Johann-Heinrich-Voß-Preis

The »Johann-Heinrich-Voß-Preis für Übersetzung« (Prize for Translation) has been awarded by the German Academy for Language and Literature since 1958 for the »outstanding achievements in translation,« with a particular emphasis on the translation of literature into German.
The prize is awarded annually at the spring conference of the German Academy.
The Johann Heinrich Voß Prize has been endowed with €20,000 since 2002.

Curt Meyer-Clason

Translator and Publicist
Born 19/9/1910
Deceased 14/1/2012

... für seine außerordentlichen Leistungen als Übersetzer und als Vermittler lateinamerikanischer Lyrik und Prosa.

Jury members
Kommission: Walter Helmut Fritz, Hans Hennecke, Horst Rüdiger, Fritz Usinger

Mitglieder des Erweiterten Präsidiums

Aufgenommen zu werden in den Kreis jener ausländischen und inländischen Preisträger der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, welche die Literatur ihres Landes durch ihr übersetzerisches Werk bereichert haben, ist für mich eine Ehre und eine Freude. Und dafür danke ich Ihnen. Aber es ist für mich auch eine Genugtuung, weil ich durch die Auszeichnung meiner Mittlerschaft die Literatur eines Kulturkreises und Kontinents gewürdigt sehe, der trotz dreimaliger Verleihung des Nobelpreises während zwanzig Jahren im deutschen Sprachgebiet bislang nicht das Echo zuteil wurde, das ihr gebührt. Denn gerade die Schriftsteller der lateinamerikanischen Gegenwart schreiben vom Menschen für den Menschen, in ihren Büchern liegen Leben und Wort übereinander wie Zahl und Gesicht einer Münze.
Lassen Sie mich von Lateinamerika sprechen.
Auf einer Insel, geringe Seemeilen von der brasilianischen Küste entfernt, lebte vor Jahren ein abenteuerlicher Haufe von Leuten, vom Zwang der Zufälle zusammengetrieben aus vielen Windrichtungen ‒ jugoslawische Seemänner, italienische Piloten, deutsche Wissenschaftler, Techniker und Kaufleute, argentinische Pelzschmuggler, Strandläufer und Weltenbummler ohne Nationalität, ohne Paß und Reiseziel. Sie hatten sich ‒ anscheinend auf Anordnung der Behörden ‒ in dem freigemachten Flügel einer Strafkolonie und in den halbverfallenen Bauten einer Quarantänestation aus der Kolonialzeit eingerichtet, so häuslich wie möglich und auf unabsehbare Zeit.
In Europa war Krieg, aber auf der Insel stand die Zeit still, bis auf die Gezeiten des Meeres, bis auf die Zeiten des Regens. Die Schneideameise tat das Jahr über ihr Zerstörerwerk, und der Mamão-Baum trieb neue Blüten, noch bevor seine letzte Frucht ins klebrige Hartgras gefallen war.
Im Nebenflügel, bevölkert von den Kohorten der meist farbigen Strafgefangenen, herrschte durch die Zahl seiner Morde und Strafjahre, verrucht und herrlich, Tinguá, den Totenkopf tätowiert auf seiner hoffärtigen Brust. Die aalglatten Taschendiebe, Gelächter in den gelben Gauneraugen waren ihm zu Willen. Der Schnapsschmuggel für die Deutschen ging durch seine Hände, der Nachrichtendienst nach draußen, Liebesgenehmigung und Rechtsprechung. Durch die Gitter zog süßsaurer Brodem, der heisere Singsang der Negerstimmen, das rhythmische Klappern der Holzsandalen.
