Johann-Heinrich-Merck-Preis

The »Johann-Heinrich-Merck-Preis für literarische Kritik und Essay« (Prize for Literary Criticism and Essay Writing) has been awarded by the German Academy for Language and Literature since 1964, financed by the Darmstadt-based Merck pharmaceutical company.
It is awarded annually at the autumn conference of the German Academy in Darmstadt. The Johann Heinrich Merck Prize has been endowed with €20,000 since 2013.

Peter von Matt

Literary scholar
Born 20/5/1937
Member since 1992

Der Kritik wird so die Würde der Philologie und dieser die Eleganz der geschliffenen Rede zurückgegeben.

Jury members
Juryvorsitz: Präsident Herbert Heckmann
Vizepräsidenten Günter de Bruyn, Hartmut von Hentig, Ivan Nagel, Beisitzer Walter Helmut Fritz, Oskar Pastior, Lea Ritter-Santini, Peter Wapnewski, Hans Wollschläger

Der Geist in der Tinte

Ich rede vom Geist in der Tinte.
Seit dem 18. Jahrhundert, dem Johann Heinrich Merck entstammte und zugehörte, ist in Deutschland Feindschaft gesetzt zwischen dem Geist und der Tinte.
Jeder der jungen Köpfe, die in dem unerhörten achten Jahrzehnt des deutschen 18. Jahrhunderts zu schreiben begannen, hat zur Entwicklung und Befestigung dieser Feindschaft beigetragen. Die neue Dichtung entsprang dem Ekel vor der eigenen Zivilisation. Ein schubhaft gesteigertes Unbehagen in der Kultur wurde schöpferisch, und wo immer es sich formulierte, erklärte es die Unvereinbarkeit von Geist und Tinte.
Das Jahrzehnt begann mit Herders ›Reisejournal‹, von Arno Schmidt die »Magna Charta« der Epoche genannt, und es ging zu Ende mit Schillers ›Räubern‹. In der Mitte ertönte die große Ekel-Arie des Dr. Faust, und einmal war auch ein Schuß zu hören.
Herder macht es wie Faust: Er beschimpft sich selbst in seiner Zeit. Höhnisch nennt er sich ein »Tintenfaß«: »... ein Tintenfaß von gelehrter Schriftstellerei, ein Wörterbuch von Künsten und Wissenschaften, die ich nicht verstehe, ein Repositorium voll Papiere, das nur in die Studierstube gehört.« Dieses »Tintenfaß« von 1769 findet zehn Jahre später sein Echo in Karl Moors famosem Satz: »Mir ekelt vor diesem Tintengleksenden Sekulum, wenn ich in meinen Plutarch lese von großen Menschen.«
Allerdings merkt der wackere Räuber offenbar nicht, in welches Paradox er gerät, wenn ihm vor der Tinte seines Jahrhunderts ausgerechnet beim Lesen von großen Menschen ekelt. Wo steckt denn der Geist Plutarchs und seiner kolossalen Kerle, wenn nicht in der Tinte, in der Druckerschwärze, auf dem Papier? Tatsächlich konnten die jungen Dichter des unerhörten Jahrzehnts ihre leidenschaftliche Tintenverdammung und Papierverachtung nicht anders unter die Leute bringen als mittels Tinte und Papier.
»Das Wort erstirbt schon in der Feder«, heißt es im ›Faust‹ – ein starker Satz, gewiß, aber ohne die Feder, die er verklagt, wäre er nie bis zu uns gekommen.
Von einer ganzen Generation und ungezählten Nachfolgern wird die Tinte ausgespielt gegen das Blut, und das Papier wird ausgespielt gegen den Leib – und immer geschieht es mit Tinte und Papier.
Die Tinte selbst aber transportiert getreulich jede Beschimpfung. Getreulich verbreitet sie ihre eigene Diffamierung zum Inbegriff des Blut- und Geistlosen. Die Tinte ist der Esel der Poesie.
Ich erkläre hier meine Hochschätzung der Esel, und ich bekenne mich zur Spiritualität der Tinte.
Das hängt zusammen mit meiner Arbeit, dem, was mir dabei gefällt und fröhliche Tage macht. Meine Arbeit geschieht an der Literatur, und die Literatur begegnet mir zunächst einmal von ihrer Tintenseite her. Mein Beruf gilt dem »Gleksenden« – geschrieben mit einem schillerischen G.
Dabei weiß ich genau, wie erhaben die Herkunft der ganzen Tintenverachtung ist. Der Schnitt zwischen Geist und Tinte wurde zuerst von jenem Apostel geführt, der nicht zufällig mit einem langen Schwert in den Händen abgebildet wird. In seinem zweiten Brief an die Korinther steht die Wendung: »... nicht mit tinten / sondern mit dem Geist des lebendigen Gottes / Nicht in steinern Taffeln / sondern in fleischern Taffeln des hertzen.« Ist es da nicht lästerlich, von einer Spiritualität der Tinte zu reden?
