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Literaturpreis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung
Satzung
Präambel
Der Georg-Büchner-Preis, im Jahre 1923 als Staatspreis des Volksstaates Hessen gegründet und nach vorübergehender Ausschaltung von 1933 bis 1945 im Jahre 1946 durch gemeinsame Vereinbarung der Stadt Darmstadt und des Regierungspräsidenten in Darmstadt wieder eingesetzt, wurde bis zum Jahr 1950 als allgemeiner Kulturpreis für hervorragende künstlerische Leistungen verliehen. Am 15. März 1951 wurde er auf Beschluss der bisherigen Beteiligten in einen Literaturpreis umgewandelt und wird seitdem von der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung vergeben.
§ 1
Der Literaturpreis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung trägt zum ehrenden Andenken an den bedeutenden Dichter den Namen Georg-Büchner-Preis.
§2
Für die Verleihung des Preises steht, vorbehaltlich der jeweiligen Zustimmung der Haushaltsgesetzgeber, ab dem Jahr 2013 jährlich ein Betrag in der Höhe von 50.000 Euro zur Verfügung. Die Bundesrepublik Deutschland, das Land Hessen und die Stadt Darmstadt tragen jeweils ein Drittel dieses Betrags.
§3
Der Georg-Büchner-Preis wird jährlich durch die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung an eine Schriftstellerin oder einen Schriftsteller vergeben. Für den Preis können von den Mitgliedern der Jury Schriftstellerinnen und Schriftsteller vorgeschlagen werden, die in deutscher Sprache schreiben, durch ihre Arbeit und Werke in besonderem Maße hervorgetreten sind und die an der Gestaltung des gegenwärtigen deutschen Kulturlebens wesentlichen Anteil haben.
Bewerbungen für den Preis sind nicht möglich.
§4
Über die Verleihung des Preises entscheidet eine Jury. Dieser gehören neben dem Erweiterten Präsidium der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung je ein Vertreter des/der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien, des Hessischen Ministeriums für Wissenschaft und Kunst und des Magistrats der Stadt Darmstadt mit beratender Stimme an.
Der Preis wird in Darmstadt in einer Feierstunde übergeben.
Die vorstehende Satzung wurde im Juli 2023 in Anlehnung an die Satzungen vom 15. März 1951, vom 15. Juli 2002 und vom September 2013 neu gefasst und von den Trägern des Preises gebilligt.
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Schriftstellerin, Drehbuchautorin und Übersetzerin
Geboren 5.2.1971
Mitglied seit 2015
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...ihre eminente Gegenwärtigkeit und lebendige Sprachkunst, die Alltagsidiom und Poesie, Drastik und Zartheit vereint.
Jurymitglieder
Juryvorsitz: Präsident Ernst Osterkamp
Vizepräsidenten: Aris Fioretos, Wolfgang Klein, Monika Rinck, Beisitzer: Elisabeth Edl, László Földényi, Michael Hagner, Dea Loher, Ilma Rakusa, Marisa Siguan
sowie je ein Vertreter der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien, des Landes Hessen und der Stadt Darmstadt
Laudatio von Daniela Strigl
Literaturwissenschaftlerin und Literaturkritikerin, geboren 1964
Von der Unendlichkeit des Satzes. Ein Alphabet des Lobes für Terézia Mora
Terézia Mora ist eine ordnungswütige Autorin, deren Werk vom Chaos spricht. Sie mag magische Zahlen. In das Korsett der Form zwängt sie sich, um es zu sprengen. Eine Woche umfaßt das Zeitgerüst, in dem Der einzige Mann auf dem Kontinent, Held ihres zweiten Romans, sich bewegt, Tag für Tag. Eine Woche, sieben Tage; Mora beschreibt aber acht. Sieben Kapitel hat der erste Roman Alle Tage, aber nur der Numerierung nach, de facto sind es zehn. Zehn Erzählungen enthält der Band Liebe unter Aliens, eine runde Zahl, doch nicht das Dutzend, das man erwartet, hat Mora doch angeblich ein Jahr lang jeden Monat eine geschrieben. Zehn Geschichten stehen in ihrem ersten Buch Seltsame Materie. Ordnung also, aber keine Zahlen. Das Alphabet.
