1/1977
Member since 1952
Unserer großen Tradition folgend, begnügte er sich nicht mit dem Übersetzen anglo-amerikanischer Dichtung, sondern machte sich auch ihre kritischen Methoden zu eigen.
Jury members
Kommission: Rudolf Hagelstange, Karl Krolow, Horst Rüdiger, Walter Franz Schirmer, W. E. Süskind
Mitglieder des Erweiterten Präsidiums
Dichterische Übertragung von Dichtung
In ihren Dankreden haben einige Empfänger des Übersetzerpreises unserer Akademie rückblickend angedeutet, wann und wie sie darauf kamen, und warum sie dabei blieben, sich einem Unternehmen zu widmen, das Horst Rüdiger mit ebensoviel berechtigter Skepsis wie unaustilgbarem Interesse einmal als eins der »fragwürdigsten« der Literatur bezeichnete. Hierin dem Beispiele einiger meiner Vorgänger zu folgen, habe ich, scheint mir, heute, da ich diesen Preis ‒ mit Freude und Dank für die große Auszeichnung ‒ in Köln entgegennehme, einen besonderen Anlaß. Denn in dem Köln benachbarten Düren wagte ich mich zuerst ‒ als damals sechzehnjähriger Primaner des dortigen Gymnasiums ‒ vor langen Jahrzehnten, im Jahre 1913, an das Übertragen Lord Byrons und überhaupt englischer Dichtung, die es mir schon damals sehr angetan hatte. Kürzlich kamen mir die Ergebnisse dieses Tuns wieder vor Augen: Übertragungen auch Shelleys, Tennysons, Thomas Moores u. a. Daß es mir dabei schon damals aus einer Art resoluten Instinktes heraus, in möglichst konsequenter Befolgung einer, wie ich glaube, in jedem Sinne grundlegenden Maxime, darauf ankam, auch Dichtung so »getreu wie nur möglich und so frei wie notwendig« zu übersetzen ‒ darf ich das heute in meiner Dankrede durch das Zitat zweier Strophen aus Byrons »Childe Harold’s Pilgrimage« in meiner Verdeutschung bezeugen? Es sind dies die Strophen 78 und 79 des 4. Gesanges:
»O Rom! Du meine Heimat! Stadt der Seele!
Sei du, einsame Mutter toter Pracht,
Die Zuflucht der Verlaß’nen! in der Kehle
Erstick’ ihr Weh vor deiner Schmerzensmacht!
Was ist denn unser Leid? O kommt und fragt
Zypressen dort und hört die Eulen schrein,
Hört, was die Spur zerbroch’ner Throne klagt!
Nur Tagesleid ist uns’re Todespein ‒
Vergänglich, wie wir selbst, liegt dort die Welt aus Stein.
Die Niobe der Völker! Ohne Kronen
Und kinderlos liegt sie in stummem Leid,
Die leere Urne: Wer sieht sie noch thronen,
Sie, deren heil’ger Staub schon längst zerstreut?
Ach! aschenlos ist Scipios Grab, entweiht!
Die Gräber selbst verblichen von dem Schimmer,
Der Helden, die drin wohnten: strömst du heut,
O Tiber, durch dies Marmormeer noch immer?
Schwill an, verhüll’, ertränk die Berge dieser Trümmer!«
Jedenfalls habe ich mich schon damals ‒ wie auch seither stets und ohne eine einzige Ausnahme ‒ an dies mein Credo gehalten: bei möglichst vollständigem Hinüberretten des Wortsinnes in unsere Sprache die Struktur der Strophe, das Metrum, die geheimere Rhythmik, den Reim, aber durchweg auch die Abfolge der Reime soweit nur irgend möglich zu wahren; und zugleich in solchen Ketten insofern zu tanzen, als mir dabei stets als unerläßliche Aufgabe adäquater Übersetzung von Dichtung die erschien, die das Gedicht durchwaltende innere und äußere Melodie im Deutschen Wiedererstehen zu lassen.
Eine bis zur scheinbaren Pedanterie oder auch Arroganz fragwürdige Zielsetzung gewiß; aber doch eine durchaus notwendige ‒ will man nicht irgendeiner der sich bei solchem Tun nur zu leicht anbietenden Versuchungen bloßen Nach- oder auch Umdichtens verfallen.
