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Literaturpreis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung
Satzung
Präambel
Der Georg-Büchner-Preis, im Jahre 1923 als Staatspreis des Volksstaates Hessen gegründet und nach vorübergehender Ausschaltung von 1933 bis 1945 im Jahre 1946 durch gemeinsame Vereinbarung der Stadt Darmstadt und des Regierungspräsidenten in Darmstadt wieder eingesetzt, wurde bis zum Jahr 1950 als allgemeiner Kulturpreis für hervorragende künstlerische Leistungen verliehen. Am 15. März 1951 wurde er auf Beschluss der bisherigen Beteiligten in einen Literaturpreis umgewandelt und wird seitdem von der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung vergeben.
§ 1
Der Literaturpreis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung trägt zum ehrenden Andenken an den bedeutenden Dichter den Namen Georg-Büchner-Preis.
§2
Für die Verleihung des Preises steht, vorbehaltlich der jeweiligen Zustimmung der Haushaltsgesetzgeber, ab dem Jahr 2013 jährlich ein Betrag in der Höhe von 50.000 Euro zur Verfügung. Die Bundesrepublik Deutschland, das Land Hessen und die Stadt Darmstadt tragen jeweils ein Drittel dieses Betrags.
§3
Der Georg-Büchner-Preis wird jährlich durch die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung an eine Schriftstellerin oder einen Schriftsteller vergeben. Für den Preis können von den Mitgliedern der Jury Schriftstellerinnen und Schriftsteller vorgeschlagen werden, die in deutscher Sprache schreiben, durch ihre Arbeit und Werke in besonderem Maße hervorgetreten sind und die an der Gestaltung des gegenwärtigen deutschen Kulturlebens wesentlichen Anteil haben.
Bewerbungen für den Preis sind nicht möglich.
§4
Über die Verleihung des Preises entscheidet eine Jury. Dieser gehören neben dem Erweiterten Präsidium der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung je ein Vertreter des/der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien, des Hessischen Ministeriums für Wissenschaft und Kunst und des Magistrats der Stadt Darmstadt mit beratender Stimme an.
Der Preis wird in Darmstadt in einer Feierstunde übergeben.
Die vorstehende Satzung wurde im Juli 2023 in Anlehnung an die Satzungen vom 15. März 1951, vom 15. Juli 2002 und vom September 2013 neu gefasst und von den Trägern des Preises gebilligt.
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Schriftstellerin, Drehbuchautorin und Übersetzerin
Geboren 5.2.1971
Mitglied seit 2015
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...ihre eminente Gegenwärtigkeit und lebendige Sprachkunst, die Alltagsidiom und Poesie, Drastik und Zartheit vereint.
Jurymitglieder
Juryvorsitz: Präsident Ernst Osterkamp
Vizepräsidenten: Aris Fioretos, Wolfgang Klein, Monika Rinck, Beisitzer: Elisabeth Edl, László Földényi, Michael Hagner, Dea Loher, Ilma Rakusa, Marisa Siguan
sowie je ein Vertreter der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien, des Landes Hessen und der Stadt Darmstadt
Lieber Freund,
ich schreibe Dir, weil ich wieder einmal sprechen muss. Es ist der
Büchner-Preis, und ich freue mich, aber Preis bedeutet Podium, und
Podium bedeutet, man muss körperlich anwesend sein (meistens jedenfalls),
und man muss etwas sagen, sich also, wie der Ungar sagt, so und
so »ein Gesicht machen«, was viel Gelegenheit für Scham und Fremdscham
bietet. Zum Glück hilft die Sprache auch diesmal gleich weiter.
In »sich ein Gesicht machen« ist »machen« drin, also weißt du, was
zu tun ist. Wie immer, beim Schreiben und auch sonst: Man muss es
machen, so gut es eben geht. Die Form finden, die es einem nicht leichter,
sondern überhaupt möglich macht. In diesem Fall: als wäre es keine
Rede, sondern ein Brief. Wer will, kann das auf Büchner und Wilhelmine
Jaeglé und so weiter beziehen. Im übrigen sind diese Briefe ganz
lesenswert, weil sie nicht für die Nachwelt, sondern an geschätzte Personen
geschrieben worden sind. Natürlich sind auch diese gefiltert, wie
denn auch nicht, aber die Gründe dafür sind mehrheitlich persönlich,
und das ist – das liegt in der Natur der Sache – mit einer verträglicheren
Variante von Scham und Fremdscham verbunden.