A wie Abel
Abel Nema, der erste Romanheld, Mann aus dem Osten, Halbungar,
einer, der wie ein Pfeifenputzer ausschaut, lang und dünn, der buchstäblich
nach Fremdheit riecht; Abel, das geborene Opfer, sexuell
desorientiert, zuweilen praktizierend schwul, meist aber ohne Begehren,
provokant durch sein Nicht-Anwesendsein, unvergeßlicher komischer
Vogel. Auf dem Kopf zu gehen wie Büchners Lenz hat er sich
nie gewünscht, daß er die Welt kopfüber sehen muß, gefesselt von einem
Spielplatzgerüst baumelnd, hat man ihm angetan. Zwischen zwei
Anschläge auf sein Leben ist das Wunder seiner Inselbegabung gesetzt,
zehn Sprachen lernt er oder zwölf, eine Übersetzermaschine, akzentfrei,
rückstandsfrei, verständigen freilich kann er sich nicht, néma,
ungarisch, heißt: stumm, nemo, lateinisch, heißt: niemand. »Mensch
ohne Menschheit« nennt ihn ein Freund, weil ihm, dem Fremden, alles
Menschliche fremd ist. Ein Archetyp, den erst einmal jemand erfinden
mußte.
B wie Bachmann
Ja, Alle Tage zitiert nicht von ungefähr ein Bachmann-Gedicht. Nichts
bei Terézia Mora geschieht von ungefähr. Und nichts bleibt im Ungefähren.
Die allzu deutliche Bachmannfährte hat die Autorin später bereut.
Der Blick auf eine Ikone schränkt das Sichtfeld ein. Die Gleichgestimmtheit
ist freilich nicht zu leugnen: »Der Krieg wird nicht mehr
erklärt, / sondern fortgesetzt. Das Unerhörte / ist alltäglich geworden.
Der Held / bleibt den Kämpfen fern. Der Schwache / ist in die Feuerzonen
gerückt.« Alle Tage erzählt nach dem Jugoslawienkrieg vom Unerhörten
des alltäglichen Übergriffs, von den Schwachen aller Länder,
aller Tage in den Feuerzonen. Ingeborg Bachmann hat als Vorgängerin
hier in Darmstadt Nachkriegsdeutschland als ewiges Lazarett beschrieben: »Alles ist versehrt, nicht durch Geschosse, sondern inwendig
«. Bachmanns Conclusio klingt wie Moras Programm: »Darstellung
verlangt Radikalisierung und kommt aus Nötigung«.
C wie Celan
Nein, Celan ist keine Bezugsgröße in Terézia Moras Kosmos, aber in
Abel Nema steckt auch sein unheilbares Fremdsein oder das seines
Bachmannschen Pendants Trotta, den »die Sprachen aufgelöst« haben,
der deutsch sprach »wie ein Fremder, aus einer deutschen Fremde,
und französisch wie ein Franzose, aber daran lag ihm nichts, und auch
nichts daran, daß er zwei oder drei slawische Sprachen sprach wie jemand,
der nur lange weg war«. Abel Nema sagt: »Die Welt als Vokabel! Das ist mein Trost!«
D wie Drastik
Man nehme diese beiden Sätze aus der Titelerzählung von Seltsame
Materie: »Die Haare hat man mir am Sonntag geschnitten. Vater hatte
sie, nachdem wir Mutter in den Krankenwagen gelegt hatten und der
Hof voller Nachbarinnen war und ich mit dem Zigeuner Florian alleine
wiederkam, in einem unbemerkten Moment angezündet.« Terézia
Moras Drastik bricht in den Satz ein, wie sie in die Welt einbricht:
ohne Vorwarnung. Nicht immer brennt es, fließt Blut, aber immer geht
es um die verdeckt brodelnde Gemeinheit, die augenscheinlich wird.
