The »Johann-Heinrich-Voß-Preis für Übersetzung« (Prize for Translation) has been awarded by the German Academy for Language and Literature since 1958 for the »outstanding achievements in translation,« with a particular emphasis on the translation of literature into German.
The prize is awarded annually at the spring conference of the German Academy.
The Johann Heinrich Voß Prize has been endowed with €20,000 since 2002.
Translator
Born 6/3/1923
Deceased 23/4/1989
Member since 1977
... dem Wegbereiter Samuel Becketts in Deutschland.
Jury members
Kommission: Hans Bender, Hans Hennecke, Horst Rüdiger, Fritz Usinger
Mitglieder des Erweiterten Präsidiums
Rückblicke ‒ Einblicke ‒ Ausblicke
Valéry Larbaud, einer der europäischen Altmeister der literarischen Übersetzung, empfiehlt allen, die dem heiligen Hieronymus nacheifern, beim Erscheinen einer Übersetzung jenen Personen zu danken, die einem durch Hinweise und Ratschläge bei der Arbeit geholfen haben. Gestatten Sie mir bitte, daß ich mit meinem Dank an die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung für die mir zugedachte Ermutigung den Dank an alle verbinde, ohne deren Zuspruch und Großmut, ohne deren Nachsicht und Anteilnahme ich den Weg zu meinem Arbeitsfeld schwerlich gefunden hätte. Ich denke zuerst an meine Eltern: an meine aus Holland an den Niederrhein gekommene Mutter, deren niederländische Lieder kontrapunktisch zum Klang der deutschen Sprache die Ohren ihrer Kinder schon früh an europäische Polyphonie gewöhnten, und an meinen Vater, der nach dem Ersten Weltkrieg, angeregt durch das Vorbild des sprachbeflissenen holländischen Nachbarvolks, seine Freizeit Sprachstudien widmete, um in seiner Familie die Freude am Verstehen des Anderen zu wecken, und dessen letztes ins Vokabelheft eingetragene Wort das italienische ›il còmpito‹ ‒ ›die Aufgabe‹ war. Ich erinnere mich an den ersten Französischlehrer, der, vom Elsaß an die deutsch-niederländische Grenze verschlagen, nicht nur Grammatikregeln, sondern auch den Wohlklang des Französischen vermittelte. Ich denke dankbar an den Deutschlehrer des Gymnasiums in Geldern, der seinen von Trommelgedröhn, Fanfarenstößen und Marschgebrüll schier betäubten Schülern in den dreißiger Jahren so beschwörend-eindringlich zurief: ›Die Zeit des Gedichts kommt wieder!‹, daß man diese Verheißung über die Elendsjahre hinaus im Gedächtnis behielt. Und wie könnte ich je den Gendarmen aus Mourmelon bei Reims vergessen, der im Frühjahr 1946 nach einem morgendlichen, kurzen Gespräch am Kriegsgefangenenlagertor nachmittags zwei Molière-Bändchen für die Lagerbühne brachte und, ohne daß man ihm dafür hätte danken können, gleich wieder verschwand. Durch seine unverhoffte großmütige Geste wurde es möglich, aus der Farce ›Le médecin malgré lui‹ die Posse ›Der Arzt wider Willen‹ zu machen, die auch aufgeführt und sogar vom Lager-Verlag in hektographierten Exemplaren veröffentlicht wurde. Damals hatte man, wenn das abgegriffene, halb zerrissene Taschenlexikon keine Auskunft gab, die sprachkundigen Kameraden in ihren Lagerstraßen aufsuchen müssen, um Aufschluß über die Bedeutung eines Wortes zu bekommen. Das Gelingen der Übersetzung hing auch von ihrem Gedächtnis ab. Das Barackenlager in seiner Abgeschlossenheit war eine Art Sprachspeicher, der nur das hergab, was einige Kriegsgefangene vom Unterricht in der Schule oder an der Universität behalten hatten. Eingedenk solcher Erfahrungen gilt mein Dank auch den Lexikographen, deren Mühen dem Übersetzer zahllose Umwege bei der Wortsuche ersparen. Bedenkt man, wie wenig von den jetzt unentbehrlich gewordenen Nachschlagewerken während der ersten Jahre nach dem Kriege vorhanden war, so fragt man sich, woher man den Mut nahm, sich auf das weite Feld zwischen den Sprachen zu wagen.