Ich für meinen Teil habe bisher nicht mehr als vier Personen Briefe
geschrieben. Erst einem jungen Mann, weil er zu den Soldaten musste
und er wollte dort Briefe von einer Frau erhalten. Ich verstand das, ich
schrieb jede Woche, aber er war nicht zufrieden. Meine »tragisch kurzen« anderthalb Seiten waren ihm zu wenig. Tut mir leid, schrieb ich,
aber mehr ist da nicht. Das war gegen Ende der Diktatur und meiner
Kindheit, als ich anfing, die Welt, in der ich lebte, endgültig als zu eng
zu empfinden, was – wenig überraschend – mit dem Verlust meiner
ersten Sprache einherging.
Zur gleichen Zeit erhielt ich selbst lange, lange Briefe von einer jungen
Frau, der es offenbar anders ging, zumindest schien sie ihre Sprache
nicht verloren zu haben. In langen, langen Briefen schilderte sie das
Leben ihrer Eltern. Ich schilderte daraufhin nicht das Leben meiner
Eltern.
Ich hörte ihr, so gut es ging, zu. (In einem Brief zuhören. Eine
gute Übung für alles mögliche. Auch für künftiges Schreiben.) Sie war
jedenfalls länger damit zufrieden als der junge Mann.
Später schrieb ich noch einmal einem anderen jungen Mann. Ihn
liebte ich und schrieb im Grunde nur darüber, und er hatte auch nicht
viel mehr zu sagen. Gemeinsam zählten wir die Tage: 143 zwischen
unserem ersten Treffen und dem zweiten. Wir lebten damals in noch
streng voneinander abgegrenzten Kleinstaaten wie zwei waschechte
Helden der Romantik. Die Briefe waren mindestens fünf Tage unterwegs.
Wir schrieben sie auf Luftpostpapier, obwohl sie mit dem Zug
fuhren, weil das Porto nach Gewicht berechnet wurde.
Und jetzt schreibe ich Briefe mit Dir, weil wir die Erfahrung gemacht
haben, dass sich so alles leichter zusammenhalten lässt. Natürlich
werde ich Dir auch noch einen echten Oktoberbrief schreiben, der
hier soll mir nur dabei helfen, so einfach wie möglich zu sprechen. Das,
hauptsächlich, habe ich mir vorgenommen. Beziehungsweise: entschieden.
Natürlich darf man auch dabei nicht zu weit gehen. Sich ohne Not
einzuschränken wäre sinnlos und somit lächerlich. Dass ich schreiben
darf, dass die Umstände so sind und dass ich es tatsächlich tue (siehe
auch: mache), bedeutet nichts weniger, als dass ich sein kann, die ich
bin, und das ist ein Punkt, von dem aus es Nonsens wäre, sich selbst
und dem Text gegenüber nicht so aufrichtig zu sein wie nur möglich.
Das ist, wie Du weißt, von großer Wichtigkeit, weil es nicht so anfing.
Es fing so an, dass wir nicht sein sollten, wer wir waren, und nicht
sagen, was wir dachten. Respektive: Es war vollkommen egal, wer wir
waren und was wir dachten. Wir waren Untertanen, die gefälligst ihre
Natur im Zaum zu halten und zu schlucken hatten, was man ihnen vorsetzte,
und man ging nicht davon aus, dass wir unser Gehirn ebenso benutzen
konnten wie die, die Macht besaßen. (Im übrigen: tatsächlich
nicht. In Experimenten malen die, denen man gesagt hat, sie seien zum
Anführer bestimmt, das L für »Leader« spiegelverkehrt auf ihre Stirn,
damit die anderen es schneller lesen können.)
Diese Phase dauerte, gottlob, nur so lange, wie eine durchschnittliche
Kindheit in Friedenszeiten. Gerade als wir volljährig wurden, haben
uns die Staaten, die uns bis dahin festhielten mit eiserner Faust, nicht
frei-, sondern fallengelassen, nicht, weil sie es wollten, sondern, weil sie
nichts mehr wollen konnten, und wir – konnten sehen, wo wir bleiben.