Wir erschrecken, weil wir wissen: So ist es. So sind wir. Der drastische
Satz läßt uns, so Mora, »keine Chance«, die »in ihm enthaltene Wahrheit
zu leugnen«. Diese Erzählerin ist unerbittlich.
E wie Erlösung
Erlösung als ein Versprechen für das Diesseits scheint nur in der
Liebe möglich, theoretisch. Die »unter Aliens« endet im Spurlosen. Die
späte Begegnung des pensionierten Japanologen mit der (wir nehmen es
einmal an) Frau seines Lebens hält die Möglichkeit offen, dafür spricht
auch der Titel der Geschichte: Das Geschenk oder Die Göttin der Barmherzigkeit
zieht um. Für die Schriftstellerin ist Erlösung die Erkenntnis
der eigenen Aufgabe. Mora: »Wenn du DEINS gefunden hast, bist du
erlöst, und erlöst ist erlöst, ein Leben auf einer grünen Aue.«
F wie Fertörakos
Fertörakos am Neusiedlersee, Kroisbach zu deutsch, ein Ort, der 1921
für den Verbleib bei Österreich stimmte, vergeblich. Wie es dort oder
im nahen Petöhaza (Pöttelsbach) ist oder war, steht in Seltsame Materie
zu lesen. Eine Kindheit im Kommunismus, in dessen katholischer
Knautschzone. Das Ungarische als zweite Sprache, ringsum dominant.
Bäuerliche Dürftigkeit, Alkoholismus, Gewalt, Tristesse, der Zuckergeruch
der Fabrik, viel Schilf, viel Schlamm und der See. Die Grenze
als Materialisierung von Gefahr, vor und nach der Wende. Ohne Fertörakos
oder Petöhaza nahetreten zu wollen: kein Startvorteil auf dem
Weg zum Parnaß. Eher eine Prüfung.
G wie Gravitation
Von Anfang an hatten Moras Figuren Körper, Körper, die ins Wasser
tauchen, vom Schlamm verschluckt werden, die bluten und sich verfärben,
Körper, die andere Körper suchen, die Hunger verspüren oder
Durst (das vor allem). Der Großvater, der trinkt, um sich nach der
Entziehungskur »wieder in den Griff zu bekommen«. Der Tierpfleger
Erasmus Haas, der fünf freie Tage nutzt, um zu Hause zu tun, was ihm
das Natürlichste erscheint: »Trinken, trunken werden.« Und der einem
Blutsturz trotzt, ihn aussitzt, sich hochkämpft, gegen die Schwerkraft
der Verhältnisse. »Leichtigkeit ist Illusion. Die Gravitation zieht
uns«, heißt es in der Erzählung Durst. Daß kämpfen nicht zuletzt heißt
mit seinem Körper kämpfen, weiß auch Darius Kopp, der »korpulente«
Held von Der einzige Mann auf dem Kontinent und Das Ungeheuer. Sein
Kampf ist in ein mildes Licht des Verständnisses getaucht, das Ballett
der physischen Wunscherfüllung, vom Cappuccino über die Omelette
bis zur Fußmassage und zum ehelichen Beischlaf, konterkariert und
verstärkt die Tücken des Objekts wie der Kommunikation.
