The »Johann-Heinrich-Voß-Preis für Übersetzung« (Prize for Translation) has been awarded by the German Academy for Language and Literature since 1958 for the »outstanding achievements in translation,« with a particular emphasis on the translation of literature into German.
The prize is awarded annually at the spring conference of the German Academy.
The Johann Heinrich Voß Prize has been endowed with €20,000 since 2002.
Translator
... für ihre kenntnisreichen und kunstvollen Übertragungen aus dem Hebräischen.
Jury members
Kommission: Iso Camartin, Elisabeth Edl, Aris Fioretos, Zsuzsanna Gahse, Per Øhrgaard, Ilma Rakusa und Michael Walter
Mitglieder des Erweiterten Präsidiums
Sehr geehrter Herr Botschafter, sehr geehrter Herr Präsident, verehrte Mitglieder der Akademie, liebe Gäste, meine Damen und Herren, Ladies and Gentlemen,
wenn ich mich heute Abend, aus Jerusalem kommend, mit dieser kleinen Rede für die Anerkennung meiner Arbeit bei Ihnen bedanke, könnte ich Ihnen eine Menge über die hebräische Sprache erzählen: über ihre besondere Poetizität, die sie für Lyrik geradezu prädestiniert, über ihre Kürze und Dichte, ihre Vieldeutigkeit, ihren Klangreichtum oder ihre historische Tiefe, die es einem heutigen Autor ermöglicht, mit Hilfe einer einzigen Wortform ganz spezifische Stellen aus den alten hebräischen Schriften zu evozieren. Über all das, was mich seit meiner ersten Begegnung mit dieser Sprache vor fünfunddreißig Jahren bis heute begeistert.
Doch ich möchte zu Ihnen, den Mitgliedern der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, aus Übersetzerperspektive über jenen kritischen Moment sprechen, in dem der Reichtum des Hebräischen dem Reichtum der deutschen Sprache begegnen muss.
Ohne deren Reichtum nämlich hätten die von mir übersetzten Gedichte Sie nicht erreicht. Literarisches Übersetzen funktioniert nur, wenn ich zumindest ab der Hälfte des Weges nur noch meine Leser vor Augen habe und beiden Sprachen ihr Gewicht gebe.
Das klingt vielleicht banal, doch Übersetzer sind in ihren Anfangsjahren erst einmal vollkommen auf die Sprache des Originals konzentriert und damit beschäftigt, das ganze Spektrum seiner Bedeutungen zu erfassen. Wir sind so fasziniert davon, was für andersartige Möglichkeiten die neu erworbene Sprache besitzt. Diesen Reichtum wollen wir in unsere Muttersprache übertragen. Dazu gehört es bei fernen Sprachkulturen wie dem Hebräischen auch oft, fehlendes kulturelles Wissen zu unterfüttern. In dieser Phase sind wir noch ganz im Original mit all seinen Details verhaftet und versuchen mit allen Mitteln, die Liste der Desiderata, die wir nicht hinüberbringen können, möglichst kurz zu halten.
Doch dann gibt es einen weiteren, entscheidenden Schritt, zu dem man Mut und Muße braucht, nämlich: all das aufzugeben. Aufzugeben, was genau wir sagen wollen, und zu horchen, wie unsere Muttersprache in dieser Situation sprechen würde, welche anderen Ausdrucksmöglichkeiten sie in sich birgt, die die Sprache des Originals oft gar nicht kennt, die wir aber für unsere Zwecke einsetzen können.
Es kostet eine Menge Überwindung, die Innenperspektive des Originals, alles, was ich an Anklängen und Zwischentönen erkannt habe, zu vergessen und mich in meine eigene Sprache zu begeben, die zu diesem Zeitpunkt noch keinerlei Form angenommen hat. Ich muss das leere Blatt aushalten und hoffen, dass sich im noch Ungeformten eine Gestalt zeigen wird. Ich darf noch nicht anfangen zu suchen, was ich aus meiner Sprache machen kann, sondern muss abwarten, was sie mir von sich aus anbietet.
Zwei unterschiedliche Aspekte dieses Perspektivwechsels möchte ich anhand dreier Gedichte beschreiben.
Das erste Gedicht stammt von Uri Zwi Grinberg, dem größten expressionistischen Lyriker in hebräischer Sprache. 1896 in Galizien geboren, wuchs er in einer chassidischen Familie auf und kam mit achtundzwanzig Jahren nach Palästina. Dort entstand das folgende Gedicht. Ich lese zunächst nur die erste Strophe:
Wie eine Frau, die weiß, wie mächtig ihr Zauber auf mich wirkt, spottet mein Gott: So flieh doch, wenn du kannst!
