Johann-Heinrich-Merck-Preis

STATUT

§ 1
Der Johann-Heinrich-Merck-Preis für literarische Kritik und Essay pflegt seit 1964 das für die Literatur unverzichtbare Gegenüber der herausragenden Literaturkritik und der essayistischen Erkundung intellektuellen Neulands.

Der Preis trägt den Namen von Johann Heinrich Merck als eines Verfassers vorbildlicher Kritiken und Essays.

Der Preis wird von der Merck KGAa gestiftet und ist aktuell mit 20.000 EUR dotiert. Er wird jährlich im Rahmen der Herbsttagung verliehen.

§ 2
Der Johann-Heinrich Merck-Preis wird vergeben für herausragende Leistungen auf dem Gebiet der Literaturkritik und der Essayistik.

§ 3
Das Vorschlagsrecht liegt in den Händen der Jury.

§ 4
Die Jury besteht aus dem Erweiterten Präsidium der Akademie.

Die Jury berät über die Kandidatinnen und Kandidaten in einem mehrstufigen Verfahren.

Beschlossen vom Erweiterten Präsidium am 18. Februar 2021

Daniela Strigl

Literaturwissenschaftlerin und Literaturkritikerin
Geboren 23.11.1964
Mitglied seit 2022

Sie beeindruckt durch die Breite ihres literarischen Horizonts und durch ihre stets wache Zeitgenossenschaft.

Jurymitglieder
Juryvorsitz: Präsident Ernst Osterkamp
Vizepräsidenten: Aris Fioretos, Wolfgang Klein, Monika Rinck, Beisitzer: Elisabeth Edl, László Földényi, Michael Hagner, Dea Loher, Ilma Rakusa, Marisa Siguan