H wie Heiterkeit
Eine gebürtige Ungarin und – Heiterkeit? Vielleicht aber doch in ihrer
Sicht auf die eigene Rolle, ein gelassenes Wissen. Heiter heißt ja
auch: klar. Ganz und gar nichts abgewinnen kann die verzweifelt traurige
Protagonistin Flora dem Aphorismus: »›Heitere Resignation – es
gibt nichts Schöneres.‹ (Marie von Ebner-Eschenbach ist eine selten
dumme Plantschkuh.)«
I wie Ironie
Natürlich ist Terézia Moras Stimme ironisch, nicht immer, aber immer
wieder. Schließlich ist sie die Leserin, Übersetzerin, Bewunderin
des Péter Esterházy. Ironie, nicht als die ständig hochgezogene Augenbraue
der überlegenen Beobachterin, sondern als mitfühlende Erkenntnis
und Anerkenntnis der Differenz zwischen menschlicher Bemühung
und Ergebnis. So funktioniert auch der satirische Blick auf die Wasserträger
der New Economy, auf den Jargon und die Sprechblasen der
Blase in Der einzige Mann auf dem Kontinent. Weil Ironie ohne Selbstironie
witzlos ist, denkt die Autorin über das eigene Dasein als fast ganz
normale Ehefrau und Mutter einer grippekranken Tochter nach und bilanziert: »So muß ich Weltliteratur schreiben.«
J wie Jandl
Daß Ernst Jandl, auch ein Vorgänger, zu Terézia Moras literarischen
Galionsfiguren gehört, sagt etwas aus über ihr Verhältnis zur Avantgarde,
zum Klangkörper Sprache. Das Erweckungserlebnis: Alfred
Hrdlicka (ein Name wie ein Lautgedicht) weiht 1988 sein Antikriegsdenkmal
in Wien mit Jandls schtzngrmm ein. So etwas ist also möglich.
K wie Kopp
Er ist Abel Nemas Gegenstück, ein gestandenes Mannsbild mit einem
gesunden Appetit auf das Leben, kontaktfreudig und charmant, von innerer
Unverwüstlichkeit, so rührend wie ärgerlich in seinem strebenden
Bemühen, als IT-Sales-Manager gegenüber dem System, das ihn
zugrunde richtet, loyal zu bleiben, der Autorin und unser liebster Protagonist.
Doch seine Stärken sind zugleich seine Schwächen im Umgang
mit seiner hoch- oder eigentlich: hypersensiblen Frau Flora. »Der
einzige Mann auf dem Kontinent« ist aber auch der letzte Mohikaner
einer Goldgräberepoche, einsam vor seinem Laptop, seinem Handy,
scheuklappenbeschränkt, asthmatisch, letzten Endes auch nichts anderes
als ein »Idiot« im griechischen Sinne, ein Eigenbrötler wie Abel
Nema, ein Seelenverwandter aus dem Osten, aus der DDR. Am Ende
von Das Ungeheuer, am Ende seiner Reise auf den – natürlich – Balkan
bleibt ihm von seinem Equipment die Urne mit der Asche seiner
Frau. Da darf man sich schon Sorgen machen um ihn und um Band 3
der Trilogie.
L wie Literatur
Ein Dialog zwischen Herrn und Frau Kopp: »Morgen. Morgen. Bist
du schon lange auf? Eine Stunde. Was liest du da? Die Wand. Was?
Das ist der Titel: Die Wand. Gut? Ja. Besser als Morgensex? (In der
Tat, aber ...) Sie lächelte, klappte das Buch zu« usw. Die letzte Antwort
nur in Klammern. Wer Literatur schreiben will, die besser ist als Morgensex,
der muß wirklich früh aufstehen, der muß in jeder Hinsicht aufs
Ganze gehen. Terézia Mora hat immer schon gewußt, daß es sich nicht
lohnt, »weniger als das Maximale zu versuchen«, hat sich nie bequem
eingerichtet auf dem einmal (in ihrem Fall auf Anhieb) erreichten Niveau.
