Johann-Heinrich-Merck-Preis

The »Johann-Heinrich-Merck-Preis für literarische Kritik und Essay« (Prize for Literary Criticism and Essay Writing) has been awarded by the German Academy for Language and Literature since 1964, financed by the Darmstadt-based Merck pharmaceutical company.
It is awarded annually at the autumn conference of the German Academy in Darmstadt. The Johann Heinrich Merck Prize has been endowed with €20,000 since 2013.

Peter von Matt

Literary scholar
Born 20/5/1937
Member since 1992

Der Kritik wird so die Würde der Philologie und dieser die Eleganz der geschliffenen Rede zurückgegeben.

Jury members
Juryvorsitz: Präsident Herbert Heckmann
Vizepräsidenten Günter de Bruyn, Hartmut von Hentig, Ivan Nagel, Beisitzer Walter Helmut Fritz, Oskar Pastior, Lea Ritter-Santini, Peter Wapnewski, Hans Wollschläger

Laudatory Address by Iso Camartin
Publicist, born 1944

Vom Putschen, vom Wünschen und vom schonenden Sehen‘

Herr Präsident, lieber Peter von Matt, meine Damen und Herren.
Mein Zürcher Kollege Peter von Matt hat keinen Einspruch dagegen erhoben, daß ein Romanist, ja sogar ein Rätoromanist - und das heißt: eine Art Alpenwinkel-Romanist – ihn heute lobe. Ein Risiko ist es schon, wenn ein in Randkulturen Verfangener hier ans Rednerpult tritt, um einen der bekanntesten Germanisten unserer Zeit zu charakterisieren. Ich sage dies, um mich zu salvieren vor jenen Fachleuten der Akademie und des hier anwesenden Publikums, die genau darüber im Bild sind, wo Peter von Matt das Geschäft der Germanisten vorangetrieben, beschleunigt, verfeinert, umgedreht, in neue Bahnen geleitet hat. Doch einer, der Bücher schreibt mit Titeln wie: »... fertig ist das Angesicht – Zur Literaturgeschichte des menschlichen Gesichts«, oder: »Liebesverrat – Die Treulosen in der Literatur«, ein solcher großräumiger Leserverführer nimmt es in Kauf, daß allerlei Neugierige sich um ihn sammeln und ihr Wörtchen mitreden. So ist auch meines hier zu gewichten.
Es sind drei Eigenschaften des Peter von Matt, über die ich hier sprechen möchte. Sie vermögen meine Bewunderung und meine Zuneigung, die ich für ihn empfinde, am direktesten zu klären. Ich lasse die Frage offen, ob es sich zugleich auch um jene Eigenschaften handelt, die ihn zu jenem herausragenden Literaturkritiker machen, den diese Akademie heute ehren möchte.
Die erste Eigenschaft: Peter von Matt hat – trotz seiner Umgänglichkeit, seiner Konzilianz und seiner Menschenfreundlichkeit – ein wildes Herz und ist von rebellischer Natur. Ich glaube, er gehört zum Menschenschlag der Putschisten, derjenigen, die zwar zuwarten können, aber auf Umsturz aus sind. Er hat die besondere Witterung für den Augenblick der Insurgenz.
Vielleicht hat dies etwas mit seiner Herkunft zu tun. Es gab eine Schrift, die im ausgehenden Ancien Régime in der Schweiz eine große Rolle spielte: Man nannte sie »das Ochsenbüchlein«. Der franzosenfreundliche Basler Peter Ochs hatte unter dem Druck von Paris eine zentralistische helvetische Verfassung entworfen, und die alten Stände in der Schweiz verspürten gleich das Ochsenjoch, unter das sie hier gespannt werden sollten. Auch wegen der Forderung nach unbesehener Annahme dieses Ochsenbüchleins kam es im Stand Nidwalden im September 1798 zu jenem verzweifelten Aufstand gegen die Franzosen, zum Stanser Blutbad, bei dem ein großer Teil der einheimischen Bevölkerung hingemordet wurde. Peter von Matt, der ein Stanser und Nidwaldner aus alter Familie ist, scheint mir der sensibelste Leser aller Ochsenbüchlein der