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Literaturpreis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung
Satzung
Präambel
Der Georg-Büchner-Preis, im Jahre 1923 als Staatspreis des Volksstaates Hessen gegründet und nach vorübergehender Ausschaltung von 1933 bis 1945 im Jahre 1946 durch gemeinsame Vereinbarung der Stadt Darmstadt und des Regierungspräsidenten in Darmstadt wieder eingesetzt, wurde bis zum Jahr 1950 als allgemeiner Kulturpreis für hervorragende künstlerische Leistungen verliehen. Am 15. März 1951 wurde er auf Beschluss der bisherigen Beteiligten in einen Literaturpreis umgewandelt und wird seitdem von der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung vergeben.
§ 1
Der Literaturpreis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung trägt zum ehrenden Andenken an den bedeutenden Dichter den Namen Georg-Büchner-Preis.
§2
Für die Verleihung des Preises steht, vorbehaltlich der jeweiligen Zustimmung der Haushaltsgesetzgeber, ab dem Jahr 2013 jährlich ein Betrag in der Höhe von 50.000 Euro zur Verfügung. Die Bundesrepublik Deutschland, das Land Hessen und die Stadt Darmstadt tragen jeweils ein Drittel dieses Betrags.
§3
Der Georg-Büchner-Preis wird jährlich durch die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung an eine Schriftstellerin oder einen Schriftsteller vergeben. Für den Preis können von den Mitgliedern der Jury Schriftstellerinnen und Schriftsteller vorgeschlagen werden, die in deutscher Sprache schreiben, durch ihre Arbeit und Werke in besonderem Maße hervorgetreten sind und die an der Gestaltung des gegenwärtigen deutschen Kulturlebens wesentlichen Anteil haben.
Bewerbungen für den Preis sind nicht möglich.
§4
Über die Verleihung des Preises entscheidet eine Jury. Dieser gehören neben dem Erweiterten Präsidium der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung je ein Vertreter des/der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien, des Hessischen Ministeriums für Wissenschaft und Kunst und des Magistrats der Stadt Darmstadt mit beratender Stimme an.
Der Preis wird in Darmstadt in einer Feierstunde übergeben.
Die vorstehende Satzung wurde im Juli 2023 in Anlehnung an die Satzungen vom 15. März 1951, vom 15. Juli 2002 und vom September 2013 neu gefasst und von den Trägern des Preises gebilligt.
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Georg-Büchner-Preis 2024 an Oswald Egger
Mit Oswald Egger zeichnet die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung einen Schriftsteller aus, der seit seiner ersten Veröffentlichung im Jahre 1993 die Grenzen der Literaturproduktion überschreitet und erweitert. Er arbeitet an einem Werkkontinuum, das Sprache als Bewegung, als Klang, als Textur, als Bild, als Performance begreift...
Der Preis wird am 2. November 2024 im Staatstheater Darmstadt verliehen. Die Veranstaltung ist öffentlich. Eintrittskarten können über das Staatstheater Darmstadt erworben werden. Der Vorverkauf beginnt circa 3 Wochen vorher. Wir informieren Sie gern über unseren Newsletter.
Die Jury wird gebildet aus dem Erweiterten Präsidium der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung und je einem Vertreter, einer Vertreterin des/der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien, des Hessischen Ministeriums für Wissenschaft und Kunst und des Magistrats der Stadt Darmstadt mit beratender Stimme.
Aktuelle Besetzung des Erweiterten Präsidiums: Ingo Schulze, Rita Franceschini, Olga Martynova, Lothar Müller, Lukas Bärfuss, Maja Haderlap, Felicitas Hoppe, Joachim Kalka, Daniela Strigl, Michael Walter.
Schriftsteller
Geboren 30.1.1901
Gestorben 2.11.1977
Mitglied seit 1961
... der sich mit den Fragen unserer Zeit eindringlich auseinandergesetzt und sie in gültigen Beispielen dichterisch überzeugend gestaltet hat.
