Georg-Büchner-Preis

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Literaturpreis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung

Satzung

Präambel

Der Georg-Büchner-Preis, im Jahre 1923 als Staatspreis des Volksstaates Hessen gegründet und nach vorübergehender Ausschaltung von 1933 bis 1945 im Jahre 1946 durch gemeinsame Vereinbarung der Stadt Darmstadt und des Regierungspräsidenten in Darmstadt wieder eingesetzt, wurde bis zum Jahr 1950 als allgemeiner Kulturpreis für hervorragende künstlerische Leistungen verliehen. Am 15. März 1951 wurde er auf Beschluss der bisherigen Beteiligten in einen Literaturpreis umgewandelt und wird seitdem von der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung vergeben.

§ 1

Der Literaturpreis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung trägt zum ehrenden Andenken an den bedeutenden Dichter den Namen Georg-Büchner-Preis.

§2

Für die Verleihung des Preises steht, vorbehaltlich der jeweiligen Zustimmung der Haushaltsgesetzgeber, ab dem Jahr 2013 jährlich ein Betrag in der Höhe von 50.000 Euro zur Verfügung. Die Bundesrepublik Deutschland, das Land Hessen und die Stadt Darmstadt tragen jeweils ein Drittel dieses Betrags.

§3

Der Georg-Büchner-Preis wird jährlich durch die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung an eine Schriftstellerin oder einen Schriftsteller vergeben. Für den Preis können von den Mitgliedern der Jury Schriftstellerinnen und Schriftsteller vorgeschlagen werden, die in deutscher Sprache schreiben, durch ihre Arbeit und Werke in besonderem Maße hervorgetreten sind und die an der Gestaltung des gegenwärtigen deutschen Kulturlebens wesentlichen Anteil haben.

Bewerbungen für den Preis sind nicht möglich.

§4

Über die Verleihung des Preises entscheidet eine Jury. Dieser gehören neben dem Erweiterten Präsidium der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung je ein Vertreter des/der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien, des Hessischen Ministeriums für Wissenschaft und Kunst und des Magistrats der Stadt Darmstadt mit beratender Stimme an.

Der Preis wird in Darmstadt in einer Feierstunde übergeben.

Die vorstehende Satzung wurde im Juli 2023 in Anlehnung an die Satzungen vom 15. März 1951, vom 15. Juli 2002 und vom September 2013 neu gefasst und von den Trägern des Preises gebilligt.

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Hans Erich Nossack

Schriftsteller
Geboren 30.1.1901
Gestorben 2.11.1977
Mitglied seit 1961

... der sich mit den Fragen unserer Zeit eindringlich auseinandergesetzt und sie in gültigen Beispielen dichterisch überzeugend gestaltet hat.

Jurymitglieder
Juryvorsitz: Hermann Kasack
Friedrich Bischoff, Kasimir Edschmid, Hanns W. Eppelsheimer, Adolf Grimme, Rudolf Hagelstange, Wilhelm Lehmann, Fritz Martini und Gerhart Pohl, Rudolf Alexander Schröder (Ehrenpräsident), Fritz Usinger