Überspringen wir, durch was für Lücken zwischen zwei Ordnungen
man mit einem ungarischen Abitur Studentin in der neuen BRD werden
konnte. Ich wurde es und fing an, deutsche Literatur nicht mehr in
der Übersetzung, sondern im Original zu lesen. Die ersten Texte, die
mir dabei unterkamen, waren:
Büchners Woyzeck und Schillers Die Räuber. Dazu, der Vollständigkeit
halber, zwei Übersetzungen ins Deutsche: König Ubu und Die
kahle Sängerin. Das war mein Einstand in Berlin. Es hätte schlimmer
kommen können.
Ich dehnte mein dörfliches Kinderdeutsch vom Rand des Sprachgebiets
mit Wörtern aus wie: Schreiße, Kotsack und Bärlappenmehl und:
»Ich bin eine honette Person«.
Ich bin eine honette Person, aber Sie! Und dann noch: Er! »Wenn
ich sag’: Er, so mein’ ich Ihn, Ihn –«
Das hat mich wochenlang beschäftigt. Nicht zuletzt deswegen, weil
ich zur gleichen Zeit, also 154 Jahre nachdem das geschrieben worden
war, mit einem Begleiter in eine der neu gegründeten Videotheken ging
und der Besitzer uns das Procedere mit folgenden Worten erklärte:
»Wenn Er die Kassette nicht rechtzeitig ...« und: »Wenn Er verlängern
möchte ...«. Und ich: »Wieso sprechen Sie so?« Der Mann sah mich
verständnislos an – »Sie macht mich ganz konfus mit Ihrer Antwort« –
und gab keine Erklärung. Meine Vermutung war: Hier suchte auch jemand
nach einer Sprache, die ihn durch diese Übergangszeit bringen
konnte in eine erhoffte, gehobenere Zukunft, aber wer weiß, vielleicht
war es im Jahre 1990 in Berlin-Pankow auch das Alltäglichste, so zu
sprechen, nur ich wusste es nicht. Ich war eine Frischzugezogene, weswegen
ich auch keine Videokassette ausleihen konnte, denn dafür hätte
ich einen Personalausweis vorlegen müssen, den ich nicht besaß. Das
Firmenschild dieser Videothek war im übrigen wie ein Landesaufkleber
für Autos gestaltet, mit einem großen D in der Mitte des Wortes
Video – aber das nur noch am Rande.
Das, im Grunde, ist mein ganzes Leben: ein beinahe pausenloses
Schwelgen in Irritationen: Verstehen und Nichtverstehen und erkanntes
oder bewusstes Missverstehen. Wenn ich zum Beispiel lese: »Er
steht auf seinen Füßen wie ein Löw!« und mir beim ersten wie beim
hundertsten Mal ein Löwe vorm geistigen Auge (was für ein Ausdruck,
auch das!) erscheint, der aufrecht auf seinen Hinterbeinen steht. Dass
sich diese Fehlassoziation so gut hält, hängt damit zusammen, dass sie
so gut passt: so wird der König der Tiere zur Marktattraktion, zur abgerichteten
Kreatur, so fängt er keine Gazelle, so läuft er keinem Jäger
davon, so kann er nicht das sein, wozu ihn die Schöpfung vorgesehen
hat: ein wahrer und lebendiger Löwe. So ist er, was wir hier brauchen:
prätentiös, lächerlich, unfruchtbar.
Der auf den Hinterbeinen balancierende Löwe ist natürlich nicht
Teil von Büchners Woyzeck, aber, gleich neben dem »Er«-Sprechenden
Videothekbesitzer, Teil meines (seltsamen) Materials geworden, und
mit diesem kann ich machen, was ich will. Oder kann. Oder mich traue.
Was mich daran so erfreut, ist, dass mir nicht von Anfang an klar war,
wie gerne ich spiele. Oder, das vielleicht schon, aber nicht, dass ich es irgendwann
tatsächlich würde tun dürfen. Seitdem ich leben darf, wo ich
leben will, und noch mehr seitdem ich schreibe, darf ich spielen, und
das macht mich erst zu einem schönen, freien Menschen.
»Ein schöner, freier Mensch«, so ist es mir eingefallen, so schreibe ich
es auf. Damit mir im nächsten Augenblick einfallen kann: 1. das ist ein
verkleidetes Attila-József-Zitat und 2. dass ich zwar vermieden habe,
die ganzen Artikel, die es anlässlich des Preises gab, zu lesen, resp.: ich
habe vermieden, sie ganz zu lesen, aber ich habe Überschriften gelesen,
und dort stand ein ums andere Mal, dass ich Ausländer und eine Frau
sei, also Ausländerin, und die Preisvergabe an mich deswegen ein Signal.