deutschsprachigen Welt geworden zu sein: jener Schriften also, wo Druck auf den Willen des Lesers ausgeübt wird, so daß dieser den Augenblick der Rebellion abzupassen beginnt. Es braucht gottlob kein Blut mehr dabei zu fließen. Im Arsenal der Aufrührer gibt es ganz feine Waffen. Etwa das Gelächter. Peter von Matt setzt heute mit den Mitteln des Kritikers »die Zeit der Putsche« fort, von der Gottfried Keller sprach. So erkläre ich es mir, daß er zum besten Analytiker jener Spannungen geworden ist, die heute bestehen zwischen dem politisch-ökonomischen Establishment der Schweiz und den Schriftstellern, die sich diesem entgegensetzen und verweigern. Man kann es an seiner neuesten Essaysammlung nachprüfen, die vor kurzem unter dem Titel »Der Zwiespalt der Wortmächtigen!« erschienen ist. Hier sinnt einer listig auf Umsturz des Meinungsdrucks. Er will geltende Normen – ästhetische wie moralische Normen – durch Konfrontation mit dem scheinbar Skandalösen auf den Prüfstand bringen. Und Peter von Matt hat heute viele Leser, Radiohörer und Fernsehzuschauer, die ihm für seine listigen Gedanken, wie man Druck und Gewalt unterwandert, dankbar sind.
Er ist damit gewiß nicht der typische Schweizer Professor, schon gar nicht entspricht er dem klassischen Bild eines Zürcher Germanisten. Diese zeichnen sich zwar ohne Zweifel durch hohe Fachkompetenz aus, aber man hat doch oft den Eindruck, daß sie immer auch mehr wissen, als sie sich zu sagen trauen. Als ob sie ihre schärfsten Pfeile für den Kampf mit der Nachwelt auf die Seite legen wollten. Kaum denkbar, daß einer in distinguiert-puritanischer Zurückhaltung die »empfindlichste Stelle der Männlichkeit« argumentativ so offen wie Peter von Matt auffährt, um das zu sagen, was wirklich zu sagen ist. Vermutlich hat auch dies etwas mit von Matts Herkunft zu tun: Er kommt aus einer sinnlich unverarmten katholisch-barokken Welt. In der Pfarrkirche St. Peter zu Stans gibt es einen prächtigen Hängeleuchter, an dem allerlei Engel, Löwen, Fabeltiere, Narrenfiguren und dergleichen baumeln, es gibt eine Kapelle, die »Maria unterm Herd« heißt, und ein Beinhaus, an dem schon ein Kind Anschauungsunterricht in letzten Dingen erhält. Und was ein Hochamt und was eine stille Seelenmesse ist, wo Pluviale, Weihrauch und Ysopsprengel am Platz sind und wo in stiller Verrichtung nur die violette Stola sich ziemt, das weiß Peter von Matt sehr genau. Darum ist er für mich auch so etwas wie ein Liturgiker der Literaturkritik, ein alle Regeln beherrschender Zeremonienmeister literarischer Pontifikalämter, und er braucht nicht zu überlegen, welcher Aufwand für Schulmessen am Platz ist. So orgelt es oft herrlich in seinen Texten, mit Grundstimmen, Zungen- und Lippenpfeifen, mit Tremulant und Zimbelstern, vox coelestis und unda maris, im Oberwerk, im Rückpositiv und tief grundiert im Pedal. Er spielt mit der Sprache lustvoll und frei wie der Pater Organist, der sich die Freiheit nimmt, beim Requiem schon mal ein Auferstehungsregister zu ziehen. Dann wieder geht es bei ihm so nüchtern und so fastenzeitlich trocken zu, als sei jeder Farbklecks und jeder Wohllaut, jeder Hauch von Sinnlichkeit schon Verrat am Text.