Laudatio von Hermann Kasack
Schriftsteller, geboren 1896

Es ist mir eine persönliche Freude, die Preisrede auf Hans Erich Nossack zu halten, weil ich schon vor 20 Jahren mit seinen ersten dichterischen Arbeiten bekannt wurde und bei seinem literarischen Erscheinen gleichsam Pate stand. Darüber noch später.
Mit Buchveröffentlichungen ist er erst nach dem zweiten Weltkriege hervorgetreten. Damals war er ein Mann um die Mitte der vierzig. Seitdem sind fünf Romane erschienen, ein Band aufzeichnender Prosa, es gibt Theaterstücke, drei aus dem englischen übersetzte Bücher und den frühen Band der Gedichte von 1947. Spricht man von Nossack, so ist in erster Linie der Prosaschriftsteller gemeint. Er ist nach Ansicht einiger Kritiker durch die Prägnanz seiner Sprache »zu einem der wenigen wichtigen Autoren der deutschen Nachkriegsliteratur geworden«. Anscheinend ist seine Bedeutung in literarischen Kreisen des Auslandes stärker anerkannt als bei uns. Wenn ich an gewisse vorwurfsvolle Rezensionen denke, so bestätigt sich nur, was Oskar Loerke schon vor 50 Jahren notiert hat: »Drollig ist bei vielen Kritikern das Bedauern, daß ein Autor nicht will, wie sie wollen.«
Nun, Nossack hat immer wieder eine fast erbitterte Eigenwilligkeit erkennen lassen, ohne Rücksicht auf Wirkung und Erfolg, so zu schreiben und das zu sagen, was seinem Erlebnis der Wahrheit entspricht. In dem dieser Tage erscheinenden Roman »Nach dem letzten Aufstand« meint er sogar in der Rolle des Herausgebers der Aufzeichnungen, sie hätten »mit dem Niederschreiben vollkommen ihren Zweck erfüllt« und seien nicht darauf »angewiesen, gelesen zu werden«.
Die Frage nach Sinn und Berechtigung des Schreibens in unserer Zeit, eine Frage, die manchen von uns quält, wird in fast allen seinen Büchern aufgeworfen, sie bildet auch den Ausgangspunkt seines eindringlichen als »Fastenpredigt« bezeichneten Aufsatzes über die »Freizeitliteratur«. Einmal läßt er eine seiner Figuren mit glitzernder Ironie sagen: das Schreiben sei »eine Beschäftigung, um nicht vor Langeweile zu verzweifeln... ein Laster«. Und dann der große Ausbruch des Schriftstellers Arno Breckwald in dem Roman »Der jüngere Bruder«: »Denn ob Bücher geschrieben oder gedruckt werden, ganz gleich, ob sie gut oder schlecht sind, das ändert nichts in der Welt... Bücher! Bücher! Manchmal habe ich das Gefühl, daß es ein Verbrechen von uns ist, wenn wir noch Bücher schreiben und nach der Wahrheit suchen. Die sogenannte Wahrheit, die wir in die Welt hinauszuschreien versuchen, ist für euch ein Vitamin, ein Abführmittel oder Luxusartikel.« Aber in einem anderen Buch auch das Bekenntnis: »Nur das Schreiben hat mich gerettet.«
Das Schreiben. Es ist natürlich kein Zufall, wenn er für seine Arbeiten Bezeichnungen wie Roman, Erzählung, Novelle vermeidet und sie ausdrücklich als Bericht, Niederschrift, Aufzeichnung, Protokoll kennzeichnet. Es sind Bestandsaufnahmen des Erlebens. Sein erstes Buch »Nekyia« hat den Untertitel »Bericht eines Überlebenden« und das jetzt erschienene Buch »Nach dem letzten Aufstand« wird ebenfalls als »Ein Bericht« bezeichnet, der auf die bei Nossack immer wiederkehrende Frage, was mit »dieser Fähigkeit zu überleben« anzufangen sei, eine Antwort zu finden sucht. Die Befreiung von der Vergangenheit, sei es durch Überwindung, durch Rückbesinnung, durch Flucht, um zu einem anderen Leben zu gelangen, als notwendige Phase, ein neues Ich in sich zu gewinnen: das ist der Grundgedanke, der in allen Büchern variiert wird. »Ich war ja immer auf der Suche nach irgendetwas, für das ich bestimmt war«, ist eine dieser Formulierungen. In der »Unmöglichen Beweisaufnahme« will ein Mann aus der scheinbaren Gesichertheit in »das Unversicherbare« des Lebens aufbrechen.