Jurymitglieder
Juryvorsitz: Hermann Kasack
Friedrich Bischoff, Kasimir Edschmid, Hanns W. Eppelsheimer, Adolf Grimme, Rudolf Hagelstange, Wilhelm Lehmann, Fritz Martini und Gerhart Pohl, Rudolf Alexander Schröder (Ehrenpräsident), Fritz Usinger
Dankrede
Die Ehrung, die mir hier zuteil geworden ist, rührt mich in dreifacher Weise. Es ist das erste Mal, daß mir ein offizieller Preis zugesprochen wurde; ich bin also noch nicht abgestumpft. Zweitens, daß ich ihn aus den Händen dessen empfange, der mich vor ziemlich genau zwanzig Jahren entdeckt hat, als das Entdecken und Entdecktwerden etwas Vergebliches war, aus den Händen von Hermann Kasack. Diese Vergeblichkeit und das damit verbundene Trotzdem hat beinahe Symbolcharakter. Und drittens, weil der Preis den Namen Georg Büchners trägt.
Wie alle, die meiner Generation angehören, habe ich mich einmal sehr intensiv mit der Büchnerzeit befaßt. Etwa 1935 schrieb ich ein Theaterstück »Der Hessische Landbote«. Wie der Titel sagt, ging es nicht um die Person Büchners, sondern um die Auflehnung der Jugend gegen Diktatur und Restauration. Aus der Entfernung heraus möchte ich, was mich betrifft, das Schreiben des Stückes einen Akt der résistance nennen. Die geschichtlichen Parallelen boten und bieten sich wie von selber an; man ist versucht, von einem spezifisch deutschen Schicksal zu sprechen. Denken wir nur an die Hauptpersonen: Büchner lehnt sich aus humanistisch-fortschrittlichen und Rektor Weidig aus religiösen Gründen auf. Oder denken wir an August Becker, den »roten« Becker, den revolutionären Aktivisten, vermutlich mit dem illegalen Blick, wie wir ihn alle kennen. Und von der Gegenseite brauchen wir nur einen so reinen Gestapotyp wie Georgi zu erwähnen, den bürokratischen Henker, der im deutschen Kleinbürger auf der Lauer zu liegen scheint. Die Namen lassen sich unschwer mit Namen aus der jüngsten Vergangenheit auswechseln.
Das Manuskript ist mir mit meinen anderen Sachen verbrannt und damit gut. Aber zwei Sätze daraus sind mir so lebendig geblieben, daß sie mir auch heute noch zu schaffen machen. Der eine Satz stammt von mir. Ich ließ ihn Büchner zu einem Gießener Professor sagen, der ihm seine bevorstehende Verhaftung mitteilt. Der Satz lautet: »Es fehlt uns ganz an alten Leuten.« Er müßte mit einem sehr leisen, beschwörenden Unterton gesprochen werden. Ich bilde mir auch jetzt noch ein, daß Büchner diesen Satz gesprochen haben könnte oder ihn heute gesprochen hätte, wenn ihm das Wehgeschrei über Jugendkriminalität und Halbstarkenkrawalle zu Ohren gekommen wäre.
Unserer Zeit scheint es nicht an alten Leuten zu fehlen; sie nimmt ja sogar die Bezeichnung Gerontokratie für sich in Anspruch. Gemeint war jedoch in dem Stück nicht Lebensalter, sondern das Vorbild. Für die Richtigkeit des Satzes bekam ich damals, im Jahre 1935, auch sofort einen Beweis. Ich las das Stück in einem kleinen, vorsichtig ausgesuchten Kreis vor. Unter den Zuhörern befand sich mein ehemaliger Klassenlehrer aus dem Gymnasium, ein ausgezeichneter Literat übrigens, dem ich viel zu verdanken habe. Nach der Lektüre bemerkte er zu mir: »Sie sollten endlich das Revolutionäre lassen.« Möglicherweise war das als rein literarische Kritik gedacht, dann wäre nichts dagegen einzuwenden. Aber in der gefährlichen Situation, in der wir uns alle befanden, machte das Wort mich sehr betroffen. Denn was ist das eigentlich, das Revolutionäre? Doch nicht die Sucht nach Umsturz und Barrikaden. Nicht ein vager Freiheitsdrang junger Menschen. Davor muß im Gegenteil gewarnt werden, da die Erfahrung lehrt, daß unbefriedigte Abenteuerlust von jeher von Diktatoren aller Schattierungen für ihre Zwecke ausgenutzt wurde. Das eigentlich Revolutionäre besteht doch wohl für alle Zeiten darin, daß der Einzelne sich genau der Grenze bewußt ist, wo das Unrecht beginnt, und an dieser Grenze haltmacht und Nein sagt. Wenn junge Menschen sich auf dies positive Nein nicht mehr verlassen können, gerät die Welt ins Taumeln.