Die Gelegenheitsübersetzungen für die Schublade entstanden sicherlich vor allem, um dabei tiefer in Fremdsprachen einzudringen, aber auch, um nach den Jahren des Sprachmißbrauchs mit dem Deutschen ins reine zu kommen, wenn das je möglich ist. Diesem Klärungsprozeß sollte auch das Sprechen auf der Bühne, das Theaterspiel im Freundeskreis an der Johannes-Gutenberg-Universität dienen und das Wanderbühnen-Leben während der Semesterferien im Frühjahr 1947 am Niederrhein und im Westerwald. Als Mainzer Professoren mich Ende 1949 auf gut Glück zur Sorbonne schickten, trugen meine Studienfreunde mir auf, nach neuen Stücken mit wenigen Rollen Ausschau zu halten. Darum versuchte ich die Übersetzung des Drei-Personen-Stücks »Césaire« von Jean Schlumberger, die vom Autor wohlwollend gebilligt wurde, obgleich schon eine Version aus anderer Feder vorlag. Auf den damals anspornend wirkenden Vergleich zwischen dem schon vorliegenden Manuskript und dem eigenen Versuch folgten später Vergleiche von immer wieder aufs Neue versuchten Übersetzungen eines und desselben Textes: einer fragmentarisch gebliebenen Kindergeschichte von Valéry Larbaud. Das Verfahren erlaubte, in den Zwischenzeiten Hinzugelerntes zu erkennen und entsprechend kritisch zu bleiben. Auf den Dichter und Essayisten Valéry Larbaud hatte der armeno-russische Autor französischer Zunge Arthur Adamov mich aufmerksam gemacht, der mir als erster Hörspiele und dann Bühnenstücke zur Übersetzung anvertraute. Da er selber Werke von Kleist, Büchner und Rilke ins Französische übersetzt hatte, konnte er mir beim Anhören meiner Vorschläge seine eigenen Arbeitserfahrungen vermitteln. Durch die Begegnung mit ihm erfuhr ich den Anspruch eines literarischen Werks, dem es gerecht zu werden galt. Die Zeit der Gelegenheitsübersetzungen zum bloßen Zweck des Sprachstudiums war vorbei. Es ging nun vor allem darum, einer lebendigen Stimme durch recht genaues Verstehen und möglichst getreue Wiedergabe Gehör zu verschaffen. Bei dieser ersten Zusammenarbeit mit einem Autor wurde mir bewußt, wie notwendig es für den Übersetzer ist, mit dem Ohr auch in dem Sprachraum zu leben, in dem die Werke gedeihen, von denen er ein Höchstmaß an Sinn, Form und Klang in seine eigene Sprache herüberholen möchte.