Das in leichterem Ton gehaltene Buch »Spätestens im November« enthält den Selbstbericht einer Frau, die aus dem Gewohnten des bürgerlichen Milieus in das Ungewöhnliche, das »Unvorhergesehene« zu fliehen sucht.
Fast immer bedient sich Nossack der gegenwärtig häufig verwandten Ich-Form des Erzählens. Diese Art sichert nicht nur den inneren Monolog, sie erlaubt auch beliebige Vertauschungen des Zeitablaufs, Vor- und Rückblendungen, wobei die Zeit zum Raum, zum Raum der Handlung wird. Der Standort des Autors ist nicht mehr außerhalb oder über den Vorgängen wie bei dem distanzierenden Erzählen in der dritten Person. Nossacks Personen werden, entsprechend ihrer Kontaktarmut, in den Gesprächen vorwiegend durch beherrschende Monologe charakterisiert. In der »Schalttafel« im Bande »Spirale« heißt es einmal: »Er selbst war sein Gegenüber, das er durch diesen Bericht zu überzeugen trachtete, und ich nichts als ein zufälliges Medium.« Bei Nossack handelt es sich um mehr als ein Formproblem: die Aufspaltung des Ich ist ein künstlerisch organischer Vorgang.
Zuweilen ist das erzählende Ich mit der Person des Autors identisch. Etwa in dem Bericht über den »Untergang« Hamburgs, auf den ich noch zurückkomme, auch in der Geschichte »Dorothea«. Meist aber wählt er ein fiktives Ich: in dem »Roman einer schlaflosen Nacht«, der »Spirale«, sogar ein mehrfach transponiertes erzählendes Ich, in »Spätestens im November« die Inkarnation eines weiblichen Ich, im Roman »Der jüngere Bruder« nicht nur den erfundenen Verfasser der Aufzeichnungen (Stefan Schneider), sondern auch ihren vorgeblichen Herausgeber, der im Buch selber eine wichtige Rolle spielt. Dieselbe Methode, auf mehreren Ebenen zu erzählen, wird auch in dem neuen Roman angewandt. Da schreibt ein Münchener Nachtportier seine Erinnerungen aus der Zeit vor dem letzten Aufstand, in die der fiktive Herausgeber der Blätter selbst als junger Mann während der Niederschrift verwoben wird.
Hier wird die Aufspaltung des Ich kompositorisch mit allen Raffinessen der Verschränkung, der Bezüglichkeit und mit allen Möglichkeiten wechselnder Perspektive durchgeführt.
Bei allen Verwandlungen in eine andere scheinbar erzählende Figur tauchen zuweilen persönliche Ansichten des Autors auf. Das wird besonders augenfällig, wenn der gleiche skeptische Gedanke von verschiedenen Personen in verschiedenen Büchern geäußert wird. Etwa die Klage über die Öde zermürbender Nachmittagsstunden oder über die Grausamkeit, von Kindern stets Dankbarkeit zu verlangen usw. Hier, wenn sich Nossacks subjektives Ich in das imaginierte der erzählenden Person einschleicht, könnte man von einer Art romantischer Ironie sprechen.
Wie dem auch sei. In einem seiner schönsten und zugleich aufschlußreichsten Prosastücke, einer Parabel, geht es um einen Fisch, den die Neugier aus dem alten Meer, dessen er überdrüssig geworden ist, in die Richtung zum Unbekannten treibt und an Land wirft. In dieser Parabel »Der Neugierige« gelingt Nossack die »Identitätsmystik« auf doppelte Weise. Einmal dadurch, daß er die Situation des Menschen sich in der Bewußtheitsregion der Fische spiegeln läßt. Zum anderen dadurch, daß er alles Private seiner Person vom Zufälligen ablöst und so einen überpersönlichen Standort bezieht. Hier überzeugt die Transposition des Autors in das imaginierte Ich seiner selbst.