Ebner-Eschenbach hat auch gesagt: »Der Charakter des Künstlers
ernährt oder verzehrt sein Talent.« Im Fall Mora bürgt ein wohlgenährtes
Talent für eine Literatur, die »alles« sagen will und verblüffend
vieles sagen kann, die das Globale angeht, das total Gegenwärtige und
das Zeitlos-Gültige, kurzum: nichts weniger als Weltliteratur. Wer so
schreibt, bewegt sich ein Leben lang auf Messers Schneide, beginnt mit
jedem Buch neu. Über Moras Schreibtisch soll ein Spruch von Péter
Esterházy hängen: »Als hätte es vorher nichts gegeben, neu und herausfordernd,
wie die aufgehende Sonne.«
M wie Melancholie
Alle fünf Bücher sind getränkt mit Melancholie, grundiert mit
Schwärze. Die Kehrseite der Heiterkeit, die Antwort auf grundlosen
Optimismus. Handelt es sich um ein Schwelgen in Schwermut, um
das süße Erdulden des Unvermeidlichen als österreichisch-ungarisches
Erbteil? Die Haltung der Autorin vermittelt eher eine wütende Melancholie,
eine Melancholie am Kippunkt zum Aufbegehren. Flora hinwiederum
ist nicht schwermütig, sondern depressiv. Der Vogel auf der
Schulter, das Ungeheuer, nicht abzuschütteln, nicht zu besiegen. Es gibt
in der Literatur keine hellsichtigere, keine profundere Anamnese einer
Depression als jene, die Mora in ihrer doppelten Buchführung vorlegt,
unter dem Strich, wo Floras geheime ungarische Aufzeichnungen die
verschwiegene Hälfte des Ehelebens nachliefern, herzzerreißend in ihrem
Zuspät, niederschmetternd in ihrem Immerschonvergeblich.
N wie Nahetreten
Ein Zitat als Begründung für das Schreiben: »Weit genug gehen. Das
Leben tritt mir zu nahe, also trete ich dem Leben zu nahe.«
Ö wie Österreich
Oder wie Ödenburg, also Sopron, der Geburtsort, eine Stunde von
Wien entfernt. Terézia Mora hat nicht unbeträchtliche Anstrengungen
unternommen, um sich loszustrampeln, auf und davon zu gehen, nicht
nach Wien – »die provinziellste Großstadt, die ich kenne« –, sondern
gleich nach Berlin, zum Studium, zum Leben. Mitgenommen hat sie
das Gedächtnis der Kindheit und ihre erste Sprache, zwar nicht den
Dialekt, das Kroisbacherische, das sie selbst nie gesprochen hat, aber
das österreichische Deutsch. Es sich wieder auszutreiben, »Gramm«
statt »Deka«, »Pfütze« statt »Lacke«, »Decke« statt »Plafond«, war
so etwas wie die erste Maßnahme auf dem Weg zur Weltliteratur.
Das Österreichische
beweist indes eine tückische Überlebensfähigkeit
in den Sedimenten der exilierten Sprache, bisweilen tritt es unbemerkt
aus und sickert ein in den literarischen Text, verleiht ihm eine
unerwartete Färbung, eine schöne Nuance. Es steht zu vermuten, daß
dies auch für manches Mentalitätsmäßige gilt, für manche literarische
Traditionslinie,
für den Hang zum Ironischen, zu Rhetorik und Spielfreude,
zu düsterem Barock.
P wie Perspektivwirbel
Terézia Mora auf der Höhe ihrer Zeit, auf der Höhe ihrer Kunst, das
bedeutet einen unverwechselbaren, einen schwindelerregenden Umgang
mit der Erzählperspektive. Seit Alle Tage praktiziert sie diese Methode
des sozusagen überfallsartigen Wechsels mitten im Absatz, mehrmals
sogar, ein Wirbel aus erster, zweiter, dritter Person, ein Heranzoomen
an den inneren Monolog, auch im Dialog (dann in Klammern), ein Karussell
der Blickwinkel, ein »Text ohne Werbepause« (ein Ausdruck der
Autorin), bei dem der Leser, wie man in Österreich und vielleicht auch
auf Kroisbacherisch sagt, aufpassen muß wie ein Haftelmacher. Es ist
dies Moras Art, Joyce und Döblin zu lesen, die klassische Moderne ins
21. Jahrhundert zu beamen, dem Reichtum, der Fülle, dem Chaos des
Lebens gerecht zu werden, nein, nicht gerecht zu werden: es zum Sprechen
zu bringen. Wir wissen nicht, wo uns der Kopf steht, und vergessen
auf Moras bohrenden Scharfsinn, ergötzen uns bloß an Beweglichkeit
und Eleganz.