Arthur Adamov verdanke ich erste entscheidende Theatererlebnisse, vor allem aber das Erlebnis der Uraufführung von »En attendant Godot« im Januar 1953. Wenige Wochen später, als die deutsche Fassung des Stückes vorlag, begann meine nun fast zwei Jahrzehnte dauernde Übersetzerlehre bei Samuel Beckett, der sich mit unendlicher Geduld alle meine Versionen anhörte und mir bei der Arbeit, wie ein Maler in einem Atelier, immer wieder zur Hand ging. Aber bevor ich ein wenig aus dieser Schule plaudere, müßte ich noch manche günstige Konstellation erwähnen und zahlreiche Vermittler nennen, die ermöglichten, daß die Ergebnisse erster Übersetzungsversuche von Werken verschiedener Gattungen, wie beispielsweise des Hörspiels »L’agence universelle« und des Bühnenstücks »Tous contre tous« von Arthur Adamov sowie des niederländischen Romans »De grote zaal« von Jacoba van Velde deutsche Rundfunkhörer, Theaterbesucher oder Leser erreichten: ich meine, die neuen Tönen aufgeschlossenen Dramaturgen, die auf Einstimmung bedachten Schauspieler, die wagemutigen, immer noch lesenden Verleger, die hilfsbereiten Lektoren, die Buchhersteller und ihre Mitarbeiter, die sensiblen Rezensenten, aber auch die Buchhändler alten Schlags; ihnen allen gebührt mein Dank dafür, daß sie so oft mitwirkten, erste Kontakte zwischen den Stimmen fremdsprachiger Autoren und den Ohren Deutschsprachiger zu schaffen. Es bedurfte schon eines gewissen Vertrauensvorschusses seitens der Theaterabteilung des S. Fischer Verlags, um 1953 die »Godot«-Übersetzung eines unerfahrenen Anfängers, so wie sie abgeliefert wurde, durchgehen zu lassen und auf eine Überarbeitung zu verzichten. Für dieses Entgegenkommen möchte ich dem damaligen Mitarbeiter dieses Verlags, Herrn Generalsekretär Dr. Ernst Johann danken. Und dem damaligen Direktor der Deutschen Bibliothek und ehemaligen Präsidenten der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, Herrn Professor Eppelsheimer, der im Winter 53 an der Spitze einer Delegation von Bibliothekaren in Paris weilte, bin ich heute noch dankbar dafür, daß er sich damals eine der ersten »Godot«-Aufführungen im ungeheizten Théâtre Babylone ansah und seinem Verlegerfreund Peter Suhrkamp über das Ereignis berichtete. So kam es, daß neben den Bühnenwerken Becketts bald auch dessen Prosawerke in der Bundesrepublik erscheinen konnten. Von bis heute 56 Veröffentlichungen Samuel Becketts war »En attendant Godot« der 29. Titel. Frühere und spätere Arbeiten ordneten sich, zum Teil im Rhythmus einer Springprozession übersetzt, um das Durchbruchswerk herum an. Wenn die Beckett-Gesamtausgabe auf deutsch vorliegen wird, sollten die einzelnen Übersetzungen sich so aneinanderfügen, als wären sie in der Reihenfolge der Originale entstanden. Diese ideale Erwartung läßt eine gewisse Offenheit, eine beständige Änderungsbereitschaft im Hinblick auf Schon-Übersetztes wünschenswert erscheinen, denn »das Ende verleiht den Worten ihren Sinn«, wie es in einem der »Textes pour rien« heißt. Oft entstand die deutsche Version aufgrund des französischen Originals, dem erst später die englische Fassung aus der Feder des Autors folgte, so daß sich für das Deutsche nachträglich eine neue, durch Erst- und Zweitoriginal begrenzte Interpretationsbreite ergab. Das gilt z. B. auch für den zuletzt veröffentlichten Text »Le dépeupleur« / »Der Verwaiser«, dessen englisches Pendant in Kürze unter dem Titel »The Lost Ones« erscheinen wird, so daß eine Neuabstimmung der deutschen Version mit beiden Dominanten nötig wird. Wenn auch die vorliegenden zwei- und dreisprachigen Ausgaben Textvergleiche erleichtern, so geben doch die deutschen Fassungen immer