STATUT
§ 1
Der Johann-Heinrich-Merck-Preis für literarische Kritik und Essay pflegt seit 1964 das für die Literatur unverzichtbare Gegenüber der herausragenden Literaturkritik und der essayistischen Erkundung intellektuellen Neulands.
Der Preis trägt den Namen von Johann Heinrich Merck als eines Verfassers vorbildlicher Kritiken und Essays.
Der Preis wird von der Merck KGAa gestiftet und ist aktuell mit 20.000 EUR dotiert. Er wird jährlich im Rahmen der Herbsttagung verliehen.
§ 2
Der Johann-Heinrich Merck-Preis wird vergeben für herausragende Leistungen auf dem Gebiet der Literaturkritik und der Essayistik.
§ 3
Das Vorschlagsrecht liegt in den Händen der Jury.
§ 4
Die Jury besteht aus dem Erweiterten Präsidium der Akademie.
Die Jury berät über die Kandidatinnen und Kandidaten in einem mehrstufigen Verfahren.
Beschlossen vom Erweiterten Präsidium am 18. Februar 2021
Literaturkritiker und Publizist
Geboren 16.9.1921
Gestorben 6.4.2006
Mitglied seit 1995
Walter Boehlich, für sein editorisches, übersetzendes, kritisches und essayistisches Werk...
Jurymitglieder
Juryvorsitz: Präsident Herbert Heckmann
Vizepräsidenten Walter Helmut Fritz, Hans-Martin Gauger, Hartmut von Hentig, Beisitzer Georg Hensel, Ivan Nagel, Lea Ritter-Santini, Guntram Vesper, Peter Wapnewski, Hans Wollschläger
Laudatio von Peter Wapnewski
Mediävist, geboren 1922
Literaturkritik als moralische Anstalt
I
Von Ernst Robert Curtius, dem Weltbildungsbürger, ging der Appell aus, der so etwas wie Walter Boehlichs Lebensgesetz wurde: Literatur zu begreifen als Reflex der menschlichen Verfassung, der conditio humana und der durch sie bedingten gesellschaftlichen Umstände. Literatur nicht allererst mit Kritik sondern als Kritik zu lesen, und sie zu verstehen jenseits der Grenzen nationaler Sprachen und Traditionen.
Es erhellt schon aus diesen wenigen Stichworten, daß es Boehlich nicht um die fleißentstammende Erringung akademischer Titel ging. Er war der Universität bald entwachsen, und nicht entließ sie ihn sondern er entließ sie. Und machte das Lesen von Büchern, das Nachdenken über Bücher, das Schreiben über sie zur lebenslangen Aufgabe.
Man muß auf gut Curtius’sche Weise nach einem Unmöglichkeits-Topos suchen, wollte man sich vermessen, die Fülle der Titel und Themen, die Thesen der Hunderte von Aufsätzen, Rezensionen, Vor- und Nachworte in Boehlichs Werk auch nur annähernd vollständig zu erfassen. Die verpflichtende Kraft des brevitas-Ideals hinderte ihn, sein Wissen und Denken umzusetzen in die voluminöse Form eines Buchs. Stattdessen hat er die Bücher anderer bedacht, kritisiert, kommentiert, ediert, – und sie sich ihm verpflichtet gemacht.
Ich versuche, das Feld seiner Unternehmungen andeutend abzustecken. Da sind die Latein-Amerikaner: Mario Praz und Vargas Llosa und Gabriel Garcia Márquez und Julio Cortázar. Da sind die Spanier, Ramón José Sender etwa und Mercè Rodoreda. Da sind die Italiener, vor allem der frühe (um 1575 geborene) neapolitanische Märchensammler und Dichter und Hofmann Giambattista Basile. Da sind die Franzosen, Proust und Giraudoux und Marguerite Duras und Flaubert. Da sind die Skandinavier, Kierkegaard und Hermann Bang und Karen Blixen und Hjalmar Söderberg. Und wer endlich den angelsächsischen Kreis vermißt, der sei verwiesen auf Boehlichs von Verehrung spürbar bewegte Ausführungen zu Samuel Beckett.
Sie alle hat er übersetzt, erklärt, interpretiert. Hat es getan auf seine Weise, und das heißt: Literaturkritik als moralische Anstalt.