Die Anfangsworte dieses Parabel umreißen die Problematik seines Schaffens: »Ach, wie lange habe ich gebraucht, einen untrüglichen Beweis dafür zu finden, daß ich lebe« – womit gemeint ist, »ein einigermaßen zuverlässiges Dasein« zu gewinnen. Dieses Thema ist bereits in seinem Erstlingsbuch von 1947, »Nekyia«, angeschlagen, das dankenswerterweise jetzt wieder in der Bibliothek Suhrkamp vorliegt (allerdings ohne das damals hilfreiche Nachwort von Hartmann Goertz). In diesem Buch finden sich bereits alle entscheidenden Motive, Vorstellungen, Begriffe und Bilder, die die Skala aller späteren Arbeiten umfassen und seinem Gesamtwerk eine seltene Geschlossenheit geben.
»Nekyia« ist in demselben Jahr wie mein Roman »Die Stadt hinter dem Strom« erschienen. Schon damals hatte Peter de Mendelssohn auf eine, wie er schrieb, »unheimliche, aber keineswegs seltsame«, ihn »jedenfalls keineswegs überraschende Parallelität der Vision« aufmerksam gemacht. Das ist dann wiederholt, unlängst auch in der Deutschland-Nummer einer amerikanischen Zeitschrift vermerkt worden. Die Entsprechungen, die übrigens auch zur »Pest« von Camus bestehen, wurden mit der gemeinsamen Zeiterfahrung und Erlebnisfähigkeit erklärt. Es gibt auch eine einfachere Erklärung, die ich, um literarischer Legendenbildung zu begegnen, preisgeben will.
Bevor ich es aber tue, muß ich zunächst einiges einschieben, mich dabei zugleich einer Methode bedienend, die Nossack in der Erzählweise meisterlich zu handhaben versteht, nämlich vor der Bekanntgabe einer besonderen Wendung eine Verzögerung, ein ritardando einzulegen. Ich deutete schon an, daß ich der erste Mensch vom literarischen Metier gewesen bin, der Manuskripte von Nossack kennengelernt hat. Und das kam so: Nachdem ich im Frühjahr 1941 nach Oskar Loerkes Tod dessen Nachfolge als Lektor des (wie er damals noch hieß) Suhrkamp- vormals S. Fischer-Verlages in Berlin angetreten hatte, erhielt ich Ende des Jahres über Dritte nach vorheriger Anfrage eine Reihe von Gedichten zur Prüfung. Sie stammten von einem völlig unbekannten Mann aus Hamburg, der dort einen kaufmännischen Beruf ausübte und, wie mir mitgeteilt worden war, auch Verse schriebe. Sie waren nur einem kleinen Kreise bekannt, denn er hütete sie ängstlich vor der Öffentlichkeit, und durfte auch nicht wissen, daß mir einige heimlich zugespielt worden waren. Nun kommt einem als Lektor zwar vieles zu Gesicht, was besser nicht geschrieben worden wäre, aber diese Verse erregten meine höchste Aufmerksamkeit, sie überraschten durch einen eindringlich mahnenden Ton. Sie waren liedhaft, aber streng geprägt; sie kreisten um die Einsamkeit des Worts, das den Aufschrei zurückhielt und wie aus Eis geformt schien. In diesen Gedichten sprach mich unmittelbar ein Mensch an, und der Umstand, daß die erste Begegnung mit Hans Erich Nossack durch seine Dichtung zustande kam, sogar ohne sein Wissen und Zutun, ist für unsere spätere Beziehung, zu der sich bald ein Weg ergab, von Bedeutung geblieben. Auch Theaterstücke lernte ich kennen, wohltätig von Barlach inspiriert und autodidaktisch in der Haltung.