Und ich kann nicht fliehn.
1924 las sich das ziemlich provokant. In der hebräischen Sprache, die noch eine Generation zuvor fast ausschließlich als heilige Sprache, als Sprache des religiösen Studiums und des Gebetes verwendet worden war, Gott ausgerechnet mit einer Frau zu vergleichen, und dazu noch mit einer, die mit den Gefühlen eines ihr verfallenen Mannes spielt — das ging für damalige Verhältnisse schon ziemlich weit.
Das ganze Gedicht lautete in einer recht fortgeschrittenen Fassung meiner Übersetzung so:
Wie eine Frau, die weiß, wie mächtig ihr Zauber auf mich wirkt, spottet mein Gott: So flieh doch, wenn du kannst!
Und ich kann nicht fliehn.
Auch wenn ich in verzweifelter Wut vor ihm flieh
und zischle wie im Feuer den Schwur
»Ich will ihn nie mehr sehn!« –
kehr ich zu ihm zurück
und klopf an seine Tür,
wie ein Liebender, leidend.
Als habe er mir eine Botschaft der Liebe geschickt.
Anhand dieser Übersetzung können Sie nicht ahnen, dass dieses Gedicht einen doppelten Boden hat. Ein hebräischer Leser erkennt im Original jedoch die Anspielung auf eine Formulierung aus einem Gebet des mittelalterlichen Philosophen Salomo Ibn Gabirol, der schrieb:
Fragst du nach meiner Schuld — flieh ich vor dir zu dir,
und berge mich vor deinem Zorn — in deinem Schatten.
Der zunächst anstoßerregende Ton in der ersten Strophe von Grinberg wird also kontrapunktiert durch die Anspielung auf eine überhaupt nicht provokante, sondern sehr innige Erfahrung mit diesem Gott, den er mit einer Frau vergleicht. Dank der Anspielung auf Ibn Gabirols Motiv »Ich fliehe vor dir zu dir« spürt der hebräische Leser, dass hier zwei Stimmen miteinander streiten. Erst dadurch eröffnet sich die existentielle Dimension des Gedichts.
Ich hatte mich schon damit abgefunden, dass diese Polyphonie meinen Lesern verborgen bleiben würde, und versuchte zumindest für das, was explizit dasteht, klanglich und rhythmisch eine passende Form zu finden. Das bedeutet zunächst grammatischen Ballast rauswerfen, Zeilen kürzen, Silben kürzen, die Bilder straffen. So taste ich mich nach und nach an die Form in der Zielsprache heran, arbeite mich in sie hinein.
Dabei wurde aus der noch ungeformten Zeile »Auch wenn ich in verzweifelter Wut vor ihm flieh« in einem ersten Schritt die ebenso lange, aber schon dichtere Zeile: »Denn flüchtete ich vor ihm in verzweifelter Wut«.
Und da stand sie plötzlich, diese Möglichkeitsform »Denn flüchtete ich«, die das Hebräische gar nicht kennt und die auf Deutsch über den Konjunktiv II ausgedrückt wird. Da klang etwas an. Ich wusste noch nicht genau, was, und tastete mich weiter, bis sich die gesamte rhythmische Struktur, der ich auf der Spur war, entfaltet hatte.
Und ob ich schon flüchtete in verzweifelter Wut
und zischelte im Feuer den Schwur:
»Ich will ihn nie mehr sehn!« –
kehre ich doch zu ihm zurück,
klopfe an seine Tür
leidend, wie ein Liebender.
Als habe er mir eine Botschaft der Liebe geschickt.
Es war, Sie haben es erkannt, der Rhythmus des 23. Psalms in Luthers Übersetzung, der sich da durchgesetzt hatte: »Und ob ich schon wanderte im finstern Tal, fürchte ich kein Unglück; denn du bist bei mir, dein Stecken und dein Stab trösten mich.«
In der endgültigen Übersetzung habe ich die Textquelle, auf die das Original anspielt, tatsächlich ausgetauscht.
Zugegeben, der 23. Psalm hat mit dem Original zunächst einmal nichts zu tun, doch hat er den großen Vorteil, dass er in beiden Kulturen, der deutschen wie der hebräischen, ziemlich bekannt ist. Man assoziiert mit ihm ein ähnlich unbeschattetes Verhältnis zu Gott, und deshalb konnte er auf Deutsch als Gegenstimme dienen und eine ähnliche Spannung hervorrufen wie das Zitat von Ibn Gabirol.