Daß es in dieser Hinsicht in Büchners und unseren dreißiger Jahren an alten Leuten gefehlt hat, wissen wir; die Rechnung haben wir bezahlen müssen. Und heute? Vor kurzem hörte ich einen Achtzehnjährigen mit Emphase verkünden: »Ich kann die Juden nicht leiden.« Seinen Jahren nach hatte der Knabe noch nie etwas mit einem Juden zu tun gehabt, um von seinem Urteilsvermögen ganz zu schweigen. Woher also die gefährliche Dummheit? Seine Eltern waren alles andere als böse Menschen, sondern braver, akademisch gebildeter Durchschnitt. Doch wenn man das Mikroskop schärfer einstellte, kam es zutage. Sie waren Mitläufer gewesen und hatten Bequemlichkeiten und unechtes Ansehen vom Mitlaufen gehabt. Das ist nur eine winzige Anekdote. Dabei geht es nicht um Antisemitismus oder Nazismus, es geht ums Mitläufertum, diesen feigen, gedankenlosen Schlendrian, der dem Unrecht erst zur Macht verhilft, da er es als das kleinere Übel hinnimmt. Der Begriff Opportunismus ist sogar noch viel zu schade dafür, da er ein gewisses Maß an egoistischer Entscheidungsfähigkeit voraussetzt. Haben wir nämlich zwischen den Prädikaten »schuldig«, »unschuldig« und »schuldlos« zu wählen, so trifft keines für den Mitläufer zu. Von ihm müßte es heißen »unfähig zur Schuld«, das Verächtlichste, was sich von einem Menschen sagen läßt. Verzeihen Sie, daß ich von solchen Dingen spreche, die anscheinend nichts mit Büchern zu tun haben. Ich möchte, solange es von mir abhängt, nicht zu den alten Leuten gehören, an denen es vielleicht fehlt.
Der zweite Satz stammt nicht von mir und ist sehr viel wichtiger. Das Stück begann in nicht sehr bühnenwirksamer Weise damit, daß Büchner allein in seinem Zimmer in Straßburg sitzt und schreibt: »Am folgenden Morgen traf Lenz in Straßburg ein. Er schien ganz vernünftig, sprach mit den Leuten. Er tat alles, wie es die anderen taten; es war aber eine entsetzliche Leere in ihm, er fühlte keine Angst mehr, kein Verlangen, sein Dasein war ihm eine notwendige Last. – So lebte er hin...« In diesem Augenblick tritt ein Kommilitone ins Zimmer mit der Nachricht von dem Sturm auf die Frankfurter Hauptwache. Ich wollte wohl mit der Szene motivieren, warum Büchner in die Aktion aufbrach und zugleich, warum die Erzählung »Lenz« Fragment blieb. Aber das war falsch; der »Lenz« ist nach dem Scheitern des Aufstandsversuches geschrieben und außerdem ist er kein Fragment. Der Satz »So lebte er hin« ist der endgültigste Abschluß, der sich denken läßt.