Gewiß muß, wer Dichtung übersetzt, der zugleich passionierteste und inspirierteste Leser des Urtextes sein. Freilich »Das Wort sie sollen lassen stahn!« ‒ diese Forderung erhob nur der Theologe, nicht aber der geniale Übersetzer Martin Luther. Denn wie viele und wie verschiedene Lesarten gibt es hier bei der Entzifferung des Urtextes und seiner Neufassung im Medium einer anderen Sprache! So sehr, daß man sich fragen möchte: ist es tatsächlich dasselbe Licht, das sich in jeweils so verschiedenem Spektrum bricht ‒ wie z. B. die folgenden zwei Schlußverse des 146. Sonettes Shakespeares in den so verschiedenen deutschen Versionen eben dieser Verse? Ich darf wohl zwecks genauerer vergleichender Veranschaulichung dieser Fragestellungen einige von ihnen zitieren. Sie lauten einschließlich des Urtextes so:
»So shalt thou feed on Death, that feeds on men,
And Death once dead, there’s no more dying then.«
Shakespeare
»So zehrst am Tod Du, der an Menschen zehrt;
Und ist Tod tot, hat Sterben aufgehört.«
Gottlob Regis (1836)
»So speis am Tod der speist an jedermann.
Und Tod erst tot: kein Sterben gibt es dann.«
Stefan George
»Zehr’ du vom Tod wie er vom Lebensbrot;
wenn Tod verzehrt ist, gibt es keinen Tod.«
Karl Kraus
»Verzehrst du so den Tod wie Menschen der:
Ist Tod einst tot, dann gibt’s kein Sterben mehr.«
Hans Hennecke
Beispiele wie diese zeigen, in welch verschiedenem Licht sich das Urlicht widerspiegeln, ja sich »reflektieren« kann. Gewiß fragt sich nun: darf es das? Doch hier würde die Theorie in konkrete Kritik münden und bliebe von ihr unabtrennbar, und darum würde, hier fortzufahren ‒ jedenfalls heute ‒ nicht meines Amtes sein.
Übrigens, meine Damen und Herren, gibt es zumindest Grenzfälle, in denen die adäquate Übersetzung auch von Prosa Forderungen von gleicher Stringenz und Strenge stellt; ich darf das als Übersetzer der labyrinthischen Prosa zweier Romane des späten Henry James aus eigenster Erfahrung andeuten. Aber lassen Sie mich das heute an zwei ganz kurzen Sätzen als idealem Modell gleichsam auf engstem Raum veranschaulichen. Sie finden sich in einem kunsttheoretischen Buche des amerikanischen Malers Robert Henri. Dort heißt es:
Yon will never get form till you want it. And wanting to want it is not wanting it. Hier hat man ein Musterbeispiel dafür, daß Prosa mitunter genauso schwer adäquat zu übersetzen ist wie Poesie. Die extreme Präzision und sinnfällige Bündigkeit des Ausdrucks einer ebenso unanfechtbaren, wie in ihrer Sinnschwere immer wieder unverstandenen oder doch unbeachteten Grundwahrheit ist im Deutschen so weder im Sprachlaut noch in der Satzfügung erreichbar. Unsere Sprache besitzt kein Analogon für das einsilbige, aber mit der Energie des Doppelsinnes geladene »to want« das man zugleich als »bedürfen« und als »wünschen« verdeutschen kann ‒ bei genauerem Hinsehen hier aber auch so verdeutschen muß. Indem aber das Deutsche zweier Wörter bedarf, um in nun nur noch relativ normaler Konzentration den ganzen Gehalt der im Englischen so wundervoll knapp verlautbaren Wahrheit auszudrücken, muß es auf das ebenso ergiebige wie sinnfällige Wortspiel verzichten, dessen die englische Sprache hier in der vierfachen Verwendung desselben Verbums mächtig ist ‒ einer Wiederkehr des Wortes, in der obendrein in beziehungsreicher Symmetrie das im Präsens und im Infinitiv in jedem Sinne einsilbige Verbum im zweisilbigen, hell ausklingenden Partizipium zweimal solch gleichsam einhämmernde Betonung findet. Die insofern unvermeidbarerweise nur verhältnismäßig bündige Verdeutschung der zwei Sätze mag etwa so lauten: »Man wird niemals echte Form erreichen, bevor man nicht ihrer bedarf. Und der bloße Wunsch, ihrer zu bedürfen, besagt noch nicht, daß man ihrer wirklich bedarf.« Vielleicht könnte man oder sollte man hier allenfalls auch noch die drei kommentierenden Flickworte (»echte Form« ‒ »bloßer Wunsch ‒ »wirklich bedarf«) fortlassen. Jedenfalls aber: Wie triftig, wie erschöpfend bei aller Knappheit drückt die englische Sprache denselben Sachverhalt aus: »You will never get form till you want it. And wanting to want it is not wanting it.«
Aber um hier auch ein Beispiel aus epischer Prosa zu zitieren: Wenn der amerikanische Romancier W. D. Howells, ein Zeitgenosse und Freund von Henry James, von einer seiner Frauengestalten spricht als »a large, blonde mass of suffering« ‒ wie will man im Deutschen das so sinnfällig Pralle dieser Charakteristik wiedergeben!