Q wie Querkopf
Wer ein solch spezielles Interesse für Querköpfe hat, der ist vermutlich
selber einer. Vermutlich müssen große Schriftsteller – und Schriftstellerinnen
– Querköpfe sein, Querulanten der Menschenwürde, quer zur
Denkrichtung der Zeit.
R wie Realismus
Der Gottseibeiuns des landläufigen Realismus erscheint Abel Nema
im Fliegenpilzrausch, als Persiflage: »Blablablabla. [...] Ein wahrhaft
targisches Schicksal! Und so relaistisch beschrieben ! Sterzergreifend!
Ich kann’s nicht mehr hören, scheiß neue Lust am Erzählen!« Terézia
Moras Realismus ist von anderer Art, umfassender, gieriger, gründlicher.
Er verlangt nicht die korrekte, sondern die angemessene Sprache,
er verbietet die fromme Lüge. Der Flüchtling heißt Flüchtling, weil er
einer ist. Moras kühn gebaute Prosa als Einübung in das Desolate, in
das Desolate unser aller Existenz. Realismus ist nicht leicht. Büchner
sagt – Sie fragen sich bestimmt längst, wo Büchner bleibt – Büchner
sagt, läßt seinen Lenz sagen: »Die Leute können auch keinen Hundsstall
zeichnen.« Und weiter: »Ich verlange in allem – Leben, Möglichkeit
des Daseins, und dann ist’s gut; wir haben dann nicht zu fragen, ob
es schön, ob es häßlich ist.«
S wie Sätze
Wer außer Terézia Mora traut sich das schon, Band 1 und 2 einer Trilogie
mit demselben Satz oder Satzfragment zu beginnen? (»Sie beugte
sich über ihn, ihre Brüste schwangen nach vorn« usw.) Moras Sätze
sind ehrliche Makler, sie folgen der Verästelung und Zersplitterung des
modernen Bewußtseins, von Glied zu Glied, von Zeichen zu Zeichen,
sie machen sich auf ins Freie, aber manchmal sind sie auch verstörend
schlicht, extrem kurz, Einworthiebe. Sie meiden das Glatte und Gefällige,
das Wohlgesetzte, sie bevorzugen die »schlechten Wörter«, wie Ilse
Aichinger das genannt hat. Die Formel »Es gilt das gesprochene Wort«,
sie steht auch auf diesem Manuskript. Die Formel einer Schriftstellerin
lautet naturgemäß: Es gilt das geschriebene Wort. Oder wie Mora formuliert: »Den Satz gibt es nicht, bevor du ihn nicht hinschreibst.« So
macht die Autorin den Satz, und der Satz macht die Autorin. Sie existiert
in ihren Sätzen. In Alle Tage heißt es: »Einen UNENDLICHEN SATZ
sprechen, das wäre gut, aber ist das nicht zu viel für einen einzelnen Menschen?« Mag sein, doch nichts anderes ist es, was wir ein Werk nennen.
T wie Trotta
Siehe C wie Celan.
U wie Ungarisch
Auch wenn die Autorin Mora sich für das Deutsche als Schreibsprache
entschieden hat, wie man sich unter mehreren Talenten für eine
Sportart entscheidet, in der man am ehesten Weltklasseleistungen zu
erbringen erhofft, auch wenn ihr die Zweitsprache der Kindheit verkümmert
erscheint, ein Relikt aus einer anderen Zeit, einem anderen
System, eingeschlossen wie in Bernstein, so bildet das Ungarische doch
ein unerschöpfliches Reservoir ihrer schöpferischen Phantasie. »Der
geheime Text«, wie sie das genannt hat, ist hineinverwoben in das deutsche
Kleid, das ihr Œuvre trägt; er speist sich auch aus dem, was die
Leserin, die Hungarologin alles kennt, und dank einer Schultradition,
um die wir die Ungarn nur beneiden können, vor allem aus Gedichten
– von Attila Jószef, János Pilinszky, Miklós Radnóti und vielen anderen.