nur Teilaspekte der Übersetzerarbeit wieder. Es wird schwerlich möglich sein, von diesen Ergebnissen aus mit Sicherheit auf die Umsetzungsprozesse zu schließen. Ich selber könnte kaum Auskunft darüber geben, warum ich bei meinen ersten Arbeiten gewisse Wörter, Formulierungen oder Klangfolgen anderen sich bietenden Möglichkeiten vorgezogen habe. Aus den ersten zwölf Jahren meiner Tätigkeit sind nur wenige vage Vorstellungen von meiner Arbeitsweise übriggeblieben, ein paar Erinnerungen an Einwände, ein paar Gebote, z. B. daß in »Warten auf Godot« entsprechend der Replik »die Zeit ist stehengeblieben« zwanzig Seiten später, als von Pozzos Taschenuhr die Rede ist, die dort zu stellende Frage »Vielleicht ist sie stehengeblieben?« zu lauten hat und nicht diskordant bloß »Vielleicht steht sie?«, oder daß in »Malone stirbt« ein im Französischen untergetauchtes Grillparzer-Zitat wieder deutlich als der halbe Vers »des langen Sommers Freuden« aus »Des Meeres und der Liebe Wellen« auftauchen mußte, oder daß Normalisierungen zu vermeiden waren. Aber wie war eine im Original beabsichtigte Abweichung vom normalen Sprachgebrauch vor allem in den ersten Jahren zu erkennen? Da das Ohr noch ungeübt war, verließ man sich meist auf das, was »Intuition« genannt wird. Die Register der Übersetzungsmöglichkeiten wurden nicht systematisch vermehrt. Nur ein einziges Mal angewandte Kunstgriffe gerieten bald wieder in Vergessenheit, verschwanden wieder aus dem Arsenal. Manche Erfahrung, deren Modellcharakter sicherlich einem selber, womöglich aber auch anderen hätte dienen können, wurde verschwendet. Erst Mitte der sechziger Jahre wurde die Übersetzerschaft durch Berichte über Fortschritte auf dem Gebiet der automatischen Übersetzung aufgeschreckt. Im Verein mit anderen deutschsprachigen Übersetzern literarischer und wissenschaftlicher Werke und unter hilfreicher Anleitung von Sprachwissenschaftlern begann die Suche nach geeigneten Methoden der Vermittlung von Arbeitserfahrungen. Wenn der französische Linguist Jean-Paul Vinay bedauert, daß der Übersetzer nur selten darüber nachdenkt, auf welche Weise er die Äquivalenz zwischen neuen fremdsprachigen Ausdrücken und gewissen Segmenten seiner Muttersprache erkannt hat, und auch der deutsche Sprachwissenschaftler Klaus Baumgärtner fragt, was der Sprachübersetzer beim Übersetzen eigentlich formal bewerkstelligt, scheint es ein wissenschaftliches Interesse für jene Operationen zu geben, die bislang aus Furcht vor unzulässigen Verallgemeinerungen des Besonderen kaum ermittelt wurden. So sei es mir nach diesem Rückblick auf die Anfänge erlaubt, Ihnen bei Gelegenheit dieser Arbeitssitzung einen kurzen Einblick in meine Tätigkeit der letzten Monate zu geben, die erst zum stets vorläufigen Abschluß kommt, wenn das Manuskript dem Setzer ausgehändigt wird. Es handelt sich um die Übersetzung von Becketts erstem französisch geschriebenen Roman »Mercier et Camier«; deren kleine Odyssee, die bereits Wladimirs und Estragons Wanderschaft ankündigt, spiegelt sich zum größten Teil in Dialogen, die von kurzen Erzählungen, Beschreibungen, Betrachtungen und Zusammenfassungen unterbrochen werden, so daß bei der Arbeit an dem circa 140 Schreibmaschinenseiten langen Text über 1200 Notizen verschiedenster Art gemacht werden konnten. Diese Notizen entsprechen weit über 1000 Übersetzungsschwierigkeiten, etwa 7 bis 8 pro Seite. Die in Anlehnung an Wilhelm von Humboldts Dreiteilung (Wortschicht, syntaktisch-grammatische Periodenschicht und metrisch-numerische Klangschicht) geordneten 158 Schwierigkeiten des ersten Kapitels stehen in einem der Eigenart des Stils entsprechenden Verhältnis