Doch ob es sich nun um erzählende oder erörternde Prosa von Rang oder um metrische Dichtung handelt: Gewisse Grundprobleme bleiben jeder Art gewissenhafter Übersetzung eigen. Ich habe sie mehrfach, vor allem aber in der vierzigseitigen Einführung meines Buches »Englische Gedichte von Shakespeare bis Ezra Pound« aus den Erfahrungen meiner Praxis heraus erörtert. Heute möchte ich nur die Gelegenheit wahrnehmen, wenigstens in Umrissen darzulegen, daß und warum ich meine eigene Theorie, die ich zu Anfang meiner Dankrede kurz skizzierte und die die »Freiheit« des Übersetzers von Dichtung weithin einschränkt, auf Grund neuer Erfahrungen und Erwägungen innerhalb eines bestimmten Bereiches der Dichtung teils erweitern, teils sogar aufheben möchte. Denn Gültigkeit kann sie nur für das nachantike und im engeren Sinne lyrische, meist verhältnismäßig kurze Gedicht ‒ keinesfalls aber z. B. für das in Hexametern abgefaßte Epos der Antike haben. Hier kann »Nachdichtung«, deren Wert ich sonst bezweifle, nicht nur möglich, sondern auch, in gewissen Grenzen, wünschenswert werden.
Ich möchte mich da auf die sehr ergiebige Erörterung beziehen, die 1965 und 1966 in unserem Jahrbuch Horst Rüdiger (in seiner Laudatio auf Wolfgang Schadewaldt als Empfänger des Übersetzerpreises) und Emil Staiger gewissen Grundfragen heutiger Verdeutschung Homers gewidmet haben: Beide im Hinblick auch auf Wolfgang Schadewaldts Prosa-Übertragung der »Odyssee« und deren auch theoretische Rechtfertigung durch ihren Autor.
Ihren Erwägungen liegt die Überzeugung zugrunde, daß Homer, wenn er uns heute etwas bedeuten soll, nur entweder in Hexametern oder in Prosa zu verdeutschen sei; und wenn in Prosa, dann natürlich nur in nerviger, spannungsvoller und mitunter auch zielbewußt gräzisierender deutscher Prosa; keinesfalls aber, wie ich hinzufügen möchte, in der flauen und konturlosen Prosa, in der vor und nach 1800 deutsche Professoren (z. B. E. F. G. Oertel (1822), O. F. Damm und Kütner) Homers Hexameter übersetzten.
Emil Staiger, dessen eigenste »Poetologie« der Ansicht Schadewaldts, wir lebten in einem »Zeitalter der gebrochenen Form«, als fragloser Voraussetzung vielleicht abhold ist, erblickt im Hexameter letztlich doch das für Homer auch in unserer Sprache exemplarische Versmaß; er betont: »Er ist der Vers der ihrer selbst gewissen gediegenen Gegenwart.« Aber ist Homer denn selbst so ganz und ausschließlich der Dichter der »gediegenen Gegenwart«? Ist er es immer ‒ oder jedenfalls immer auch in der Odyssee? Und wo er es nicht ist: Sollten da Hexameter oder Prosa wirklich die einzigen Alternativen seiner möglichst kongenialen Eindeutschung bleiben? Liegt dergleichen in rhythmischen, syntaktischen oder auch klanglichen Schranken unserer Sprache begründet? Doch wohl nicht, wenn man ihre Sprachallmacht bedenkt, wie sie sich seit dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts entfaltete.