Close reading, long distance call

Sehr geehrter Herr Präsident, sehr geehrter Herr Bärfuss,
lieber Thomas Macho, verehrte Mitglieder der Akademie,
meine Damen und Herren!
»Wir sind doch nur insofern etwas, als wir was für andre sind.« Das behauptet, wie leicht zu erraten, Johann Heinrich Merck. Ich möchte gerne einen Landsmann und Zeitgenossen antworten lassen, der mir zugegeben nähersteht: Georg Christoph Lichtenberg. Es klingt wie ein Widerspruch und ist zuletzt doch eine Bestätigung, wenn er sagt: »Hingegen ist mir auch zu wenig an dem Lob der Leute gelegen, ihr Neid wäre allenfalls das einzige, was mich noch freuen würde.«
Bei der letzten Büchner-Preisverleihung hatte ich die Ehre, von dieser Stelle die Laudatio für Terézia Mora zu halten. Nie hätte ich mir träumen lassen, nun, ein Jahr darauf, mit vertauschter Rolle vor Ihnen zu stehen, quasi auf der anderen Seite. Ein freudiges Ereignis, naturgemäß, aber kein ganz entspanntes. Mir liegt das Loben eher als das Gelobtwerden. Wenn ich freilich mit solcher Autorität gelobt werde wie heute von Lothar Müller, weiß ich das schon auch zu genießen. Ich komme aus dem Staunen nicht heraus, und ich fühle mich durchschaut. Mein erster Dank gilt meinem Laudator.
Wie wird man das, was man ist? Nicht unbedingt dadurch, daß man
etwas oder jemand werden will. Wenn heute schon alles anders ist als sonst, dann will ich hier, beim Blick zurück aus weiter Ferne, so ungeniert wie möglich von mir selbst sprechen. Ich wollte vor allem etwas nicht werden: Juristin, wie mein Vater als Rechtsanwalt sich das gewünscht hat. Ich wollte etwas machen, das mit Lesen und Schreiben zu tun hat, aber nicht mit dem Lesen von Gesetzbüchern und dem Schreiben von Klageschriften. Die Entscheidung für die Germanistik ohne Lehramt war eine Entscheidung wider die Vernunft und für die vielbeschäftigte Beschäftigungslosigkeit. Jeder Berufsberater hätte mir abgeraten. Wie wird man das, was man ist? Nicht unbedingt durch planvolle Überlegung. Man kann auch in den Tag hineinleben und manchmal in die Nacht. Fleiß (im Sinne von Produktivität) und Bequemlichkeit müssen einander nicht ausschließen. Ich habe nicht »die Laufbahn einer Literaturkritikerin ergriffen«, ich habe mit dem, was ich gemacht habe, sozusagen immer weitergemacht, und gelegentlich habe ich mir einen Ruck gegeben und eine sich bietende Gelegenheit beim Schopf gepackt. Der Kairos der alten Griechen, den man beizeiten bei seinen Stirnlocken fassen muß, weil es, kehrt er einem flüchtend einmal sein kahles Hinterhaupt zu, unwiderruflich zu spät ist, hat mir als Figur immer eingeleuchtet.
Damit ist das essentielle Moment des Glücks auf dem Tapet. Zu meinem Glück bin ich zwei Männern begegnet, die, miteinander spinnefeind, in Wahrheit auf derselben Seite standen: der der Literatur. Beide sind nicht mehr am Leben. Der eine, David Axmann, hat der Gymnasiastin als Redakteur des Wiener Journals 1981 auf einen parodistischen Leserbrief hin ihre erste Rezension abverlangt. Der andere, Wendelin Schmidt-Dengler, lebte ihr mit Verve vor, wie Universitätsgermanistik und kritisches Gewerbe unter einen Doktorhut zu bringen seien. David Axmann, der letzte in der großen jüdischen Tradition des österreichischen Journalismus, hatte der Wissenschaft den Rücken gekehrt, nicht ohne über sie die Nase zu rümpfen. Er war stolz darauf, eine germanistische Seminararbeit mit lauter perfekt gefakten Quellenzitaten bestritten zu haben. Axmann war, buchstäblich und im übertragenen Sinne, der Nachlaßverwalter von Friedrich Torberg, er war ein brillanter Feuilletonist und Verskünstler, ein Meister der Parodie und Camouflage. Schmidt-Dengler stand als souverän eigenwilliger Philologe und mitreißender Lehrer scheinbar am anderen Pol des literarischen Feldes, sein Fachgebiet reichte vom Sturm und Drang bis zur druckfrischen Gegenwartsliteratur. Die beiden aber waren nicht allein durch ihre schier entmutigende Belesenheit und ihre Begeisterung für die Sache verbunden, sondern auch durch ihren Witz, ihren Eigensinn und ihre Lust an wohldosierter Bosheit; und durch ihr erotisches Verhältnis
zur Sprache – Karl Kraus hatte Feindschaft gesetzt zwischen ihnen und der Phrase.