Es ist natürlich ein absoluter Glücksfall, wenn man die für das Hebräische so charakteristische Intertextualität mit den alten Quellen durch ganz ähnliche Mittel auf Deutsch nachschaffen kann.
Und bei Lyriklesern, die auch auf den Klang, den Rhythmus und auf unterschwellig Mitschwingendes hören, kann ich noch am ehesten darauf vertrauen, dass sie bei diesem ungewöhnlichen Rhythmus einen Moment innehalten, ihm nachhorchen und dann vielleicht erkennen oder zumindest unbewusst wahrnehmen, dass hier noch ein ganz anderer Ton anklingt: Der beruht, um mit Roman Jakobson zu sprechen, auf der »Poesie der Grammatik«, denn diese Assoziation beruht allein auf der grammatischen Form des Verses, nicht auf seinem Inhalt und nicht auf seinem Klang.
Bei Dan Pagis, von dem die beiden folgenden Beispiele stammen, war dieser Perspektivwechsel vom Hebräischen ins Deutsche aus ganz anderem Grund bewegend.
Doch zunächst einige Worte zu Pagis selbst: Dan Pagis wurde 1930 in Radautz, im damals rumänischen Teil der Bukowina geboren und wuchs deutschsprachig auf. Als er vier Jahre alt war, zog sein Vater voraus nach Palästina, doch im selben
Jahr starb seine Mutter, So blieb er bei den Großeltern zurück und geriet 1941 in die Shoah. 1946 konnte er nach Palästina einwandern, stürzte sich dort sofort ins Studium der Sprache und wurde Professor für mittelalterliche hebräische Poesie und einer der bedeutendsten modernen hebräischen Dichter. Dan Pagis ist 1986 gestorben, in dem Sommer, in dem ich nach Israel zog. Ich habe mit ihm nicht mehr über seine Gedichte reden können.
Die Muttersprache von Pagis war Deutsch, doch versteckte er sie und seine eigene Lebensgeschichte so eifrig und beherrschte das Hebräische so perfekt, dass kein hebräischer Leser hinter seinen Versen auch nur ein deutsches Wort hätte vermuten können.
Beim Übersetzen habe ich jedoch hinter dem Original manchmal einen klanglichen oder semantischen deutschen Kern entdeckt, der einem Grundvers gleichkommt. Den erkannte ich jedoch immer erst, nachdem ich das Hebräische längst weg- gelegt hatte und meine Übersetzung mit deutschen Augen las.
Etwa im folgenden Gedicht, einem der wenigen, in denen sich Pagis mit dem Thema der Shoah beschäftigt (ich lese nur den ersten Teil):
Entwurf für ein Wiedergutmachungsabkommen
Schon gut, meine Herren, die immer Zeter und Mordio schreien,
ihr lästigen Wundertäter,
Ruhe!
Alles kommt wieder an seinen Platz.
Ein Paragraph nach dem anderen.
Der Schrei wieder in die Kehle,
Die Goldzähne in den Kiefer.
Die Angst.
Der Rauch in den blechernen Schornstein und tiefer, tiefer hinein
in die Hohlräume der Knochen,
Schon werden sich Haut und Sehnen über euch bilden und ihr
werdet leben, [...]
Diese Zeilen sind schwer auszuhalten, besonders, wenn man sie auf Deutsch liest oder hört. Denn der Wechsel vom Hebräischen ins Deutsche führt bei Texten über die Shoah unvermeidlich erst mal zu einem Wechsel der Perspektive: Der Gebrauch des Hebräischen impliziert eine jüdische Stimme, die sich an jüdische Leser wendet. Beim Lesen des Originals käme niemand auf die Idee, im Sprecher einen unbelehrbaren Deutschen zu vermuten, dank der schmerzhaften, aber auch schützenden Ironie, die aus der Spannung zwischen dem hebräischen Sprecher und der Aussage entsteht.
Anders im Deutschen. Der deutsche Leser ist für einen Moment verunsichert und empfindet ein anderes Entsetzen.
Beim Übersetzen damals zögerte ich jedoch aus einem ganz anderen Grund, dieses Gedicht zu veröffentlichen, denn das Substantiv in der Überschrift, schilumim, bedeutet für sich genommen einfach nur »Zahlungen«, wobei jedoch heskem schilumim (Zahlungsabkommen) der historische Begriff für die 1952 mit Israel vereinbarten Reparationszahlungen ist.