Gesehen und gesprochen haben wir uns zum erstenmal im August 1942. Er war nach Berlin gekommen, hatte auch Peter Suhrkamp kennengelernt. Ich konnte dafür sorgen, daß damals einige Gedichte in der »Neuen Rundschau« veröffentlicht wurden, darunter die große Ballade »Das Mädchen spricht zum Tod«. Wenn ich Nossack für die Literatur sozusagen »entdeckt« habe, so habe ich damals nur den Keim für die spätere Verbindung mit dem Suhrkamp-Verlag gelegt, die erst zustande kam, als ich dort nicht mehr tätig war. Der Gedichtband ist (wie auch die beiden ersten Prosabände und das Schauspiel »Die Rotte Kain«) in einem anderen Verlag erschienen.
Im Frühjahr 1943 hatte ich ihn in Hamburg in seiner Wohnung besucht, die Ende Juli mit aller seiner Habe bei dem sich über mehrere Nächte hin erstreckenden Luftbombardement vernichtet wurde. Es war das erste dieser Art, der eine große Stadt zum Opfer fiel, und deshalb besonders erschreckend.
Nossack hat diesen »Untergang« in einer im November 1943 geschriebenen Aufzeichnung für die Nachwelt bewahrt. Sie steht in dem Bande der Prosastücke, die in der ersten Auflage unter dem Titel »Interview mit dem Tode«, in der zweiten unter dem Titel »Dorothea« erschienen ist. Für mein Gefühl hat er mit diesem Bericht »Der Untergang« ein Stück deutscher Prosa geschrieben, das vorbildlich und für lange Zeit gültig ist. Es hält den hohen Vergleich aus mit Stifters Aufzeichnung der »Sonnenfinsternis am 8. Juli 1842«, in der nüchternen Aufrichtigkeit des Sagens und Überlieferns. Vielleicht ist Nossack diese dichterische Aussage so geglückt, weil das Ich des Berichtenden – als Zuschauer – mit dem Ich des Menschen – als Autor – hier ohne Trennung und Überschneidung zusammenfällt.
Dieser Seinsbericht, der jetzt auch als 9. Bändchen der suhrkamp texte wieder vorliegt, enthält zahlreiche Elemente, die nicht nur in der Titelgeschichte des Bandes »Dorothea« deutlich werden, sondern auch in naher Beziehung zu »Nekyia« stehen. Von »Nekyia« besitze ich noch die ersten sechs engbeschriebenen Anfangsseiten der Erstfassung in Maschinenschrift (etwa 20 Seiten der Buchfassung), die er mir gesandt hatte. Damals forderte ich ihn zu einer Art »Wettstreit« auf, denn ich war mitten im Schreiben jener Prosa, die die Stadt der Toten, »Die Stadt hinter dem Strom« zum Gleichnis unserer Zeit nahm. Als er, obdachlos geworden und nur langsam im Begriff, das Leben neu zu beginnen, im Herbst 1943 mit seiner Frau bei uns einige Tage in Potsdam war und ich ihm aus meinem Manuskript vorlas, begriff er, was ich mit dem »Wettstreit« der gemeinsamen Idee gemeint hatte, und wir erneuerten die heitere Abrede. So einfach verhält es sich mit der sogenannten Parallelität.
Nun, jeder ist zu ganz verschiedenen Bildern und Gedanken gelangt. So wird bei Nossack der Aufenthalt der Überlebenden in der Stadt der mit ihren Lebenserinnerungen erfüllten Toten zu einem Opfergang, wie es der Titel »Nekyia« (Totenopfer) schon andeutet. Die als Traum erlebte Wirklichkeit wird zur mythisch-überhöhten Vision. Die Frage des »Gewesenen« als Schuld wird durch das Orest-Motiv zu deuten versucht: der alte Mythos wird zum modernen Gleichnis. »Ich habe diese Vergangenheit«, heißt es, »mag sie gewesen sein, wie sie will, wie ein Gefängnis verlassen.« »Nekyia« – ich wies schon darauf hin – ist Nahrung und Nährboden seines späteren Schaffens.