Von Zeit zu Zeit erschien am Horizont, violetter Strich zwischen Blau und Blau, ein Punkt, das Postboot; dann eilten die Bewohner des Fremdentraktes auf die Landungsbrücke und zählten mit verengten Lidern das Auf- und Abtauchen des Schiffchens. Waren nach dem Auskosten der Nachrichten die Nerven wieder besänftigt, kehrte ein jeder zu seinem Handwerk zurück, das er sich erfunden hatte. Die Seeleute bauten einen Aquädukt von den Waldbergen herab zur Anstaltsküche. Der Ornithologe, bei Kriegsausbruch der sagenhaften Tropenlerche im Bahianer Sertão auf der Spur, hatte seine Forschungen auf die Insel verlegen müssen, weil der Name seines Auftraggebers, laut Personalakten die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, staatsgefährdende Aktivitäten vermuten ließ. Andere übten sich im Skatspielen, in Fremdsprachen, Mathematik und Langeweile, im Gemüseanbau und Dichten. Betten und Böden wurden von Wanzen enträuchert, Schaben aus Trockenfleisch und Bohnen geklaubt.
Abends brach die Himmelskuppel schwarz und flimmernd ein über der erhitzten Insel, seufzend beruhigte sich der Atem. In den Sälen wurde es still auf Befehl der Zikaden, und im Zeltbett sank man durch pflanzliche Schichten hinab in Träume aus Urgestein. Manchmal schrie einer der Schläfer, der an der Front den Bauchschuß seines Bruders erlitt oder das Ersticken in einer Gaskammer. Im Nebenflügel erwachten Gitarrenmusik und Gesang, Sambaschritte auf saugenden Sohlen, zum Takt raschelnder Streichholzschachteln. Ein Ziehen in den Tönen, das anschwoll bis zum Bersten der Lust, gespannt, geschmeidig und warm wie die blauschwarze Haut, triebhaft wie Schlingpflanzen, vergeblich, vergänglich und unvergänglich wie die maßlose Natur.
Alle paar Monate tobte drüben ein Aufruhr. Dann wußte man, daß einer dem anderen das Messer in die Rippen stieß. Kommandos hallten, Schüsse, das Schloß der gefürchteten Einzelzelle kreischte.
Im Ausländertrakt trafen sich täglich zwei Deutsche zum heißen Blechbechertee, der die Hitze bezwingen sollte und die Lähmung des Geistes. Der ältere, ein Aristokrat, Literat und Musiker, initiiert in allen Künsten und Genüssen der alten Welt, sprach; der junge, ein sportlicher Dandy und Kaufmann, hörte zu. Er, der bisher Krawatten gesammelt hatte und Tennisschläger und Mädchen, lernte aus dem Munde des Erfahrenen im Laufe von tausend und einem Nachmittag, was Literatur ist und Lesen, was der Sprung aus dem Leben ins Wort, die Verwandlung vom Erlebnis in die Erkenntnis, er erfuhr von den Gesetzen des Denkens, der Farben, der Syntax, von Geist und Macht, von Männern und Masken, vom Ursprung, von der Vielfalt und Einheit der Sprachen. Manchmal unterbrach sie Luiz Francisco, ein Wachposten, mit der Bitte um Vorlesung und Beantwortung eines Liebesbriefs. Sogleich ergriff der Baron Blatt und Papier und entwarf für die fünfzehnjährige Maria von der Niederkunft aus Santa Maria da Boca do Monte im fernen Rio Grande do Sul eine feurige Versepistel im Silbenfall des blutjung verstorbenen Sklavenverteidigers Castro Alves, während der Soldat ungeduldig sein freigelegtes Hühnerauge in der durchlöcherten Stiefelkappe mit dem Korken rieb, der statt eines Mündungsschoners den Lauf seines Karabiners verstopfte.
Währenddessen schloß der Dschungelwald, der Hänge und Kuppe der Insel bedeckte, gelassen jede Bresche, die menschlicher Spiel- oder Arbeitstrieb in seine Flanken schlug. Mitunter, vom Insel oder Reisefieber gepeinigt, rüstete der eine oder andere der Lagerbewohner zur heimlichen Wanderung durch Dickicht und Schneisen und gelangte womöglich in Sichtnähe eines hafenfernen Indiokanus. Doch ein Blick durchs Lianengewirr auf die weißglühende See, die er von Haien verseucht wußte, trieb ihn entmutigt in die allzu gewohnte Gemeinsamkeit zurück.