Merkwürdig bleibt bei alledem die Tatsache, wie gern, wie wagemutig und wie oft die englischen und die amerikanischen Dolmetscher antiker Dichtung ‒ verglichen mit den deutschen ‒ den Formenreichtum ihrer Sprache ausbeuteten und sich dabei auch dem auslieferten, was Emil Staiger einmal als »Wolfsgruben und Fallen der Reime« bezeichnete. So übertrug William Morris die »Aeneis« in siebenhebigen, paarweise gereimten Blankversen ‒ sehr melodiös und ohne spürbare Einbuße an epischem Detail; und so hat C. Day Lewis Vergils Hexameter instinktvoll aufgelockert und sein Hauptwerk in schmiegsame, weitausschwingende Verszeilen übertragen, die in der Sprache unserer Zeit die Kraft und die Verve ebenso wie die zarteren Reize der Diktion Vergils zu bewahren vermögen. Rolfe Humphries wählte für seinen englischen Ovid statt des daktylischen Hexameters kunstvoll lässig gehandhabte, Ovids reiches Detail eindrucksvoll einheimsende reimlose Blankverse. Das und wie Humphries dabei auch, dank der tonreichen vokalischen und diphtongischen Ergiebigkeit der englischen Sprache immer wieder Wunder des Wohllauts und der Rhythmik erreicht, spürt man, wenn man damit den Ovid unseres Voss vergleicht. Und noch 1954 übertrug Robert Fitzgerald sogar die »Odyssee« in vier- und fünfhebige Verse, deren Grundgerüst ein rhythmisch sehr biegsamer, vielfach daktylisch beschwingter freier Blankvers ist, dessen strengere Form bei uns wohl nur G. A. Bürger in Fragmenten für die »Ilias« und Albrecht Schaeffer durchweg für die »Odyssee« wählten ‒ sieht man von A. Dührs plattdeutscher Übertragung (1898) ab.
Allerdings gibt es neuerdings auch im Englischen einen unverkennbaren Trend zur Prosa-Fassung Homers; so schon bei T. E. Shaw (nämlich Lawrence, dem Eroberer Arabiens), bei E. V. Rieu, vor allem in der episch straffenden Prosa-Übertragung, die in den 30er Jahren unter der strengen unermüdlichen Ägide Ezra Pounds W. H. D. Rouse schuf ‒ aus Erwägungen heraus, die denen Wolfgang Schadewaldts vielfach nahestehen; bezeichnend der Titel »The Story of Odysseus«. Übrigens gehört Pound zu den Bewunderern auch des metrischen Homer des Elisabethiners George Chapman, den er (darin im Einverständnis mit George Saintsbury) für den bis in unsere Zeit einzig zuverlässigen hält.
Aber solche »Zuverlässigkeit« ist durchaus nicht das einzige Kriterium des Verfahrens anglo-amerikanischer Übersetzer antiker Dichtung. In England bildete sich bereits seit Chapman und den von Pound bewunderten schottischen und französischen Renaissance-Übersetzern Homers, Vergils und Ovids eine Theorie und Praxis der Übertragung, die der auf lange hin wirksam gewordenen deutschen Theorie und Praxis der Übersetzung antiker Dichtung vielfach polar, aber eben darum auch höchst aufschlußreich gegenüberstehen. Denn hier scheint Übersetzung tatsächlich und in legitimer, weil dichtungsgeschichtlich motivierter, Weise zu Nachdichtung, ja zu weithin eigenständiger Dichtung zu werden.
Das gilt schon von John Dry den, der nicht nur bereits den ganzen Facettenreichtum der Problematik dichterischer Übertragung von Dichtung sah und theoretisch fruchtbar machte, sondern auch in den paarweise gereimten Blankversen seiner Vergil-Übertragungen in der Plastik und Subtilität seiner Diktion Unvergeßliches leistete; vor allem aber gilt es von Alexander Popes englischem Homer. Über diesen schrieb Samuel Johnson: »Man kann von seiner Übertragung der »Ilias« behaupten, sie habe die englische Sprache ganz neu getönt, denn seit ihrem Erscheinen hat der Schriftsteller, wie sehr es ihm auch an anderen Gaben fehlen mochte, es nie an Melodie fehlen lassen. Diese endlose Reihe so sorgsam ausgefeilter und in solchem Schmelz modulierter Verszeilen ergriff Besitz vom Ohr der Leser; die Ungebildeten unter ihnen verliebten sich in das Epos und die Gebildeten staunten über die Übertragung.« Diese allerdings stellte so etwas wie einen Gipfel europäischer Literaturentwicklung dar; lassen Sie mich das, meine Damen und Herrn, in Folgendem kurz ausführen.