Und ich dachte, das sei öffentliche Anerkennung jedes Mal. Natürlich
verstehe ich, warum das mit den Ausländern und den Frauen gesagt
werden muss, dass die, die es sagen, Gutes damit wollen, aber Tatsache
ist auch, dass dadurch ein spezielles (um nicht zu sagen: seltsames)
Licht auf den schönen, freien Menschen fällt. Er sieht anders geworden
darin aus, und das ist im eigentlichen Sinne des Wortes: merkwürdig.
Ich weiß, das ist schwierig, und natürlich geht es nicht um Einzelne,
sondern um Teilhabe, darum, wer, was, wie die Rede wert ist – also ist
es wohl richtig, diese Themen wenigstens anzudeuten. Dass niemand,
der kategorisiert wird, ob nun einhergehend mit dem Hervorheben seiner
Verdienste oder dem Gegenteil, sich dabei schön oder frei fühlt, damit
muss der Mensch wohl leben.
Ebenso wie das Mensch.
Auch das habe ich bei Büchner gelernt. Dass es das gibt: das Mensch.
Mehrzahl: die Menscher. Apropos Teilhabe. Da haben wir die nur für
unser Geschlecht gedachte Bezeichnung. In Singular und Plural! Allerdings
steht im Duden, dass diese Bezeichnung »meist abwertend«
gemeint ist. Hm. Weibsbild, Mannsbild, so bezeichnet meine Großmutter
alle Frauen und Männer.
Da fällt mir ein, dass ich beim ersten Lesen dachte, »Zickwölfin«
sei eine gebräuchliche Bezeichnung für eine liederliche (also: gefährliche)
Frau. Und selbst nachdem ich (sogleich) gelernt habe, dass das
ein Nachname ist, lasse ich, wie schon beim balancierenden Löwen, von
der Assoziation nicht ab. Wenn Büchner gewollt hätte, dass wir anders
assoziieren, hätte er Marie Schön und Hold und Rein genannt. Frei
wohl eher nicht. Das war damals noch nicht drin. Wobei Büchner, hält
man sich die Zeit vor Augen, bemerkenswert wenig negative Vorurteile
gegenüber Frauen pflegt. Seine Frauenfiguren sind nicht gerade revolutionär,
aber man kann etwas aus ihnen machen, und zwar ohne sie in
ihr völliges Gegenteil verkehren zu müssen, und das ist gut. Eine gute
Arbeit.
(In Klammern: Gut ist auch, dass ich das in Deutschland und auf
Deutsch sage, denn auf Ungarisch gäbe es dazu ein berühmtes Dichterzitat,
in dem eine gute Arbeit als »Männerarbeit« bezeichnet wird.
Zum Glück kennen wir dieses Zitat hier nicht.)
Ich verbrachte mehr oder weniger meine gesamte Studienzeit mit
Büchner. Eine Weile verfolgte ich sogar den Traum, aus Leonce und
Lena einen Film zu drehen (Videokameras wurden gerade leichter erreichbar; groß und schwer wie vollgepackte Aktenkoffer). Ich lag mit
einem jungen Mann auf einer Matratze auf dem Boden meines Untermietzimmers,
und wir lasen uns vor. Er war ein Leonce mit sächsischem
Akzent und ich eine Lena, die kaum zwei Sätze in einem Zug
vorlesen konnte. Wenn mich jemand aus dem Schlaf klingelte, sprach
ich ihn oft noch auf Ungarisch an. Aus dem Film wurde nichts, denn
abgesehen davon, was uns sonst noch dazu fehlte (alles), ließ ich von
den wortreichen Prinzen und Prinzessinnen wie auch von gerade scheiternden
Revolutionären bald ab, obwohl mir ihre Absurdität und Traurigkeit
gefiel, aber zwischen zwei Sprachen und zwei Lebensaltern stehend
merkte ich: Ich bin dem noch und vielleicht für immer zu fern.