Eines Tages reisten alle ab, die meisten in die Himmelsrichtungen, aus denen sie gekommen waren, zu den Beschäftigungen, die sie verlassen hatten. Auch der Lehrer und seine Schüler, die Freunde geworden, gingen auseinander. Der ältere zurück in seine überlichteten Gedankengänge, die immer schon Ankunft waren, auf der ohnmächtigen Suche nach einem Umweg, nach einem Ausweg; der jüngere auf der Suche nach einem Neubeginn.
So kam ich zum Übersetzen, kaum ein Lehrling im Handwerk, dafür schon reichlich erwachsen.
Was ich also mit nach Hause brachte, war Lateinamerika, die archaische Gana-Welt, jene tropische vegetative Lehre vom Tun aus Lust und Liebestrieb, sodann Brasiliens neuerwachtes Pathos, Willensakt des Existierens könnte man es nennen, ein vorwärtsdrängendes Lebensgefühl, das sich ungern bei der Analyse der Gegenwart aufhält.
In einem dramatischen Versepos ‒ Tod und Leben des Severino von João Cabral de Melo Neto ‒ gelangt der Landflüchtling, ein Jedermann aus dem dürren Hinterland des brasilianischen Nordostens, der zur Küste wandert in der Hoffnung auf Arbeit, Brot und Leben, zur Lagunenstadt Recife; dort wohnt er der Geburt eines zur Skrofulose vorbestimmten Sumpfkindes bei und lauscht den Lobliedern, mit denen die herbeiströmenden Mischlingsfrauen die Schönheit des Neugeborenen rühmen. Eine von ihnen singt: »Du bist schön wie ein Ja / in einem Saal voller Nein.« Durch die zornige Ironie hindurch, mit der João Cabral das Elend seiner näheren Heimat beklagt, klingt all die Zärtlichkeit und Leidenschaft zum Menschen, von denen die Dichter Lateinamerikas überströmen, all der Wille, der das Leben in eigener Satzung gründen will ohne Bevormundung und Ausbeutung. Und das spornte mich an, eine neue Existenz, eine neue Arbeit zu wagen.
Dazu verhalfen mir zwei Männer, derer ich hier gedenken will: Fritz Jaffé und Jürgen Rausch, damals 1955, Lektoren der Deutschen Verlagsanstalt in Stuttgart. Beide lenkten meine Lehrzeit. Sie waren der Zauber, der dem Dichter zufolge jedem Anfang innewohnt, der mir half, zu leben. Der erste, Meisterübersetzer der Marguérite Yourcenar, vertraute mir am zweiten Tag unserer Bekanntschaft meine erste Übersetzung an und wohl ebenso leichtfertig, wie ich sie annahm. Der zweite brachte mir Kunstgriffe bei, Raffungen, Reime, Rhythmen, dazu eine Arbeitsregel, die so lauten könnte: Willst du dich kurz fassen, mußt du dir Zeit lassen.
Es war eine spannende Zeit, diese Neuentdeckung meiner Muttersprache. Ich lebte in der Angst um Wörter. Die, welche ich in Südamerika unbewußt gesprochen hatte, die Sprache der Straße, der Salons, der Warenlager, jetzt, in München, sammelte ich sie bewußt, begierig ein von Straßenplakaten, von Mündern, von Buchseiten. Alle klangen neu, keines erwies sich als verläßlicher Besitz. Um rascher zu lernen, suchte ich mir Thomas Manns Wortschatz anzueignen, ohne zu ahnen, daß Überfluß die Suche nach einem richtigen Wort erschwert. Aber ich verlor den Mut nicht, ich hatte Lateinamerikaner erzählen hören, deren Natur die Zwiesprache ist.
Der Rest ist Ihnen bekannt. Er ist das, wofür Sie mich ausgezeichnet haben. Ich darf daher verzichten, von Erfahrungen im Handwerk zu sprechen.
Wir müssen ja alle Übersetzer werden, sofern wir nicht schon welche sind, Übersetzer von einer Sprache in die andere, Übersetzer einer Meinung, einer Erkenntnis in die andere, eines Duden in den anderen ‒ wenn wir uns verstehen wollen. Und das, Verstehen, Verständnis, Wachstum, Überwindung der Grenzen ist wohl die summa aller Wissenschaft, deren die vielbeschworene ›Schule des Lebens‹ bedarf.
Und damit wiederhole ich meinen Dank an Sie, Herr Präsident, und an die Mitglieder des Prüfungsausschusses.