Es gibt wohl so etwas, wie einen absoluten Einschnitt in der Geschichte der Dichtung des Abendlandes, der diese nachweisbar in zwei Hälften schneidet. Er liegt noch kaum anderthalb Jahrhunderte zurück; man wird gut tun, seinen Beginn um 1820 anzusetzen; also um die Zeit, da die Romantik überall in Europa zwar nicht einsetzte, aber sich auszubreiten und auszuwirken begann, und die Dichtung des 18. Jahrhunderts, die noch bis ins zweite Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts hie und da sonderbare Nachblüten trieb, thematisch und formal völlig überwunden war.
Es gilt dabei, die aufschlußreiche Tatsache einmal grundsätzlich ins Auge zu fassen ‒ denn sie hat viel mit der Wandlung der zentralen Aufgabe dichterischer Übertragung von Dichtung zu tun ‒, daß seit dem Beginn kontinuierlicher Entfaltung der nachchristlichen europäischen Literatur, also etwa seit 1150, es noch niemals zu einer solchen, sich schon auf die Konzeption der Dichtung, ihres Sinnes und ihrer Funktion, erstreckenden einschneidenden Zäsur gekommen war, wie sie damals und mit noch heute unabsehbarer Wirkung sich herauszubilden begann. War es doch, als habe die abendländische Dichtung im 18. Jahrhundert noch einmal, und nun mit einer letzten Konzentration und Konsequenz, alle ihre Kräfte zusammengerafft, um ihre seit Homer und durch alle Einzelliteraturen hin grundlegend gebliebene »Formgesinnung« endgültig und lapidar auszuprägen, wie sie das zuerst und folgenreich im Rom Horazens und Vergils getan hatte; nannte sich doch darum die Epoche der englischen Dichtung, in der das am bewußtesten und vollkommensten geschah, die »augustanische«. Sie schuf ‒ vor allem im Werke John Drydens und Alexander Popes ‒ die subtilsten und sublimsten und in ihren Impulsen und Wirkungen nun durchaus legitimen Nachdichtungen. Es war das Zeitalter, in dem in Kunst und Dichtung die Ratio, und nicht nur mit ihr, sondern auch dank ihrer die »Sensibilität« ihre Triumphe feierte: die Epoche Marivaux’, Lafontaines, Drydens, Popes und Samuel Johnsons: das Zeitalter des erfülltesten und gleichsam existentiell verwirklichten »Geschmacks«. Wir haben dafür wohl nur den Namen Wieland einzusetzen.