II
Solches Programm zu verstehen hilft ein Blick auf Boehlichs Arbeiten zur deutschen Literatur. Da geht es vor allem um das Neunzehnte Jahrhundert, jene Epoche, die mit dem Erwerbsbürgertum den Kapitalismus, mit dem Bildungsbürgertum die Darstellung, Verklärung, Entlarvung oder Kaschierung der wohlgefügten Formationen des Sozialwesens, der Erziehung, der Familie, der nationalen und militärischen Traditionen brachte. Und mit den Entwürfen des Sozialismus und Marxismus den Versuch, die Heilsgewißheit dem Jenseitshimmel zu entreißen und auf Erden zu installieren.
Das Neunzehnte Jahrhundert im Zwanzigsten: es hat die furchtbarsten Verheerungen angerichtet, Ideen zu Ideologien erstarren lassend und in deren Namen Elend, Krieg und Tod veranstaltet, das alte Europa begrabend. Boehlich als ein Überlebender arbeitet aus dem Gefühl der Verpflichtung, Nachwüchse und Auswüchse von Nationalismus, Chauvinismus und von bourgeoiser Standesvermessenheit aufzudecken und anzuklagen. So erklärt es sich auch, warum er den Wörterbüchern, warum er dem „Deutschen Wörterbuch“ intensive Studien gewidmet hat, auf solche Weise die Wörter und ihre Begriffsträchtigkeit untersuchend, vor allem aber die Geschichte und Technik der Deutung dieser Wörter durch eine Gesellschaft, die sich die Sprache zu Diensten machte, sie zum Raum einer fatalen, sich als spezifisch ‘deutsch’ empfindenden (und des Schrittes von der Humanität zur Bestialität nicht innewerdenden) Innerlichkeit weitend und sie nutzend als Organ eines deutschen Suprematiedünkels und -wahnes. Denn unsere Sprache verrät uns.
Einen „Pyrrhussieg der Germanistik“ nannte er deshalb rechtens die abschließende Vollendung des „Deutschen Wörterbuchs“, und seinen Zorn bei der Betrachtung des Ganzen offenbarte die Titelzeile „Blick zurück im Grimm“.
III
Versuche ich, sein methodisches Verfahren zu bestimmen, so definiert sich der Rezensent Boehlich in der Ablehnung einer Kritik, die nichts weiter zu kennen scheint als das eben hier behandelte Buch, und die nichts für wert hält als die subjektive Darlegung einer sich jeweils einstellenden spontanen Stimmung. Das ist ihm verdächtig als Schwäche ‘bürgerlicher’ Rezeption des Kunstwerks. Vielmehr hat der Rezensent beharrlich dem Imperativ zu folgen, der da herrisch befiehlt, Text und Kontext als Einheit zu begreifen; das heißt, vom ‘Text’ her die Verbindung nicht herzustellen (sie ist ja da) sondern offenzulegen zu dem übrigen Werk des Autors, zur Literatur seiner Zeit, zur politischen Situation, zur sozialen Bedingtheit. Was in bezug auf ein in der Übersetzung vorliegendes Werk heißt: Der Kritiker muß bei und zu dessen Beurteilung allererst das Original kennen.
IV
Man weiß, was es auf sich hat mit dem moralischen Rigorismus und seiner Leidenschaft: Er schützt nicht nur nicht vor Irrtum, sondern zwingt ihn gelegentlich herbei. Ein Gesetz, dem auch Boehlich nicht entgehen konnte. Autoren und Thesen sind gelegentlich Opfer einer eifernden Überzeugung geworden, und ein Axiom vom Ende der Literatur oder der Kritik sorgte bald für seine Widerlegung. Indessen: der Balken, wenn er ihn im Auge des anderen entdeckte, hat ihm nicht die Sicht auf den Splitter im eigenen verdeckt, ihm nicht das Bewußtsein getrübt für die Grenzen des eigenen Erkenntnisvermögens. Der letzte Satz einer Rezension (über die Mercè Rodoreda) gilt nicht nur für diesen einen Fall: »Mir scheint es so«.