Es geht mir um die Literatur, und weil es mir ernst und vergnügt und hartnäckig um die Literatur geht, darf ich heute hier stehen. Und nun verhält es sich so, daß die Literatur, wenn sie einmal da ist, nicht einfach fortlebt, weil sie lebt, wie die Rose des Silesius »blühet weil sie blühet«, sondern es kann mit der Blüte ein rasches Ende nehmen. Und noch weniger gilt von der Literatur, was von jener Rose weiter gesagt wird: »Sie achtt nicht ihrer selbst / fragt nicht ob man sie sihet.« Mindestens die Autorinnen und Autoren pflegen die Frage, »ob man sie sihet«, mit einem gewissen Nachdruck zu stellen.
Tatsache ist, daß es kein Gedicht, kein Schauspiel, keinen Roman gibt, die dagegen gefeit wären, eines Tages aus aller Augen zu verschwinden und in den langen Schlaf der sieben heiligen Schläfer zu versinken, tief in vergessener Höhle, das Hündlein an der Seite. Da nützt es dann wenig, wenn das Gedicht, wie man betulich sagt, »aus Fleisch und Blut« ist. Da hat sich allein die Tinte zu bewähren. Jetzt sitzt der Geist nur noch in ihr. Die Tinte ist nun »der ganz besondre Saft« – und nur nebenhin sei bemerkt, daß es keine Rolle spielt, ob solcher Saft aus einem Federkiel stammt oder einem Laser-Printer, dem allerneuesten Bubble Jet Tintenstrahldrucker HJ-100.
Gewiß, es ist schön, an Literatur zu arbeiten, die ganz gegenwärtig und wach und in aller Munde ist. Wie man da ein Echo findet und Zustimmung und Widerspruch! Viel kostbarer aber, wenn auch von Einsamkeit bedroht und dem Gähnen der Mitwelt ausgesetzt, ist die Arbeit an der schlafenden Dichtung. Nichts geht über den Moment, wo es einem gelingt, den Geist zu wecken, der in der Tinte steckt. Da strahlt es dann um den Kopf des Philologen – mögen noch so viele an der Möglichkeit eines solchen Lichtphänomens ihre grundsätzlichen Zweifel haben.
Ich denke hier nicht an die grandiosen Fälle: die Manuskripte des späten Hölderlin, Büchners Woyzeck-Entwürfe. Obwohl, wer der Spiritualität der Tinte gegenüber skeptisch bleibt, ein einziges Blatt mit den letzten Fragmenten Hölderlins betrachten muß, um auf immer bekehrt zu sein. Und wer nicht glaubt, daß Tinte ein Schicksal haben kann, braucht nur nachzulesen, was 150 Jahre lang an der Woyzeck-Handschrift geschehen ist. Aber davon will ich jetzt nicht reden. Was mich beschäftigt, ist das Verschwinden des Anerkannten. Seit es den großen Kanon einer hochgemuten »National-Literatur« nicht mehr gibt, ist das Einschlafen der Dichtung ein Vorgang geworden, der sich überall abspielt, unberechenbar. Die große Übereinkunft über das, was gilt in der Literatur und was nicht, was von Dauer sei und was vergänglich, ist einem tumultuarischen Schauspiel von Verschwinden und Wiederkehr gewichen. Man kann daran Ärgernis nehmen, es hat auch seine Faszination. Wir sehen uns heute der alten Literatur gegenüber in die gleiche Offenheit versetzt wie der neu entstehenden. Das hat zur Folge, daß Neugier und Hoffnung gleichfalls in beide Richtungen gehen. Es gibt einen Hunger nach dem neuen Buch, dem neuen Stück, dem neuen Lied, und es gibt einen Hunger nach der Wucht und der Wahrheit, die in der schlafenden Literatur steckt. Erwartungen sind gerichtet auf den Geist in der Tinte, wie es sie so vielleicht noch nie gab. Sie nähren sich aus dem Wissen und der Erfahrung, daß er ausbrechen kann und auffahren, gewaltig wie nur je der Geist im Glas.
Johann Heinrich Merck hat mit Goethe zusammen die Liebesgedichte von Lenz gelesen, und er berichtet diesem darüber in seinem Brief aus Darmstadt vom 8. März 1776. »Dem äußern Schnitt des todten Buchstaben nach«, schreibt er, seien die Gedichte zwar »Gottschedisch«, d. h. eher von gestern, eher altmodisch, eher tintenmäßig. Und dann fährt er fort: »Aber innen wehte der große Wind heraus, der uns mitschaudern machte.«
Das ist ein Satz. Er benennt den Augenblick, wo aus dem geschriebenen Won die Wahrheit schlägt, aus dem Buchstaben das Feuer und der Geist aus der Tinte. Und damit benennt er auch, worum es in unserer Arbeit an der Literatur allein gehen kann.
Ich bin Ihnen sehr dankbar.