Die zugrundeliegende Wurzel, Sie können es hören, ist dieselbe wie in schalom, und das Verb, von dem diese schilumim, diese »Zahlungen«, abgeleitet sind, bedeutet
1) etwas vollenden
2) ein Versprechen erfüllen
3) eine Schuld begleichen; den Preis für etwas bezahlen.
Völlig auf das Hebräische fixiert, dachte ich: Das alles kann ich niemals in einem Gedicht transportieren. Der deutsche Terminus »Wiedergutmachungsabkommen« ist doch völlig anders belegt.
Erst als ich mir später meine Übersetzung noch einmal vornahm, auch diesmal ohne das Hebräische, begriff ich, dass ausgerechnet in dem historischen deutschen Terminus »Wieder-gut-machung« der poetische Kern für die gesamte Form des Gedichts liegt. Das in aller Perversion vorexerzierte Rückführen in den vorherigen, »heilen« Zustand legt den Zynismus des deutschen Begriffes bloß. Auf Hebräisch blieb dieser innere Zusammenhang zwischen Überschrift und Gedicht verborgen, und ich habe ihn erst durch die Rückübersetzung in die Muttersprache des Autors aufgedeckt.
Eine ähnliche, ganz und gar poetische Entdeckung machte ich bei seinem Gedicht Fossilien.
Fossilien
Die Fossilien, ewig lebende Geschöpfe,
sind allesamt außerordentliche Verweigerer.
Die königliche Urfliege, im Bernstein versteinert,
spottet der Zeit und schlummert mit tausend Augen
ihren Mittagsschlaf in der Sonne.
Die Urmuschel ist ein Ohr, das sich weigert zu hören.
Der Urfisch hat sogar auf sich selbst verzichtet
und im Fels nur den Abdruck seiner Knochen hinterlassen.
Aber die Krone der Schöpfung bei den Fossilien
ist die Venus von Milo,
ewig entsagend, ihre
Arme sind Luft.
Auch hier offenbarte sich die innere Logik des gesamten Gedichts erst in der Übersetzung, und zwar in der Zeile, »Die Urmuschel ist ein Ohr, das sich weigert zu hören«. Sie dürfte der Ursprung des Bildes gewesen sein, zu dem sich dann weitere Verweigerer hinzugesellten. Im Hebräischen ist ausgerechnet diese wichtige Zeile, die Mittelachse des Gedichts, eher schwach und wirkt ein bisschen beliebig, da man dort keinen klanglichen Zusammenhang zwischen den Wörtern für »Ur«, »Ohr« und »Muschel« erkennt.
Unter den Autoren, die ihre erste Sprache ins Exil mitnahmen, ist Pagis gewiss nicht der einzige, bei dessen Lektüre es sich lohnt, nach verborgenen muttersprachlichen Wurzeln zu suchen.
Für Pagis selbst blieb Deutsch zeitlebens die »nicht-gesprochene Sprache«, in der er jedoch seine eigenen hebräischen Manuskripte kommentierte. Man findet dort mit Bleistift Bemerkungen wie »Noch immer zu süß« oder unten auf der Seite »Ende«. Das Deutsche blieb für ihn gleichsam die letzte Instanz in der Zwiesprache mit sich selbst.
Lassen Sie mich mit einem Gedicht von T. Carmi schließen, einem engen Freund von Dan Pagis, einem Lyriker und Lyrikübersetzer. Beim Schreiben dieser Rede schien es mir plötzlich, als sei dies auch ein Gedicht über die Kunst des Ubersetzens.
Pfeil
Wider Willen nach hinten gespannt und ab.
Die Luft zerteilend
spricht er die Sprache der Falken und Schwalben.
Bis zur Fdälfte des Weges
denkt er an den Bogen,
an die Hand, die ihn spannte.
Von da an
gehört er ganz dem Ende des Wegs:
Dem runden Herzen, in das er stoßen wird
und beben.
Ich danke meinen Autoren, denen ich bis zur Hälfte des Weges gehöre, und Ihnen, am Ende des Weges, für diesen ehrenvollen Preis.
Die Gedichte von Uri Zwi Grinberg und T. Carmi finden sich in: Akzente 2, 2011 (Moderne hebräische Lyrik, zusammengestellt von Ariel Hirschfeld, aus dem Hebräischen von Anne Birkenhauer), S. 111 und S. 139; Dan Pagis, Entwurf für ein Wiedergutmachungsabkommen, ebd., S, 147f.; Dan Pagis, Fossilien, in: Dan Pagis: An beiden Ufern der Zeit. Ausgewählte Gedichte und Prosa. Straelen: Straelener Manuskripte 2003, S. 72f.