zueinander: hundertviermal mußten Wortbedeutungen schlecht und recht zur Deckung gebracht werden, dreiundvier-zigmal waren grammatische oder syntaktische Probleme zu lösen, und siebenunddreißigmal galt es, rhythmische oder klangliche Unstimmigkeiten zu beheben. Hinzu kamen noch acht Schwierigkeiten, die nur mit Hilfe des Autors überwunden werden konnten. Den 158 Problemen stehen 192 Lösungen auf verschiedenen Ebenen gegenüber, da manche Schwierigkeiten mehrere Aspekte haben und zugleich die Bedeutung, den Satzbau und den Wohlklang betreffen können. Mehr als die Hälfte der Notizen sind also in diesem Falle semantischer Natur, d. h. in über hundert Fällen konnte nur dank der direkten oder indirekten Hilfe vorliegender Lexika das mehr oder weniger treffende Wort gefunden werden. Ohne die Aufzeichnungen, die auch des Übersetzers Zweifel und Entscheidungsprozesse wiedergeben, wären die einmal erarbeiteten Verbindungen zwischen französischen und deutschen Bedeutungswerten, Ausdrucksweisen oder Redensarten wieder unterbrochen worden und gewiß nur zu einem geringen Teil im Gedächtnis haften geblieben. Wenn Camier im ersten Kapitel zu Mercier sagt: »Si on s’assoyait, cela m’a vidé«, und Mercier antwortet: »Tu veux dire s’asseyait«, und Camir trotzig erwidert: »Je veux dire s’assoyait« und Mercier schließlich einlenkt: »Assoyons-nous«, dann ist diese Vorform des in »Warten auf Godot« siebenmal wiederkehrenden typischen Dialogschemas (in dem dann allerdings das nachgiebige Einlenken zum klügeren Schweigen geworden ist) ein Spiegelbild der Unsicherheit gegenüber verschiedenen sprachlichen Ausdrucksmitteln. Der erwähnte »Mercier et Camier«-Dialog ist geradezu ein Musterbeispiel für die »dynamische Synchronie«, von der Roman Jacobson kürzlich in Paris sprach: es wird hier ein Schwanken zwischen zwei einander ablösenden sprachlichen Möglichkeiten demonstriert. Für die Übersetzung bot sich folgender Notbehelf an: »Wenn wir uns hinsetzen würden, das hat mir den Rest gegeben. ‒ Du willst sagen, wenn wir uns hinsetzten, sagte Mercier. ‒ Ich will sagen, wenn wir uns hinsetzen würden, sagte Camier. ‒ Na dann, meinetwegen, sagte Mercier.«
Die Wahl zwischen mehreren Möglichkeiten, die Abstimmung der Möglichkeiten mit dem Textzusammenhang, dieser eigentliche Arbeitsprozeß schlägt sich, gleich einem sich selber widersprechenden, sich immer wieder verbessernden Monolog auf den Zetteln des Übersetzers nieder. Von den Hunderten »Mercier et Camier«-Notizen hier nur ein paar aus der »Wortschicht«: »Il écouta ‒ er hörte ‒ horchte ‒ lauschte ‒ spitzte die Ohren ‒ er wartete gespannt.« ‒ »En voilà un vocable de valeur ‒ Das ist mir eine wertvolle Vokabel ‒ Das ist mir ein Wort, das es in sich hat.« ‒ »Cela se défend aussi ‒ das läßt sich auch hören ‒ das hat auch was für sich.« ‒ »Ce n’est pas tous les jours qu’il est donné de couper en quatre un cheveu de cette qualité. ‒ Es kommt nicht alle Tage vor, daß man ein Haar von solcher Qualität spalten kann ‒ Es ist einem nicht alle Tage vergönnt, Haare von solcher Qualität zu spalten.« ‒ »Je reviens à la charge ‒ Ich versuche es noch einmal ‒ Ich mache einen neuen Vorstoß.« ‒ »Et j’en en passe. ‒ Und wer weiß was noch.«