Wenn Voltaire einmal von Marivaux, und zwar im Sinne einer Huldigung, sagte: »Er wiegt lauter Nichtigkeiten in Wagschalen aus Sommerfäden«, so gilt das Gleiche für Alexander Pope, den Dichter des »Lockenraubs« (den bezeichnenderweise gerade Lord Byron, der heimliche Klassizist und unheimliche Romantiker, über Shakespeare stellte). Daß aber solche aufs äußerste getriebene Filigrankunst der Sprache des Verses eine feinste Läuterung und Sublimation des von Homer über Vergil, Ronsard, Tasso, Spenser, Milton bis zu Dryden und Pope lebendig und wirksam gebliebenen Form willens darstellt ‒ das ist das hier Entscheidende; und so erklärt es sich, daß Popes Homer-Übertragung in paarweisen gereimten Blankversen noch heute weithin als die kongenialste englische Übertragung Homers gilt ‒ wenngleich auch neuerdings die von Keats gerühmte Homer-Version des Elisabethiners Georg Chapmann neue Aktualität gewann: Seine »Ilias« erschien 1611 ‒ übrigens im selben Jahr wie die »Authorised Version« der englischen Bibel. Das Prinzip, das hinter solcher Formgesinnung steht und hinter ihrer Ägide immer neue Formen (Metren, Rhythmen, Strophen und zumal auch Arten der Diktion) hervortreibt, ist der Gedanke des Nacheiferns, ja der Nachahmung: gewiß ein uns heute zunächst in seiner vollen, durchaus produktiven Funktion nicht leicht nachvollziehbarer Gedanke. Denn einerseits neigen wir, gewöhnt an die und gleichsam verwöhnt durch die vage Vorstellung von Originalität und dem sogenannten naturwüchsigen Genie, dazu, Nachahmung schon als solche für unschöpferisch zu halten; und andererseits nimmt die Zahl der Leser, die die Dichtung der eben genannten Autoren vergangener Weltliteratur ‒ als eine gleichsam zeitlos aktuelle ‒ mit wirklichem Genuß zu lesen verstehen, seit Jahrzehnten sogar in England immer mehr ab. Und doch gilt es, dieses Prinzip der Nachahmung, wie es seit Aristoteles und Horaz zumal durch Dante, Sidney, Tasso, Milton, Boileau, Dryden und Pope konstituiert, sanktioniert, kodifiziert und dabei doch immer aufs neue in bezug auf jeweils aktuelle Formprobleme der Dichtung durchdacht und geprüft wurde, so zu verstehen, wie es gemeint ist. »Nachahmung« im exemplarischen Sinn, wie ihn zuerst Aristoteles herausstellte, ist ein »Modus der Schöpfung«; im Werke des Künstlers ist sie Schöpfertum.
Nach dem dahinterstehenden Lehrgebäude der Poetik waren die Formen und Gehalte der Dichtung in der Vergangenheit (seit Homer) geschaffen und (seit Aristoteles) weithin verbindlich festgelegt. Es gab auch da so etwas wie eine echte Orthodoxie. Aber wie diese im Bereiche der Theologie dem tiefsten und subtilsten gestaltenden Denken Raum läßt, so auch im Bereiche der Formgebung. Liest man die Traktate über die Aufgaben und Gesetzlichkeiten der Dichtkunst und dann Dichtungen, die unter ihrem produktiven Diktat entstanden, so bekommt man etwas von der gewaltigen Geisteskraft und der Fülle der künstlerischen Sensibilität zu spüren, die solche Konzeptionen im Doppelsinne dieses Wortes, nämlich solche Theorie und Praxis, hervorbrachten. Das gilt besonders für Dante, Sidney und Milton: für ihre Theorie und ihre Praxis.
Dieser Formwille und die hinter ihm stehende Geistesart erreichten ihren Zenit im 18. Jahrhundert ‒ und zwar in England. Es gibt dafür ein wahrhaft klassisches Zeugnis, das ihren theoretisch formulierbaren Ertrag zusammenfaßte ‒ und zwar in stellenweise endgültigen Formulierungen: »The Lives of the English Poets« von Samuel Johnson. Es ist das Alterswerk dieses großen Literaturpapstes seines Jahrhunderts, das auch sehr konkrete und darum auch heute verwertbare Gesichtspunkte und Wertmaßstäbe für die damalige Würdigung dichterischer Übertragung von Dichtung enthält.
Liest man darin z. B. nach, warum auch Johnson Popes Homer-Übertragung gerade als solche für eines der ruhmvollsten und unabsehbar einflußreichen Dichterwerke Englands hält, so können einem die Schuppen von den Augen fallen; und man gewinnt einen der unmittelbarsten Einblicke in das uns heute so verschlossene Geheimnis jener so ganz anders gearteten und uns (versuchen wir nicht, sie als ein in sich geschlossenes Ganzes uns von innen heraus zu vergegenwärtigen) so fremd gewordenen Formgesinnung. Denn Johnson führt hier im einzelnen aus, daß und inwiefern Popes Homer weit mehr als bloße Übertragung eine mit allen Mitteln damals »moderner« Empfindungs- und Kunstweise erreichte Steigerung und Verfeinerung seines Urtextes sei ‒ und zwar eine Steigerung durch Verfeinerung ‒ oder, wie Johnson immer wieder betont, durch »Eleganz«.