Auch der jüngere Bruder, um den der gleichnamige Roman von 1958 kreist, spielt bereits in »Nekyia« eine entscheidende Rolle. Er ist es, der den »Überlebenden« »den rechten Weg führt«. Da heißt es: »Ich aber, der ich dich Bruder nenne, weiß nicht für mich einzustehen, ob ich dich erkennen würde, wenn du mir heute oder morgen begegnetest.« Dieser jüngere Bruder – als stellvertretendes Ich – ist eine entscheidende Symbolfigur Nossacks. Ist er schon in »Nekyia« von zentraler Bedeutung – auch in »Dorothea« taucht er auf - so wird er, oder genauer: »das Suchen« nach ihm zum Thema des vorletzten Romans. Wo immer er erscheint, wird er zum vorausgesetzten Gegenpol, aus dem sich die Spannung zum Leben entwickelt, zu einer Lösung zu gelangen sucht und ‒ da es den Idealfall nicht gibt – zum Scheitern führen muß.
Zur Vorstellung des jüngeren Bruders gehört auch die Vision oder besser die allegorische Begriffsbestimmung des Engels. Schon in der »Spirale« ist zunächst sehr prosaisch davon die Rede: »Es gibt sie also. Allerdings hatten sie kein Nachthemd an, auch Flügel hatten sie nicht.« Aber dann die Stelle in »Spätestens im November«: »Ich habe das Gesicht eines Engels gesehen... ich aber konnte es nicht ertragen.«
Im vorletzten Roman setzt Nossack den »Engel« in eine unmittelbare Beziehung zu Carlos Heller, der Inkarnation des »jüngeren Bruders«, von dem eine gleiche sanfte Gewalt ausgehe – und der dann für die Frau Stefan Schneiders zur verkörperten Erscheinung des Todesengels wird, so daß, im großen Bogen gesehen, das Suchen des Stefan Schneider nach Carlos Heller sich als unbewußtes Suchen nach dem Todesengel erweist; was die Paradoxie des grotesken Schlusses bestätigt. Das alles gibt dieser zentralen Symbolfigur eine ins Metaphysisch- Magische gerichtete Bedeutung.
Auch in dem neuen Roman »Nach dem letzten Aufstand« – der nach der Meinung des fiktiven Herausgebers »eine Periode völliger Entmenschlichung gewesen sein muß« – wird der Begriff des Engels leitmotivisch verwandt. Hier wird er mit der Erscheinung eines in der Fremdenlegion vermißten Schulfreundes identifiziert, der im lebensentscheidenden Augenblick wie ein Schutzgeist einwirkt.
»Ich lege keinen Wert darauf«, heißt es einmal, »den Engel einen Engel zu nennen. Auch ohne einen Namen werden die, die ich Engel nenne, bleiben was sie sind, und die Leopoldstraße mitten im Verkehr des Spätnachmittags überschreiten.«
Große Partien des spannungsreichen neuen Romans sind wie »Nekyia« in eine archaische Landschaft gestellt, die mit der modernen Großstadt konfrontiert wird. Der aus aztekischem Ritus bekannte Opfertod eines für kurze Zeit zum Gott erhobenen Jünglings wird in eine unmittelbare imaginäre Vergangenheit gerückt und in den Alterserinnerungen zweier Zeugen jener Vorgänge, dem Nachtportier eines Münchener Hotels und einer großen Schauspielerin, reflektiert. Dabei ist die Auseinandersetzung mit unserer Zeit nicht zu überhören. Als neuer Zug in Nossacks Schaffen weist dieser Roman auch Szenen auf, die nicht nur von Ironie beflügelt sind, sondern eine überraschende Komik entfalten.