Zum Verfahren sei gesagt, daß die Vokabeln, um die es geht, mit dem unerläßlichen Minimum an Kontext notiert werden und absichtlich so, daß der unbefriedigende, durch Überlagerungen belastete erste Einfall als Station auf dem Weg zur vorgeschlagenen Lösung erhalten bleibt. Aus der syntaktisch-grammatischen Periodenschicht als Beispiel der erste Satz des Romans: »Le voyage de Mercier et Camier, je peux le raconter si je veux, car j’étais avec eux tout le temps«, da sich hier im Deutschen dank den Satzbaumöglichkeiten die Wahl zwischen folgenden fünf Formen bietet: »Merciers und Camiers Reise kann ich erzählen, wenn ich will, denn ich war die ganze Zeit dabei«, oder »Ich kann Merciers und Camiers Reise erzählen, wenn ich will, usw. ...«, oder »Wenn ich will, kann ich Merciers und Camiers Reise erzählen, usw. ...«, oder »Da ich die ganze Zeit dabei war, kann ich usw. ...«, oder aber »Die Reise von Mercier und Garnier kann ich erzählen, wenn ich will, denn ich war die ganze Zeit dabei.« Der Autor zog diese letzte, dem Incipit des Originals entsprechende Interlinearversion vor, also dem sächsischen Genitiv das umgangssprachlich beliebtere Präpositionalgefüge mit »von«, was von vornherein, wie der Schlüssel auf einem Notenblatt, Konsequenzen für die weitere Arbeit hatte. Es wäre freilich ein Gewinn gewesen, wenn bei diesem ersten Satz auch die drei Binnenreime »peux ‒ veux ‒ eux« eingebracht worden wären. Diese Beobachtungen aus der Klangschicht bilden den geringsten Teil der Summe aller Notizen, vielleicht weil das Ohr so sehr auf das Verstehen des bloßen Sinns abgerichtet ist, daß es nur allmählich in die dritte Schicht hineinhorcht. Ob der genaue Wortsinn, ob Satzbauformen oder Reime jeweils den Text tragen, ist von Fall zu Fall zu ermitteln. Wenn es z. B. heißt, daß Mercier und Camier nicht genug Geld haben, »pour voyager en première classe et pour descendre dans les palaces«, so liegt es hier nahe, den Reim zu retten; darum lautet diese Stelle im Deutschen: »wenn sie auch nicht genug Geld hatten, um 1. Klasse zu reisen und in Luxushotels zu speisen, so hatten sie doch genug, um herumwandern zu können, ohne dabei betteln zu müssen.« Die deutsche Version dieses Romans wurde dem Autor vom Tonband vorgespielt, so daß beim Abhören anhand des französischen Originals unberücksichtigt gebliebene Nuancen besser als bei früheren Arbeitssitzungen zu entdecken waren. Da, wo Mercier seinem Gefährten in der Abenddämmerung die Insel der Seligen zeigt und sagt: »C’est l’Ile Heureuse des anciens«, erweist sich eine Defizienz des Wortes »die Alten« im Vergleich mit dem französischen »les anciens«, und außerdem stören die aufeinanderfolgenden Genitive »die Insel der Seligen der Alten«. Mein erster Vorschlag »Die Insel der Seligen, der alten Griechen und Römer« fand beim Autor keinen Anklang, weil auch die Kelten von einer ähnlichen mythischen Insel namens »Hy Brasil« geträumt hätten. »Das ist die Insel der Seligen, das Elysium der Alten«, ließ der Autor gelten. Aber dieses Geltenlassen bei bloßem Abhören kann freilich auch in vielen Fällen wohlwollende Nachsicht sein. Für die Deutung der Werke scheinen vor allem jene Notizen zu zählen, die von kritischen Einwänden des Autors zeugen wie dieser: »Je peux t’aider, je ne peux pas te ressusciter« sollte nicht durch »Ich kann dir helfen, aber ich kann dich nicht zu neuem Leben erwecken« wiedergegeben werden, sondern, deutlicher anspielend, durch »Ich kann dir helfen, aber ich kann dich nicht wiederauferstehen lassen«. Und da, wo von Worten die Rede ist, »qui mettent quelque temps à dégager tout leur bouquet« ‒ »die einige Zeit brauchen, um ihr ganzes Feuerwerk abzubrennen« oder »um zu voller Wirkung zu kommen«, zog Beckett »Worte, die einige Zeit brauchen, um ihren vollen Duft auszuströmen« vor. Freilich sollten derartige Notizen auch die spontanen Benennungen der jeweiligen Schwierigkeiten enthalten, an deren Vielfalt und Differenzierungen Grad und Grenzen der Wahrnehmungsfähigkeit zu erkennen wären. Und schließlich sollten diese Benennungen möglichst durch eingeführte linguistische Termini ersetzt werden.