Dies hängt mit der zweiten Eigenschaft von Peter von Matt zusammen, auf die ich hinweisen will. »Der Mensch ist ein wünschendes Wesen.« So lautet die anthropologische Grundformel von Peter von Matt. Sicherlich, wer in Fragen der Psychoanalyse so kundig ist wie er, wird diesen Drehpunkt der Freudschen Theorie, das Phänomen der Wunscherfüllung, nicht aus seinem Weltbild verbannen wollen. Aber nicht dies ist das Besondere an Peter von Matts zentraler Kategorie des Wunsches. Er beobachtet vielmehr so genau, wie es nur geht, daß der Leser, der Deuter, der Interpret eines Textes ein ziemlich kompliziertes Gepäck von bewußten und unbewußten Wünschen als eigenes Problem in den Text einschleppt und daß erst aufgrund der Berührung der eigenen und der fremden, vom Text uns zugemuteten Wünsche ein – wie immer gerade dadurch wieder beschränkter und eingeengter – Dialog beginnt. Es müssen die lebendigsten Teile beider Seiten einander berühren, damit Dichten und Erzählen zu jener weltverändernden Kraft finden, die in ihnen angelegt ist.
Ich möchte über diese wiederum umstürzlerische Einschätzung von Literatur wenigstens einige Andeutungen machen. Man braucht nur Peter von Matts großartiges Buch über den »Liebesverrat« in die Hand zu nehmen, um sofort in die Erfahrung verwickelt zu werden, daß Literatur ans Lebendige geht. Das Lesen wichtiger Bücher – hier können wir es wieder einmal überprüfen – ist kein harmloses, sondern ein höchst gefährliches Unternehmen. Liebe, Treulosigkeit, Verrat, Rache und Mord: Das ist offenes und verdecktes, eingestandenes und verdrängtes Glück und Leid, und in jedem wunschgepeitschten Wesen liegen sie im Streit. Man muß schon aus totem Holz sein, wenn der Blick in den Abgrund hier einen nicht anficht.
Doch sprechen wir jetzt nicht vom Leser, sondern vom Autor von Matt. Ich habe in den vergangenen Jahren keinen Text von ihm gelesen, in welchem nicht – so authentisch wie diskret – die Lebendigkeit seiner eigenen Wünsche spürbar geworden wäre. Wie macht er das nur? Er ist doch auch nicht einfach mutiger, zorniger und offener als alle anderen? Ist er vielleicht nur lebendiger und lebensgieriger als sie? Peter von Matt hat viele Kritikerkollegen und noch zahlreichere akademische Kollegen, die beflissen Erkenntnisse sammeln und Einsichten rubrizieren und einer gelangweilten Leserschaft davon Mitteilung machen. Und alles, was diese Literaturbeamten zustande bringen, ist lebloses papierenes Zeug, das keinen berührt und keinen bewegt. Und da kommt einer, den der Hafer noch sticht, und läßt sich ins Spiel der Texte hineinlocken, einer, der lesend schweben, gleiten, entgleiten will, der sich die Freiheit nimmt, auf dem Seil seiner Wünsche Volten zu schlagen und Saltos zu vollführen – und der mit einem glücklichen Einfall querfeldein durch den Text rennt, um ihn am Ende für den heimlichen Wunsch einer seiner Leser zu retten. Man braucht nur einmal seine Gedichtinterpretationen in der ›Frankfurter Anthologie‹ aufzuschlagen, die Sache mit dem einzigen Reim in Celans Todesfuge etwa, jenem Reim, der »im Gedicht wie die Kugel im Erschossenen steckt«, oder die Art und Weise, wie er Lenzens Gedicht ›Willkommen‹ mitten ins hochgemute und chancenlose Leben plaziert: Das sind Glücksmomente der Interpretation, Erfahrungen, die den Tag eines Lesers retten, so daß er dem lebendigen Deuter zurufen möchte: »You made my day!«