Das neue Buch ist mit einer nachtwandlerischen Sicherheit geschrieben. Die Nossacksche Kunst der Verflechtung von Zeiten, Räumen und Figuren in doppelten Rollen, hat hier ihren bisherigen Höhepunkt erreicht. Wenn sich wiederum die Vorgänge auf einer numinosen, irrationalen Ebene abspielen, wären literarische Etiketten wie magischer Realismus, Surrealismus nur formale Behelfsmittel. Durch die Überhöhung der Wirklichkeit sucht er ihren Wahrheitsgehalt zu ermitteln. Das ließe sich von vielen modernen Autoren sagen. Kennzeichnend für Nossack ist die Diktion seiner Sprache. Sie ist, wenn man genauer hinhört, mehr von dem gesprochenen als dem geschrieben empfundenen Wort bestimmt. Sein Schreiben ist ein Sprechen. Damit hängt zusammen, Wesentliches als scheinbar Belangloses wegzuwischen, z.B.: »Ich erwähne das nur, weil –« oder: »so wichtig ist das nicht«. Natürlich steckt in seiner epischen Diktion auch ein starkes dramatisches Element, das ihn immer wieder zu Theaterstücken führt. Sein letztes, vorläufig noch im Manuskript vorliegendes Schauspiel »Ein Sonderfall« ist für das Gesamtbild aus zwei Gründen beachtlich. Einmal, weil sich darin dasselbe vollzieht wie in seinem neuen Roman: daß nämlich die gleichen Personen im augenblicklichen Wechsel der Rede zwei verschiedene Rollen ihres Daseins verkörpern. Dabei wird die Kontaktlosigkeit, die Nossack einmal als »luftleeren Raum« zwischen uns Menschen bezeichnet hat, bis an die Grenze des Absurden demonstriert. Zum andern ist bemerkenswert, daß der Inhalt dieses Schauspiels bereits seit längerem in epischer Skizzierung vorliegt. Schon in einem 1954 in der Zeitschrift »Akzente« veröffentlichen Beitrag »Der Nachruf«, der auch eine variantenreiche Vorstufe zu dem Roman »Der jüngere Bruder« enthält, wird der Plan zu diesem Stück entwickelt. Auch hier geht es um das alte Thema, sich von der Vergangenheit zu befreien, sich von ihr »loszukaufen«.
Wenn ich für den Erzählton seiner Prosa hervorhob, daß sie aus einem Sprechen entstehe, so liegt ihr faszinierender Reiz darin, daß sie ein Anreden bedeutet und ein heimliches Gegenüber voraussetzt. »Ich spreche zu einem Wesen«, heißt es schon eingangs von »Nekyia«, »von dem ich glaube, daß es einmal da sein wird.« Es wäre zu einfach, darunter unmittelbar den künftigen Leser zu verstehen, mag er im übertragenen Sinne zuweilen auch gemeint sein. Dieser Gegenpol, dieses gleichsam aus einer Adamsrippe erschaffene Du, gibt Nossack die ihm legitime Möglichkeit, einem unbekannten Anderen das zu sagen und als Botschaft anzuvertrauen, was er sich selber zuspricht. Alle für ihn bezeichnenden Prosastücke, die kleinen und die großen, haben den Charakter einer Botschaft. Auch der letzte Roman ist so aufzufassen.
Damit schließt sich organisch der Ring einer dichterischen Erscheinung, die ich in ihren charakteristischen Grundzügen kurz zu umreißen versuchte. Mit Absicht habe ich viele Zitate angeführt, um die Einheit der epischen Konzeption zu vergegenwärtigen.
Wenn es immer noch Stimmen gibt, die das Vorhandensein einer nennenswerten deutschen Literatur nach 1945 bezweifeln, so ist Nossack ein gutes Gegenbeispiel. Nicht er allein. Auch die Träger des Georg-Büchner-Preises der letzten Jahre und andere Autoren legen davon Zeugnis ab. Wir sahen, daß bei Nossack das Verhalten zu der Wahrheit zu einem Seinsvorgang wird. Er macht dem Leser keine Illusionen vor, er gibt ihm kein Lebensrezept. Was er schreibt, gilt als Beispiel und Gleichnis für den Sinn seiner und unserer Existenz.
Wir grüßen Hans Erich Nossack: er wird nicht aufhören, das, was ihm fragwürdig erscheint, in Frage zu stellen und Warnzeichen zu geben. Lassen Sie mich mit zwei Gedichtzeilen schließen, die sein Grundthema im Generalbaß enthalten:

»Bereit zu leben wie am Rand der Welt,
such ich und frage, was mich aufrecht hält.«