Bei der Beschäftigung mit Becketts frühen Schriften, die, wie Jean-Jacques Mayoux sagt, ein einziges erfinderisches linguistisches Spiel sind, wurde die Humboldtsche Dreiteilung (Wort, Satz, Klang) in vielerlei neue Fächer unterteilt, die Beobachtungen aufnehmen, welche nicht nur sprach-, gattungs- und autorspezifischen Aspekten entsprechen, sondern darüber hinaus u. a. folgende allgemeine wie besondere Problemkomplexe betreffen: grammatisches Geschlecht, Adjektivstellung, Vorsilben, Wortkonkordanz, Satzbaukonkordanz, Reime und Assonanzen, Verklammerungen, Wortlängen bei Permutationen, »Vasarely-Effekte«, Wiedergabe von Aussprachefehlern, Ausnützung latenter sprachlicher Möglichkeiten gestützt auf das gleiche Verfahren des Autors (z. B. neben »ungestüm« Anwendung von »gestüm«, neben »Unterzeug« Anwendung des Wortes »Oberzeug«), die »gleitende Erzählzeit« (unauffälliger Wechsel vom Futur zum Präsens), Übersetzung von umgekehrten Wörtern (»nodrap« alias »pardon« wird zu »gnuhiestrev« alias »Verzeihung« oder zum leichter sprechbaren »gnugidluschtne« alias »Entschuldigung«), unumgängliche Wortbildungen (»aunt-in-law« wird zur »Schwiegertante«), nicht zusammengesetzte französische Wörter im Verhältnis zu deutschen Komposita (la boule d’os d’ivoire ‒ die Elfenbeinkugel, wobei die umgekehrte Reihenfolge der Elemente des Kompositums ‒ abc wird zu cba ‒ Schwierigkeiten bereiten kann), oder, zum Abschluß, dieses Komposita-Problem aus »Watt«: es handelt sich um Blumen, um »a daisy, or a primrose, or a cowslip, or a buttercup, or a violet, or a dandelion« oder um »une pâquerette, ou une primevère, ou un coucou, ou un bouton d’or, ou une violette, ou un pissenlit« oder um »ein Gänseblümchen oder eine Butterblume oder ein Veilchen oder einen Löwenzahn«. Man hört es gleich: die Wiederholungen von Schlüssel und Blume in den zusammengesetzten Wörtern stören hier. Um das Sträußchen neu zu binden, wählte ich ein Tausendschönchen, eine Primel, eine Schlüsselblume, eine Butterrose, ein Veilchen und ein Löwenmäulchen. Und dieses imaginäre kleine Bukett möchte ich gern meiner Frau Erika Tophoven-Schöningh anbieten, ohne deren treue, unermüdliche Hilfe ich die englischen Werke Becketts und manches andere nicht hätte übersetzen können.