Als Doktorvater war Schmidt-Dengler generös – er konzedierte mir schließlich, daß es vielleicht doch möglich sei, zweitausend Theodor-Kramer-Gedichte zu lesen, ohne psychischen Schaden zu nehmen. In der Folge wies er mir immer wieder kleinere und größere Hausaufgaben auf dem Gebiet der Wissenschaft wie des literarischen Betriebs zu, deren ich mich mehr oder weniger bereitwillig unterwand, von der Mitwirkung in der Bachmann-Preis-Jury bis zur Biographie der Marlen Haushofer. Nur als Lektorin nach Japan wollte ich mich von ihm nicht schicken lassen, dafür war ich – zu bequem.
Von Anfang an wollte ich mich nicht zwischen Literaturwissenschaft
und Kritik entscheiden müssen, wollte ich die kleine Form und den großen Bogen, die Freiheit des riskant Subjektiven und die erkenntnisfördernde Attitüde sachlicher Distanz. Es erschien und erscheint mir dürftig, das Bild der literarischen Gegenwart aus einem lückenhaften Pointillismus gewinnen zu wollen, andererseits auch öde, Resultate des Forschens und Nachdenkens nur in einem Kreis von Eingeweihten zirkulieren zu lassen. Daß in letzter Zeit die universitäre Formalisierungs- und Evaluierungswut einer Konzentration auf das Wesentliche, auf Forschung und Lehre nämlich, entgegenwirkt, hat sich herumgesprochen. Zunehmend allergisch reagiere ich auch auf den vorherrschenden Sprachgestus der Literaturwissenschaft, einen Jargon der Uneigentlichkeit, der die Aussage hinter einer Phalanx aus Fachvokabular und Modebegriffen verbirgt. Ja, mitunter ist es sein Hauptzweck, ein elaboriertes Nichts durch eine klangvolle Hülle zu verdecken, tatsächlich: dünne Suppe aus goldenen Schüsseln.
Es mag schon sein, daß die Form der literarischen Kritik im Vergleich dazu manchmal allzu grobschlächtig wirkt und etwas mehr Differenziertheit vertragen würde. Marie von Ebner-Eschenbach bleibt im allgemeinen Urteil nobel: »Es gibt überall verschämte Arme, nur nicht in der Literatur.« Man muß jedenfalls nicht gleich so deutlich werden wie zum Beispiel – Herr Merck, der einem Autor beschied: »Solch einen Quark mußt du mir künftig nicht mehr schreiben, das können die andern auch.« Der Autor war sein Freund Goethe, und mit dem »Quark« meinte Merck Clavigo.
Wendelin Schmidt-Dengler sah die beiden Disziplinen nicht so sehr durch ihr Personal unterschieden (die Personalunion zwischen Kritiker und Wissenschaftler ist ja gar nicht so selten) als durch die Trennung der diskursiven Bereiche. Was da und dort debattiert wird, überschreitet kaum die Grenzen der Metiers. Die Literaturwissenschaft finde sich, so Schmidt-Dengler, bisweilen auch durch eigenes Zutun, in den Elfenbeinturm verbannt, »aus dem sie hin und wieder herausdarf, wenn Sonntag ist und ein ernsthafter literarischer Gottesdienst angesagt ist«. Zum Beispiel, wenn sich die Nation über einen Literaturnobelpreisträger freut: Da schlug in den Fernsehnachrichten und Round-Table-Gesprächen plötzlich die Stunde der Germanistik, nach der sonst kein Kampfhahn kräht. Denn die Literatur hat als ein zentrales Bildungsfach weitgehend abgewirtschaftet, ob uns das gefällt oder nicht.
Daher kommt es, daß die Germanistik nicht nur an US-amerikanischen
Universitäten in die Filmwissenschaft ausweicht, daß Literaturwissenschaft inzwischen vornehmlich als Kulturwissenschaft betrieben wird, Theorie statt Philologie. Allerdings keine ganz neue Entwicklung, sprach doch schon Merck-Freund Goethe ein förmliches Stoßgebet: »Gott erhalte unsre Sinnen und bewahre uns vor der Theorie der Sinnlichkeit!« In Österreich setzt bekanntlich jede Entwicklung mit spürbarem Nachhinken ein und wird dafür in forciertem Galopp nachgeholt. Der habituelle Minderwertigkeitskomplex der Geisteswissenschaft läßt ihre Angehörigen in den Reservaten der Naturwissenschaft wildern, als ob man durch die semidilettantische Beschäftigung mit dem Anthropozän oder der Chaostheorie die verlorenen Gutpunkte in der sozialen Reputation wettmachen könnte.