Schließlich eine dritte Bemerkung. Peter von Matt liest nicht nur Bücher und schreibt nicht nur Bücher. Er sieht die ihn umgebende Welt so scharf und so schonend an, wie man dies nicht gleichzeitig schärfer und schonender tun kann. Er liebt nämlich nicht nur die Literatur. Er hängt auch mit einer geradezu süchtigen Anhänglichkeit an der nicht schon zu Büchern verarbeiteten Welt. Er liebt – trotz all seiner Passion für die Wortwelten – mit großer Heftigkeit die erste, die primordiale Welt, nicht erst die mit Fiktion und Gegenentwürfen ausgebesserte und vollendete. Ein schwarzer Milan, den er auf einmal über der Stadt Zürich kreisen sieht, als gestatte sich der Vogel eine abendliche Extravaganz, setzt Peter von Matt ebenso in Bewegung wie ein in sich kreisender Satz von Kleist. Nach Semesterschluß pflegt er jeweils abzuhauen, ab nach Spitzbergen, ab in die Wüste, fort zu einer einsamen Küstenlandschaft, fort ins schützende Inkognito einer Großstadt. Er, der behauptet, Literatur sei ein Grundnahrungsmittel des Menschen, er weiß, was es als Gegennahrung braucht. »J’ai vu l’horreur de mon taudis« – Baudelaires Grauen vor der eigenen Kammer, das kennt der einsame Leser und Schreiber von Matt gut genug, und da gibt es nur eines: sich hinausretten.
Über diese Außenweltanhänglichkeit des Peter von Matt will ich abschließend eine Anekdote erzählen. Es mag vor vier Jahren gewesen sein, wir saßen im Zug, auf dem Rückweg von einer Tagung auf dem Monte Verità, jenem bis auf den heutigen Tag seltsam anziehenden Hügel bei Ascona, wo seit letztem Jahrhundert Anarchisten und Nudisten, Hedonisten und Vegetarier, Sonnenangeber und Weltverbesserer unterschiedlichster Couleur getagt und genächtigt, gewirkt und konspiriert haben. Auch wir hatten da oben mit Kollegen geredet und gestritten, über Darstellungen der Armut in den Literaturen der Schweiz; auch wir hatten die Erfahrung gemacht wie so viele vor uns, daß der Monte Verità mit seinem Namen immer mehr verspricht, als er dann hält. Jetzt plauderten wir – von Biasca aufwärts die Leventina durchfahrend – etwas müde und melancholisch über dieses Tessiner Tal, das sich in den letzten Jahren zur entsetzlichsten europäischen Durchgangsschleuse von Blechlawinen aus dem Norden nach dem Süden entwickelte. Auf einmal bemerkte ich, wie Peter von Matt, die Augen nach oben gerichtet, durch das Fenster die nahgelegene Felswand anstarrte, unentwegt, wie ein für mich Abwesender, als könne er den Blick von der Wand nicht wieder lösen. Ein Kurzsichtiger wird hellhörig, wenn sein Gegenüber in der Ferne etwas Ungewöhnliches entdeckt zu haben scheint. »Was gibt es da oben?« wollte ich wissen. »Ich schaue den Wasserfall an, wie er über den Felsen schäumt«, antwortete Peter, ohne mich anzublicken. Erst nach einer Weile fragte ich weiter: »Ist an diesem Wasserfall etwas ungewöhnlich?« Peter ließ sich so lange Zeit, bis der Zug um die Kurve fuhr, so daß der Wasserfall nicht mehr zu sehen war. Dann schaute er mich an und sagte, meine Frage aufgreifend: »Das Ungewöhnliche ist, daß man beim Hinschauen vom Gesehenen nicht gleich Abschied nehmen muß. Diesen Felsen werden sie nicht verbauen und verwüsten!«
Etwas anblicken in der Zuversicht, ja Gewißheit, nicht gleichzeitig davon Abschied nehmen zu müssen: Dieser über unvermeidlichen Verlust so wundersam hinwegrettenden Hoffnung bin ich an jenem Tag im Zug bei Biasca zum ersten Mal begegnet. Ich bewundere meinen von der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung heute geehrten Kollegen für viele seiner hellen Sätze über Autoren, über Leser, über Bücher und über die Wünsche, von denen wir alle – lesend, schreibend und sinnierend – heimgesucht werden. Ich bewundere ihn für seine ansteckende Lebendigkeit des Lesens und des Schreibens, und ich bin sicher, viele von Ihnen, meine Damen und Herren, tun es auch.
Doch was den Satz über den weiß schäumenden Wasserfall im Fels der Leventina betrifft, den Satz vom Hinsehen, ohne bereits zu verlieren: Für diesen Satz liebe ich Peter von Matt.
Ich danke Ihnen.