Es ist klar, daß die meisten Lehren, die aus derartigen Arbeitsnotizen zu ziehen sind, sich mit den Erfahrungen Hunderter anderer Übersetzer decken. Bei Vergleichen solcher gesammelter Einsichten werden sich jedoch von den sprachspezifischen Konstanten die autorspezifischen Innovationen abheben. Dabei erweist sich dann deutlich, was man den einzelnen Autoren besonders verdankt: z. B. Robbe-Grillet das Exerzitium zu utopischer Spracheichung neigender Präzision, Nathalie Sarraute die Einübung in eine aus vielen Sprachen genährte Umschreibungskunst, und Claude Simon den Umgang mit bis zum äußersten gespannten Perioden, die eine Wiederkehr des Rhapsoden ankündigen; und manchen anderen Autoren verdanke ich andere Befreiungen von lästigen, einengenden Sprachgewohnheiten, denn jedes im wahren Sinne neue literarische Werk erfordert eine Umstellung auf ein ihm angemessenes Übersetzungsverfahren, dessen erarbeitete Prinzipien kurzsichtig als Berufsgeheimnisse gehütet oder aber, wie in anderen Disziplinen, zur Förderung der Kunst vermittelt werden können.
Das sich weiterentwickelnde automatische Übersetzungswesen hat eine Besinnung der Humanübersetzer auf ihre ungenützten Möglichkeiten herbeigeführt. Sie haben ihre Klausen verlassen und sind miteinander ins Gespräch gekommen: Grund genug zu neuen Hoffnungen. Wenn man sich nun in irgendeiner Abenddämmerung eine Insel der Seligen, ein irdisches Elysium der Übersetzer vorstellt, so würde dort die Kunst des Hörens, Verstehens und Wiedergebens fremdsprachiger Literatur derart von den Älteren an die Jüngeren überliefert, daß nicht jeder einzelne Anfänger, wie so lange Zeit, immer wieder von vorne anfangen müßte, hellhörig zu werden. Die Arbeitserfahrungen, die eigentlichen Früchte der Arbeit, der von der Spreu gesonderte Weizen würde jeweils in der rechten Weise ausgesiebt werden. Ein großer Haufen Körner, der lediglich von persönlichen Unzulänglichkeiten zeugende Teil, würde im eigenen Kropf verschwinden. Ein anderer Teil von Problemlösungen mit Modellcharakter käme in den Topf, aus dem die stets der Ergänzung bedürfende Methodenlehre mit neuem praxisnahem Stoff versorgt würde. Ein weiterer Teil linguistischer Entdeckungen wäre für den unmittelbaren Austausch unter Übersetzerkollegen bestimmt. Ungewöhnlich erscheinende Strukturen würden dem oft lange Monate mit einem einzigen Buch Beschäftigten belebende Einsichten in die Gewebe anderer Werke, z. B. von Butor, Le Clezio oder Söllers erlauben. Eine strenge Auslese der Körnchen, (die unumgänglichen Wortbildungen oder übersetzten Neologismen), würden dem Lexikographen zur Speisung des elektronischen französisch-deutschen und deutsch-französischen Sprachspeichers angeboten, um dafür immer dann, wenn Wörterbücher keinen Rat mehr geben, ganze Reihen von Äquivalenten mit Kontext-Beispielen abrufen zu können. Noch ein anderer Teil von Aufzeichnungen würde für vergleichende Sprachwissenschaftler und Literarhistoriker aufbewahrt. Die wenigen Körner aber, um die sich alle Mühe lohnt, die eigentlichen Gewinne, die man übersetzend in die eigene Sprache einbringen kann, wären die vielleicht zum erstenmal gehörten und wiedergegebenen Übereinstimmungen von Sprache mit neu gesehenen Teilen der uns umgebenden, sich ständig erweiternden erkennbaren Wirklichkeit, wie z. B. diese Stelle aus »Mercier et Camier«, wo es statt »le soleil se levait« (die Sonne ging auf) heißt: »la terre se tramait vers la lumière, la brève, trop longue lumière«, oder »die Erde wälzte sich ins Licht, ins kurze, allzu lange Licht«.
Ich danke der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung für die Ermutigung, und Ihnen allen danke ich für Ihre Geduld.