Ich kann nicht behaupten, daß das, was ich tue, an der Universität, an der ich mich seit zwölf Jahren in unterschiedlichen Formaten bewege, ohne mich als Grenzgängerin zwischen Betrieb und Wissenschaft zu fühlen, und an die ich zur Zeit durch einen Lehrauftrag gebunden bin, sich bei der Mehrzahl der Kolleginnen und Kollegen besonderer Wertschätzung erfreut. Das liegt wohl nicht allein an meiner anachronistischen Vorliebe für das Close reading. Ich vermute, daß die Figur der Allrounderin in Zeiten des Spezialistentums ebenso verdächtig ist wie die außerakademische Konsumierbarkeit von Texten und deren öffentlicher Widerhall. Zu meinem Glück gehört indessen, daß mein Tun und Schreiben auch im großen Nachbarland bemerkt wird, daß es von Ihnen bemerkt wird: Die fehlende Verankerung im universitären Boden wird durch einen Preis wie diesen mehr als aufgewogen. Und sie bedeutet nicht zuletzt auch ein unschätzbares Stück Freiheit.
Unter den vielen illustren Namen auf der Ehrentafel des Merck-Preises ragt für mich jener der bewundernswürdigen Wiener Kritikerin und Essayistin Hilde Spiel heraus, die 1981 nach sechzehn Preisträgern die erste Preisträgerin war. In ihrer Dankesrede zitiert sie, ohne seinen Namen zu nennen, Marcel Reich-Ranicki, der die Dichterinnen als die »Sachwalterinnen des Unbewußten und des Irrationalen, des Schwärmerischen und des Märchenhaften« bezeichnet hat, und fügt mit feinem Spott hinzu, es scheine »keineswegs erwiesen«, daß »Frauen weniger geistesstark, daß sie schwärmerischer und emotionaler sind als Männer«. Der Preis für sie wirke »der doppelten Geringschätzung, die unsereine stets gewärtigen muß, als Ausüberin einer vorgeblich letztrangigen Gattung [des Essays] und als ein vorgeblich irrationales Wesen, eine Frau«, »auf das schönste entgegen«. 1981, das ist lang her, aber es ist nicht graue Vorzeit, und liest man das, erkennt man, daß es ihn doch gibt, den Fortschritt.
Fragte man mich um ein Rezept zur Steigerung der gesellschaftlichen Strahlkraft von Literatur und Literaturwissenschaft, würde ich, als Schülerin von Wendelin Schmidt-Dengler, empfehlen, in die Offensive zu gehen: Daß Dichtung zum notwendigen Überflüssigen des menschlichen Lebens gehört, hat eine Evidenz, die, nur vorübergehend verschüttet oder verschattet, in naher Zukunft gewiß wieder zutage treten wird.
So lange wird auch die vielgescholtene Kritik noch durchhalten, zu
deren Dauerkrise ich hier nichts beitragen will als einen Aphorismus von Marie von Ebner-Eschenbach: »Es glaube doch nicht jeder, der imstande war, seine Meinung von einem Kunstwerk aufzuschreiben, er habe es kritisiert.« Der durch Werkkenntnis ungetrübte Austausch von Meinungen ist es, der gerade auf der digitalen Agora floriert. Da scheint mir längst der Gestus der Kritik durch den der Empörung abgelöst worden zu sein, Empörung über alles mögliche, zum Beispiel über ein Gedicht, in dem von Frauen und von Blumen die Rede ist. Ich gestehe: Empörung als Reflex, als Treibstoff für eine gutgeölte Medienmaschinerie macht mir bange, weil sie Widerspruch nur noch pro forma vorsieht, weil öffentliche Diskussion in einem Crescendo nicht funktioniert. Noch einmal Ebner-Eschenbach: »Die öffentliche Meinung ist die Dirne unter den Meinungen.« Der »kritische Geist« als Empörungsroutinier wird zur Landplage, weil er moralische Unzulänglichkeit immer anderswo ausmacht, weil er, selbstgerecht, sich immer auf der richtigen Seite weiß, der der Guten. Dabei lenkt der Streit über die passende oder zulässige Wortwahl nicht selten vom Kern der Sache ab, und ich denke, das ist politisch durchaus erwünscht. »Schön sprechen!« sagt man in Österreich, die pädagogische Ermahnung persiflierend, wenn ein Abgleiten ins Vulgäre droht. Wer schön spricht, der beschönigt. Das Korrekte korrigiert die Verhältnisse nur in der Rede, nicht im Verhalten. Hier blicke ich auf und mir fällt ein Satz von Alfred Polgar ein: »Weiß man denn, wohin die Feder rennt, wenn sie einmal im Laufen ist?«
Keine Sorge, meine ist schon am Ziel. Ich wollte eigentlich nur dafür plädieren, die eigene Person vielleicht nicht ganz so ernst zu nehmen wie die Sache und auch die nicht immer und unter allen Umständen. Ein Merck-Spruch geht aber noch – einer über die deutschen Lande: »Die Ironie ist eine Pflanze, die bei uns noch immer so wenig gedeihen will, als die Theestaude in Schweden.«
Ganz ohne Ironie: Ich freue mich über das Lob der Leute, ich freue
mich über Ihr Lob. Ich danke der Akademie, ich danke der Jury für diesen großartigen Preis. Und ich danke allen, die sich mit mir freuen.