Es ist die Neigung der landläufigen Kritik, ihre subjektive Befindlichkeit in ihr Geschäft hineinzunehmen. Eben dies ist es, was Boehlich als ihre ›bürgerliche‹ Schwäche empfindet, tadelt und befehdet. Was wiederum für eine Laudatio auf ihn zur Folge hat, daß die Beschreibung des Persönlichen keinen Platz haben darf in ihr und verzichten muß auf die Skizzierung des biographischen Elementes, sich bescheiden muß mit dem Versuch einer Skizzierung des Werks mit Hilfe einer modellhaften Demonstration seines Verfahrens. Das soll hier in Kürze geschehen, indem ich Boehlichs Essay über »Die Romanze vom Grafen Arnaldos« vorstelle und den einleitenden Absatz zitiere:
»Das Gedicht, über das etwas zu sagen ich versuchen will, durchaus in der trügerischen Hoffnung, es dadurch nicht zu zerstören, hat weder einen bestimmbaren Verfasser noch ein bestimmbares Alter, nicht einmal einen bestimmbaren Umfang und damit eben auch keinen bestimmbaren Inhalt. Wie sich zeigen wird, handelt es sich auch nicht um ein einziges Gedicht, sondern um mehrere, eng mit einander zusammenhängende Gedichte, von denen jedes auf seine Weise selbständig und doch auch wieder unselbständig ist, was nicht heißen sollte, daß ich unwillig wäre, mich für eine der vielen Versionen zu entscheiden. Es wird sich aber zeigen, daß der Blick auf die anderen, oder doch auf andere, nicht unnütz ist, und zwar aus zwei Gründen. Die anderen Versionen werden sichtbar machen, was der einen an Inhalt fehlt, weswegen ihre Fabel unvollständig ist, aber sie werden ebenfalls sichbar machen, warum eine, unvollständige, die anderen, vollständigen oder vollständigeren, so weit hinter sich läßt, daß der Weg von ihnen zu ihr aussehen könnte wie der Weg von einem traditionellen Erzählgedicht zu einem Produkt der poésie pure.«
Diese wenigen Zeilen entwerfen ein Programm. Es lautet: hier ist, was die Forschung »Volksdichtung« nennt. Ist eine wundersame Fabel aus dem Mittelalter, deren Überlieferung ihr mannigfache Gestalt gibt, sie mit mannigfachen Rätseln behaftend. Rätsel, die das 19. Jahrhundert, nachdichtend oder nachforschend, eher vermehrt als vermindert hat. Nunmehr macht Boehlich sich an das Geschäft des – wie er es nennt – »Bosselns« mit den jeweiligen Motiven und Bildern und Überlieferungen und Parallelen und Stufen der Vorprägung oder Rezeption, nutzt zustimmend oder widersprechend die gelehrte Literatur (vor allem die Sammelarbeit des großen Ramón Menéndez Pidal), vergleicht und wägt ab und spürt das Puzzle der ergänzenden Fragmente auf und gibt hier dem Reiz des Poetischen und da der Forderung des Historischen ihren angemessenen Ort und erfüllt somit sein Programm, das den Imperativ alles philologischen Tuns darstellt (das Bibelwort säkularisierend): Du sollst nicht töten sondern lebendig machen.
So weit der Versuch, Boehlichs Verfahren in Skizzenform exemplarisch anzudeuten. Und soviel zu dem Verzicht auf den Versuch, ein Wort zu sagen zu dem Bereich des Persönlichen und seinen Subjektivismen. Doch kann eine gewisse Vermutung nicht unterdrückt werden: Daß ein Thema Boehlich je länger je mehr bewegt: das der Juden, ihrer Geschichte und ihres Geschicks in Deutschland. So spürt man es, so erfährt man es, liest man seine Ausführungen über den »Berliner Antisemitismusstreit«, liest man seine Besprechung der Autobiographie des Romanisten Victor Klemperer, seine Beschreibung der Briefbeziehung Sigmund Freuds und Eduard Silbersteins, seine Charakterisierungen der Henriette Herz oder Betty Scholems. »Denk ich an Deutschland in der Nacht ...« Wir alle wissen, daß diese dem allfälligen Nachdenken über Deutschland (derzeit so geboten wie gängig) sich allzu willig anbietenden Verse ein Mißverständnis auslösen und zum Instrument des Mißbrauchs ihres Dichters wurden. Dem es nicht um die bleiche Mutter Deutschland sondern um die Mutter in Deutschland ging, in einem durchaus rotwangigen Deutschland. Denn so setzt Heines sechste Strophe ein: »Deutschland hat ewigen Bestand, / Es ist ein kerngesundes Land, / Mit seinen Eichen, seinen Linden / Werd ich es immer wieder finden«. Verse, denen peinliche Banalität sich schon preisgibt in ihrer reimklappenden Biertisch-Machart (zu ertragen nur als Ironie): Sie sind es, die Eichen und die Linden in ihrer kernigen Gesundheit, Baumungeheuer (monstruos), die in den Himmel wachsen, wo die Vernunft in Schlaf fällt. Und um deretwillen sie schlaflos an Deutschland denkt, bei Nacht und auch bei Tag.