Johann-Heinrich-Voß-Preis

The »Johann-Heinrich-Voß-Preis für Übersetzung« (Prize for Translation) has been awarded by the German Academy for Language and Literature since 1958 for the »outstanding achievements in translation,« with a particular emphasis on the translation of literature into German.
The prize is awarded annually at the spring conference of the German Academy.
The Johann Heinrich Voß Prize has been endowed with €20,000 since 2002.

Annemarie Schimmel

Islamic Scholar
Born 7/4/1922
Deceased 26/1/2003

In der Nachfolge Friedrich Rückerts hat sie ihre umfassende Kenntnis orientalischer Sprachen in den Dienst eines fruchtbaren Austausches zwischen östlichem und westlichem Geistesleben gestellt...

Jury members
Kommission: Jan Aler, Roger Bauer, Hermann Lenz, Horst Rüdiger, Elmar Tophoven

Mitglieder des Erweiterten Präsidiums

»...und singe sie für die Welt«

Als die völlig überraschende Nachricht von der Verleihung des Voss-Preises mich erreichte, saß ich nicht

auf die Postille gebückt, zur Seite des wärmenden Ofens,

sondern kehrte gerade von einer meiner zahlreichen Vortragsreisen durch amerikanische Universitäten zurück, in denen ich über die Entwicklung der mystischen Dichtung im Islam zu sprechen hatte. Eine solche Reise war, wie auch mein Lehren in Harvard, ein guter Ausgangspunkt für Meditationen über den besten Weg, einer westlichen Hörerschaft, die nicht fachlich vorgebildet ist, den Zauber östlicher Dichtung nahezubringen.
Denn dies ist mein Anliegen gewesen, seit ich als 18jährige meine ersten deutschen poetischen Übersetzungen der Gedichte von Dschelaluddin Rumi und Halladsch schrieb − Verse, die mir noch heute gelungen erscheinen, weil sie spontan aus der überwältigenden Begegnung mit großen mystischen Dichtern der arabisch-persischen Tradition geboren waren und sich gewissermaßen ohne mein Zutun formten. Diese Erfahrung hat sich dann in den folgenden Jahren und Jahrzehnten fortgesetzt und vertieft; in der Tat erscheint mir je länger je mehr das Übersetzen von Lyrik − und das liegt mir am nächsten − als eine Art Liebesgeschichte (Rückert sagt »Was ich schrieb und übersetzte, hat mir natürlich für den Augenblick selbst gefallen«): Man möchte nämlich, daß die Mitmenschen Anteil haben an dem Glück der Begegnung und versucht daher, das wiederzugeben, was man selbst bei der Lektüre eines Gedichtes, einer Geschichte, eines Märchens empfindet. Dschelaluddin Rumi hat einmal vom Dichten gesagt, daß es den abwesenden Freund beschwöre:

»Ur-ew’ger Mond: Sein Gesicht; Vers und Ghasel sind Sein Duft −
Duft ist der Anteil für den, dem nicht der Anblick vertraut.«

Dieser Vers scheint mir auch für das Übersetzen zuzutreffen, und das mag der Grund dafür sein, daß manche Kritiker gesagt haben, meine Übertragungen seien zu schön. Aber würde man nicht auch die positiven Qualitäten, die Schönheit eines geliebten Wesens hervorheben, wenn man versucht, jemand anders für ihn zu interessieren, ja zu begeistern?
Übersetzen ist für mich lebensnotwendig, und ich habe es in den verschiedensten Richtungen getan − sei es aus der Lyrik europäischer Sprachen und der verschiedenen islamischen Sprachen, vom Arabischen bis zum Sindhi ins Deutsche, aber auch während meiner Jahre in Ankara vom Persischen ins Türkische, und in den letzten Jahren mehr und mehr aus den verschiedensten Sprachen ins Englische. Doch ich erinnere mich an meine ersten Jahre in Harvard, als es mir noch nicht möglich war, persische oder indo-islamische Dichtung in gleicher Weise ins Englische zu übertragen wie ich es mühelos im Deutschen konnte − und je länger je mehr entdeckte ich, daß es im Englischen nicht möglich ist, eine unseren klassischen Idealen entsprechende Nachdichtung orientalischer Poesie zu schaffen − aus dem einfachen Grunde, weil das Englische keinen Dichter-Orientalisten wie Rückert gehabt hat, der die östlichen Formen dem Deutschen anverwandelt hat, und weil kein Goethe eine Antwort auf Hafiz’ Poesie geschrieben hat, durch die etwas vom Geiste persischer Dichtung Allgemeingut zumindest der Gebildeten geworden ist. Ein deutsches Ghasel ist eine legitime Form; im Englischen klingt es meist lächerlich. Wie schon Rückert feststellte, ist das Deutsche in der Tat bestens geeignet für Übertragungen: seine Biegsamkeit, die Möglichkeit zu Umstellungen, zur Bildung neuer Wörter sowie der Reichtum an klingenden Reimen machen es zu einem idealen Vehikel für poetische Übertragungen − wie Silvestre de Sacy über Rückerts unübertreffliche Hariri-Nachbildung urteilte, daß nun jemand, der Deutsch könne, nicht mehr Arabisch zu lernen brauche, um sich den rechten Begriff von allem, was in diesem Stil geschrieben sei, zu machen.
Manches mag uns in Rückerts Übertragungen heute veraltet Vorkommen; aber selten hat ein Dichter so sehr den inneren Rhythmus von Gedichten wahrgenommen wie er. Und hier scheint mir das Geheimnis einer wirklich guten Übersetzung zu liegen: Rhythmus und Tonfall sind wichtiger als der Reim und geben den Eindruck in der Regel korrekter wieder, um so mehr, da die unglaubliche Reimfülle des Arabischen, Türkischen und Persischen (die in der klassischen Lyrik alle den Monoreim verwenden) nur mit großer Mühe im Deutschen nachvollzogen werden kann; und es scheint mir gefährlich, die Knappheit und Dichte klassischer orientalischer Poesie aufzulösen, indem man einen Doppelvers auf vier oder sechs Zeilen ausdehnt und so verwässert.
In meinen ersten Jahren in Harvard, als mir so recht bewußt wurde, welch wunderbares Medium das Deutsche ist, bin ich oft ins Übersetzen geflüchtet: ob es John Donne war oder Halladsch, ob arabische zeitgenössische Dichtung oder immer wieder Rumi: es war ein Mittel, das Heimweh zu überwinden und mich in seltenen ruhigen Abendstunden nach Hause, in die Sprach-Heimat zurückzuversetzen und Worte zu finden, um das in der Muttersprache wiederzugeben, was die großen Dichter des Orients gesagt hatten, die meine eigenen Gefühle so genau auszudrücken schienen: das Gebet der einsamen Schirin aus Nizamis klassischem Persisch oder Abdulwahhab Bayatis moderne arabische Gedichte aus dem Exil formten sich daher unmittelbar in deutsche Verse. Diese Beschwörungskraft des Übersetzens habe ich immer wieder erfahren − zuletzt im Sommer 1979, als ich zum erstenmal seit vielen Jahren nicht nach Pakistan fuhr und mir Pakistan, und besonders die Provinz Sind, nach Hause holte, indem ich Sindhi-Märchen übersetzte − die weiten Stromebenen des Indus, der Rauch der Kuhdungfeuer und die mitreißende Musik der fahrenden Sänger waren wieder um mich. Denn um ein Gedicht oder eine Geschichte recht zu übersetzen, sollte man das Land und seine Menschen sehr genau kennen –