Zum Dank hat Terézia Mora Werke der ungarischen Literatur
von Esterházy bis Zsófia Bán aus dem für uns »geheimen Text« auf
grandiose Weise erlöst.
V wie Vexierbild
Die Menschen, die bei Terézia Mora in den Spiegel schauen, sehen
nicht selten das eigene Bild als ein fremdes. Trug und Betrug im Augenschein: Der alte Mann in der Erzählung Fisch schwimmt, Vogel fliegt
entpuppt sich, von einem jungen Burschen bestohlen, als Marathonläufer.
Als Aliens nehmen einander im grellen Licht plötzlich die jungen
Liebenden wahr, zum Lachen, zum Fürchten. Das Kippbild ist die kongeniale
Figur dieser Literatur: das Rätsel, dessen Lösung auf der Hand
liegt, unsichtbar.
W wie Wut
Muß man es sagen, daß Terézia Mora eine politische Autorin ist? Was
sie schreibt, spricht für sich. Es hat mit Wut zu tun und mit Mut. Sie
zitiert den Dichter-Maler Lajos Kassák: »Kunst hat kein Ziel, sondern
einen Grund.« Als Autorin ist Mora furchtlos, auch gegenüber
der Macht des Ökonomischen. (Der Deutsche Buchpreis für Das Ungeheuer
war keiner, an dem die Buchhändler ihre Freude hatten.)
X wie Xenophilie
Xenophil ist Moras Werk von Grund auf, insofern wir alle Fremde sind,
Aliens füreinander; den »Fremden« sieht man es nur eher an. Unterschicht,
ein häßliches Wort, es verpflichtet zur Suche nach dem einzelnen
Antlitz: »Vielleicht sehen sich die Kinder armer Leute tatsächlich
alle ähnlich. Die wachsamen, aufsässigen, feigen Gesichter. Der Hunger
darin. Die Erde. Ehrgeiz und Schwäche: die Trinkerkombination.« So
steht es in Durst und so in Lenz: »Man [...] senke sich in das Leben des
Geringsten und gebe es wieder, in den Zuckungen, den Andeutungen,
dem ganzen feinen, kaum bemerkten Mienenspiel. [...] Es sind die prosaischsten
Menschen unter der Sonne; aber die Gefühlsader ist in fast
allen Menschen gleich, nur ist die Hülle mehr oder weniger dicht, durch
die sie brechen muß.« Was Büchner fordert, ist in Moras Erzählkunst
bei aller Vertracktheit eingelöst: »man muß die Menschheit lieben, um
in das eigentümliche Wesen jedes einzudringen, es darf einem keiner zu
gering, keiner zu häßlich sein«.
Y wie Yin-Yang
Nicht daß Mora es so mit dem Fernöstlichen hätte. Doch vom Prinzip
des Gegensätzlichen lebt die Spannung in ihrer Literatur: schwach und
stark, passiv und aktiv und, natürlich, weiblich und männlich. War hier
schon davon die Rede, wie präzis und paßgenau Terézia Mora sich in
die männliche Psyche versenkt? Arabeskenreich, aufrichtig sympathisierend,
und doch stets mit einem Hauch bemühter Nachsicht.
Z wie Zitatkunst
Es braucht schon eine selbstbewußte Stimme, um so viele fremde Stimmen
zu zitieren, zu amalgamieren, bauchrednerisch zu verschlucken.
Mitunter auch ihnen den Vortritt zu lassen, ohne sich kleinzumachen.
Es braucht die souveräne Bescheidenheit der Könnerin, die weiß, daß
die Einzigartigkeit ihrer Kunst sich auch der Einzigartigkeit vieler Vorgänger
verdankt. Seltsame Materie des kulturellen Erbes, das sich vermehrt,
je mehr man davon zehrt.