Ich war und fühlte mich den brüchig sprechenden Plebejern näher. Der
junge Mann, der den Leonce sprach, das habe ich vergessen zu erwähnen,
war, außer, dass er Sachse war, auch noch ein ehemaliger Stotterer,
und beides ließ sich nicht vollständig abtrainieren. (Wenn ich bedenke,
hätte es doch eine wunderbare Variante werden können. Ein Leonce,
der so unpassend sprach wie er, eine Lena, die so unpassend sprach wie
ich. Egal. Vorbei. Womöglich ist das, wie so vieles, auch nur in der Erzählung
schön.)
Die schwere Sprache also, das Beinahe-Stottern habe ich als die Materie
erkannt, aus der ich meine eigene Sprache machen würde. Die
brüchige, nach Orientierung suchende Sprache des Woyzeck ist vermutlich
nur so, weil wir es mit einem Fragment zu tun haben, aber für
meine und unsere Zwecke ist das egal. Wir haben es uns so zu eigen
gemacht, weil sich in diesen Spiegelscherben eine Wahrheit zeigte, die
uns gefiel. Der immer gehetzte, von allen betrogene und verwirrte Woyzeck.
Zwischen drei Jobs hechelnd, hat er nichts und niemanden, der
ihm hülfe. Nicht seine eigene Beinahe-Wortlosigkeit und nicht die Bildungszitate,
die seinem Autor gehören, nicht die Lieder und Märchen
seines Kulturkreises – nicht einmal die Stimmen in seinem Kopf sind
auf seiner Seite. (Sind sie das jemals? – Doch, manche sind es. Aber
diese nicht.) Denke ich an ihn, sehe ich ihn in großen Stiefeln vor mir.
Soldatenstiefel, sicherlich, aber ich sehe sie wie riesige Gummistiefel
vor mir, wie sie meine Großväter und Urgroßväter trugen. Zwischendurch
auch sie Soldatenstiefel. Sie haben alle überlebt. Enteignet und
fast vertrieben, aber Letzteres dann doch nicht oder nur teilweise. Sie
lebten nie unter einer guten Regierung, aber sie hätten sich trotzdem
nicht einspannen lassen für einen Krieg gegen die Paläste, sie hätten
zu viel Angst gehabt um das wenige, das sie hatten und das sie selbstverständlich
trotzdem verloren, und man musste sie über die Situation
nicht aufklären, sie wussten, dass es einen Frieden für die Hütten niemals
geben würde. Durch die Hütte, als solche, rollt die ganze Welt. Die
Hütten sind immer offen, auch wenn die Grenzen zu sind. Das ist ein
Wissen, das ich mitgebracht habe, aber auch – und das sehen wir wieder
im Woyzeck – dass die Umstände allein noch nicht reichen, um etwas
tragisch
werden zu lassen. Es ist das, was du tust oder eben nicht tust.
»Bis ich hierher gekommen bin, bin ich doch traurig geworden.«
Selbstzitat. Eigentlich sollte an dieser Stelle, um das vorangegangene
Pathos auszugleichen und die Spannung zu lösen, ein launiger kleiner
Abschnitt über die Barbe folgen. Die Namen der Barbe auf Ungarisch.
Das lief auf eine schöne Pointe hinaus. Ich schrieb sie, sah, dass sie gut
war, und dann: wurde ich traurig. Nicht, dass mich Gelingen oder Heiterkeit
in einem Text generell traurig stimmen würde. Obwohl ich aus
Mitteleuropa zweifellos eher die Melancholie als den grotesken Witz
mitgenommen habe. Beide haben ihren Ursprung in dem Wissen, das
wir alte Europäer miteinander teilen, wonach wir, ob wir nun etwas tun
oder nicht tun, auf jeden Fall einen Preis zahlen werden, den wir als zu
hoch empfinden. Wenn wir Woyzeck, und noch mehr, wenn wir Marie
sind, wird er auch wirklich hoch sein. Aber das macht mich nicht traurig.
Eigentlich bin ich es auch nicht. Eher enttäuscht. Was darauf hindeutet,
dass ich Besseres erwartet hätte. Was ist passiert? Ach, nichts
Besonderes, nur, dass sich in den drei Monaten, seitdem ich diesen Text
angefangen habe, die öffentliche wie die private Rede in eine Richtung
radikalisiert hat, die uns zu Recht »besorgt« (Wort!) sein lässt, und gerade
als ich bei der Barbe angekommen war, gelangte genügend davon
ins Innere, um mich aus dem Takt zu bringen. Was eigentlich eine gute
Sache ist. Dass dich die Realität irritiert, während du Fiktion herstellst,
heißt, dass ihr beide euren Job macht. Ich bin nur etwas mitgenommen
von der Qualität der Irritation. Früher konnte ich sagen: Hetzerisches
Reden findet in Deutschland wenigstens nicht auf Regierungsebene
statt. Das kann ich so nicht mehr. Der Fisch stinkt vom Kopf her,
aber, machen wir uns nichts vor, auch überall anderswo.