»Wer den Dichter will verstehen
muß in Dichters Lande gehn«;

man sollte den Tonfall der Sprache hören und wiedergeben, aber auch die Gerüche und Gesten, die verdorrten Bäume in der Steppe oder die »wie in Glas eingegossenen Gärten von Isfahan oder Schiras« vor Augen haben. Ich hätte wohl niemals Rumis triumphierende Frühlingsgedichte richtig verstanden, hätte ich nicht bei meinem ersten Besuch in Konya, wo er den größten Teil seines Lebens verbracht hat und wo sein Grab noch immer das Zentrum frommer Wallfahrt ist, ein Frühlingsgewitter erlebt, nach dem die Gärten wirklich in dem von ihm so oft beschriebenen Reigen der Auferstehung in paradiesischen grünen Gewändern zu tanzen schienen. Übersetzen ist daher für mich nicht eine rein akademische Angelegenheit. Es besteht kein Zweifel, daß man sein philologisches Handwerkszeug bestens handhaben muß, vor allem aber, daß man mit dem gesamten Reichtum rhetorischer Formen vertraut ist. Die seit Jahrhunderten festgelegten poetischen Konventionen persischer und persisch-beeinflußter Poesie mit ihren Wortspielen und ihren Geweben beziehungsreicher Bildwahl müssen beherrscht sein, und die verschiedenen wohlgemeinten aber mißlungenen Übertragungen der Poesie des Hafiz, in dem die persische Lyrik zweifellos ihren Höhepunkt erreicht hat, sind ein gutes Beispiel für die Gefahr, in die sich der unerfahrene Übersetzer begibt. Wenn, wie Rückert richtig sagt, Übersetzen bedeutet

»die Geister zu belauschen
wie, wandelnd unsichtbar, sie Wortgewande tauschen«,

dann ist es leicht zu sehen, wie die europäischen Übersetzer das reiche und feine Seidengewand der Hafizschen Verse, das in seinem Doppelsinn einem doppelseitigen schimmernden Brokat gleicht, in grelle Flitterkleidchen (wie Daumer), in germanische Nornengewänder (wie Ernst Bertram) oder einfach in handgestrickte brave Hausröcke verwandelt haben.
Aber zu dem unumgänglichen philologischen Rüstzeug und der Vertrautheit mit der Geisteswelt des Orients wie mit seiner materiellen Kultur (dies besonders wichtig bei Rumi!) muß die persönliche Beziehung zwischen dem Dichter und dem Übersetzer kommen, denn noch immer ist St. Augustins Bemerkung wahr: res tantum cognoscitur quantum diligitur. Nur aus einem liebenden Zwiegespräch über Zeiten und Räume kann sich die echte poetische Übersetzung entwickeln, und es mag sein, daß es dann in einer glücklichen Minute gelingt, allen Zauber eines Gedichtes einzufangen und für die Bewohner der eigenen Sprachheimat widerzuspiegeln, wie der libanesische Dichter Adonis in seinen melancholisch und doch trostvollen Versen sagt:

»Nimm eine Rose, breite sie aus als Kissen
über ein Kleines
wird dich die Schwäche verzehren
in düsterem Schmerz
nehmen die Bomben, die schweren
dich in Besitz

über ein Kleines

Nimm eine Rose und nenne sie
Lieder
Und singe sie für die Welt.«