Schon Vergil habe in seiner an Homers Seh- und Darstellungsweise so spürbar geschulten »Aeneis« in solchem Sinne viele Wendungen Homers bewußt und methodisch »verschönt«; und auf beider Kunst, so wie der aller späteren Meister der Versdiktion, auf bauend, habe Pope dann Wort für Wort und Satz für Satz den grandios primitiven Urtext des »Vaters der Dichtung« gleichsam emporgeläutert: indem er als Übersetzer für sein Zeitalter und für sein Volk ‒ und also damals innerhalb der Vollblüte der (augustanischen) »Zivilisation« ‒ schrieb. Ich darf in diesem Zusammenhang bekennen: liest man heute Popes Homer, so spürt man: Diese glanzvolle präzise Diktion ist unersetzlich, aber kaum ihrerseits ins Deutsche zu übersetzen; innerhalb ihres Sprachmediums aber kann sie nie veralten.
Dieser Exkurs, meine Damen und Herren, sollte begreiflich machen, daß und warum innerhalb der anglo-amerikanischen Literatur der Spielraum der so häufig auch theoretisch begründeten Praxis des Übertragens griechisch-römischer Versepik von vornherein so viel breiter angelegt war als der deutsche; übrigens trifft dies auch auf die Lyrik der Antike zu: Noch der frühe Bahnbrecher der lyrischen Moderne Englands, Gérard Manley Hopkins, übersetzte Horaz bei subtilster moderner Diktion in Reimverse; und Alfred Edward Housman (1859 bis 1933), der große Altphilologe und melancholisch-sarkastische Lyriker, wie später sogar noch Rudyard Kipling, verfuhren Horaz gegenüber genau so.
Erklärt es sich aus der dank ihrer Verschmelzung germanischen und romanischen Wortschatzes so reichen Orchestration der englischen Sprache, daß die Neigung und die Fähigkeit der Übersetzer zu so merkwürdig vielgestaltiger Anverwandlung antiker Poesie dort seit über sechs Jahrhunderten so ausgeprägt ist? Jedenfalls gilt für diese, wie Goethe sagen würde, parodistische Art der Übersetzung, daß sie oft aus weithin gleichsam nur vorgegebenem Urtext jeweils eigenständige und zeitnahe Dichtung zu schaffen vermochte und (heute vor allem in Amerika) weiterhin schafft.
Abschließend und zu meinem Ausgangspunkt zurückkehrend, möchte ich betonen, daß es mir selbst seit je um die ‒ in Goethes Sinne ‒ »identifizierende« Übertragung ging, deren Spielregeln so viel strenger sein müssen. Inwiefern, das besagt ein kurzer, von mir schon vor Jahren formulierter Text, den ich gerne als eine Art »Magna Charta« der Theorie und der Praxis meines Übersetzens bezeichne. Er lautet:
Das Vorgehen des Übersetzers ist dem des Dichters selbst in einem entscheidenden Sinne invers. Dieser, nämlich der Dichter, geht, mathematisch gesprochen, den Weg vom Ganzen zu den Teilen, wo jener, der Übersetzer, den umgekehrten Weg einschlagen muß. Der Königsweg des Dichters führt diesen in einem durchaus unzeitlichen Vorgang, der als »Vision« oder als »Motiv« seine eigenste Sprachpotenz weckt und befruchtet, unmittelbar in die sich in Sprache entladende schöpferische Spannung einer ungewöhnlichen Lockerung sonst gebundener Geisteskräfte: darin ist er ebenso poeta wie vates wie magus; und zu dem wahrhaft »Zauberischen« seines Tuns gehört es, daß er die Binde, die ihm selbst in solchen Augenblicken einer durch höchste innere Betätigung vermittelten Schau von den Augen fällt, auch von denen seiner empfänglichsten Leser zu lösen vermag. Hier ist der Punkt, wo der Übersetzer, den man wohl als den zugleich hingehendsten wie aktivsten Leser des Dichters bezeichnen darf, seine ‒ unentbehrliche ‒ Inspiration empfängt. Das Entscheidende dabei ist, daß sich die Sprache des Dichters an seiner »Vision«, die »Vision« des Übersetzers aber an der Sprache des Dichters entzündet, so daß jener, der Übersetzer, also gerade auch hier nicht an einem »Thema«, sondern an einem Modell arbeiten muß. Das muß seine Bescheidung und sein Stolz zugleich sein.