Nicht, dass das etwas wäre, das einen überraschen müsste. Es sind
immer alle an Bord und manchmal eben auch auf Deck. Das habe ich
von Katja Lange-Müller gelernt. Die Sätze, die mich hier trösten sollen,
sind: »So sind wir« und »Auch dieses wird vorübergehen«. Beide helfen,
und beide lösen auch wieder Scham aus. Aber vielleicht ist es diese
Scham, die hilft. Erneut: Die Stimmen mögen sagen, was sie sagen, was
du tust oder nicht tust, darauf kommt es am Ende an.
Ich, für meinen Teil, weil ich Schriftstellerin bin, tue solche elitären
Sachen, wie Woyzecks Stiefel in den Roman stellen, den ich gerade
schreibe. Das habe ich schon einmal getan, in Das Ungeheuer, aber
jetzt tue ich es noch einmal. (Zweimal geht.) Als Verbeugung und Datierung,
und um mich daran zu erinnern, dass wir die meiste Zeit mit
Fieber, Mühsal, verlorenen Träumen und Wahnsinn zu tun haben, mit
Abgründen, die uns manchmal, und mit Schaum auf der Welle, der
uns tagtäglich schwindeln macht, aber ab und zu eben auch mit Spiel
und Schönheit. Und dass ich wenigstens Letzteres in der Hand habe,
und dass mich das in meinem Menschsein erhöht. Auch wenn man unglaublich
wenig erreichen kann. Auch + wenn + man + unglaublich
+ wenig + erreichen + kann. Wenn Zusammenfügen nicht hilft, nimm
es auseinander. Das habe ich von Péter Esterházy gelernt. Gegen den,
neben anderen als »linksliberal« verschrienen Künstlern und überhaupt
gegen jede Form von Intellektualität, zur Zeit eine Kampagne in Ungarn
läuft, wonach »wir uns vom Gedanken verabschieden sollten, dass
EP ein guter Schriftsteller war«, denn hier, in seinem Buch Soundso, an
dessen Titel wir uns nicht einmal korrekt erinnern können, »da stehen
doch nur Wörter drin, eins nach dem anderen«. Und wir lachen und
weinen zur gleichen Zeit, denn »nur Wörter, eins nach dem anderen«?
Mehr noch: manchmal sogar eins vor dem anderen. Weinen und lachen.
Wenn Auseinandernehmen nicht hilft, füge es zusammen.
Und erzähle die Sache mit der Barbe doch noch.
Dass nämlich Büchner seine Doktorarbeit über die Barbe schrieb,
und weil das ein Wort ist, das ich in Scrabble legen könnte, ohne zu wissen,
welcher Fisch das ist, habe ich nachgesehen, ob ich es vielleicht
auf
Ungarisch weiß. Die Antwort ist, dass nein. (Dieser Satzbau wiederum
ist ein Čapek-Zitat. Siehe meine fremden Federn! Sind sie nicht
schön?) Márna jedenfalls sagt mir genauso wenig wie Barbe. Aber! Es
gibt für diesen Fisch natürlich auch im Ungarischen mehr als nur eine
Bezeichnung, und wenn man diese Reihe von Namen spiegelübersetzt,
kommt Folgendes heraus: Welskarpfen, Alpenbarbe, Martinsfisch, Marina,
Martinsbrasse, Merenne, Großmarin, Barbenfisch, Rosenfisch,
Rosenbarbe, slowakische Brasse, slowakischer Stör, Judenfisch sowie
slowakischer Judenstör.
Noch einmal: Slowakischer Judenstör.
Sag nicht, da steckte nicht alles über Mitteleuropa drin. Also: über
die Welt des Menschen. Weinen und lachen.
Hier höre ich auf. Romane können lang, Briefe und Reden sollten
höchstens mittelkurz sein. Hja. Das nächste Mal schreibe ich Dir über
den November, also vermutlich über phantastische Tierwesen und Darius
Kopp. Bis dahin halte Dich und fühle Dich gehalten.