Diese vor hundertdreißig Jahren gesprochenen Sätze kann man auch heute auf der Straße gebrauchen, ohne altmodisch zu wirken. Das ist sehr selten in unserer Literatur. Die Erklärung dafür ist, daß bei Büchner Situation und Mitteilung, Erlebnis und Wiedergabe in eins zusammenfallen. Wir haben die nackte Situation selber, die jeder Metapher und jedes deutenden Bildes entraten kann, ja, sogar dadurch verfälscht würde. Die höchste Form der Prosa, die sich erreichen läßt. Eine Prosa, in der jedes kleine Wort, jedes Komma, jeder Atemzug ein Faktum ist. Eine ahistorische Prosa und allein geeignet, die Wahrheit zu sagen. Eine Prosa, um die wir uns bemühen sollten, ohne Rücksicht darauf, daß sie sich von dem Sprachgebrauch, der in Politik, Wirtschaft und Presse üblich ist, so weit entfernt, daß nicht einmal eine literarische Akademie mehr in der Lage sein wird, ein Übersetzungslexikon herzustellen, das eine oberflächliche Verständigung ermöglicht. Vokabeln und Satzform ließen sich allenfalls erlernen, aber da es ganz an dem Erlebnis fehlt, für das sie gültig sind, klänge es so dürr und schmerzhaft, daß man sich schleunigst nach einer rettenden Phrase umsehen müßte. Die nämlich, die nicht ihr eigenes Leben leben, sondern das eines soziologischen Modells, werden sofort einwenden: Wieso? Er scheint ganz vernünftig, er spricht mit den Leuten. Er tut alles, wie es die anderen tun. Er fühlt keine Angst mehr, kein Verlangen. Was will er denn mehr? Das ist doch das Höchste, was sich erreichen läßt. Was soll das Gerede von der entsetzlichen Leere? Und was diesen euren Büchner betrifft: Er hat doch seinen Doktor gemacht. Damit ist alles vergeben und vergessen. Der Typhus ist natürlich Pech. Heute haben wir gottlob Mittel dagegen. Büchner hätte seine Mina heiraten können. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute. So hin.
Man pflegt uns Intellektuelle, wenn wir nicht »so hin« leben wollen, Nihilisten zu nennen. Auch Büchner gebührt dieser Ehrentitel. Der letzte Absatz des »Lenz« ist die erschütterndste Anklage des Menschen gegen den Nihilismus als Endzustand, gegen ein versicherbares So-hin-Leben, ohne Angst, ohne Verlangen. Ich möchte Sie warnen, meine Damen und Herren, die Büchnerschen Sätze vor dem Schlafengehen zu denken. Dann ist es aus mit dem Schlaf.
Lassen Sie uns überlegen, wie Büchner dazu kam, um herauszufinden, was uns daran so sehr beunruhigt. Ähnliche Äußerungen hört man mehrfach bei ihm. So im »Danton«, und da nicht einmal so deutlich in den Reden gegen den Dogmatiker Robespierre, wie etwa in solchen Nebenbemerkungen: »Das ist sehr langweilig, immer das Hemd zuerst und dann die Hosen drüber zu ziehen und des abends ins Bett und morgens wieder heraus zu kriechen...; da ist kein Absehen, wie es anders werden soll... Und daß Millionen es schon so gemacht haben, und daß Millionen es wieder so machen werden... das ist sehr traurig.« Oder wir hören »Leonce«, der dreihundertfünfundsechzigmal auf den Stein spuckt, fragen: »Haben Sie das noch nicht probiert? Tun Sie es, es gewährt eine ganz eigene Unterhaltung.« Auch gibt es zahlreiche Briefstellen dieser Art, obwohl zu bedenken sein wird, daß in den Briefen manches zur Beruhigung der Eltern oder um die Zensur irrezuführen geschrieben sein mag. Man könnte also diese Gestimmtheit mit »ennui«, der Jahrhundertkrankheit, erklären oder auch von Byronismus oder romantischer Anarchie reden. Aber dagegen steht, daß wir es mit einem Mann zu tun haben, der so modern-statistisch zu argumentieren verstand, wie es der »Hessische Landbote« zeigt; der so empirisch-exakt vorging, wie es die Abhandlung über die Schädelnerven der Fische beweist; der so illusionslos-nüchtern über Politik und Revolution dachte, wie aus seiner Geringschätzung des bürgerlichen Liberalismus als Kampfwert hervorgeht. Es sei hier nur an die Briefstelle erinnert, in der es heißt: »Und die große Klasse? Für sie gibt es nur zwei Hebel: materielles Elend und religiöser Fanatismus. Jede Partei, welche diese Hebel anzusetzen versteht, wird siegen.« Eine Feststellung von absoluter Gültigkeit, will uns scheinen, die wir gebrannte Kinder sind, aber an Kaltschnäuzigkeit kaum zu überbieten. Man meint geradezu, einen heutigen Werbefachmann oder Propagandisten denken zu hören; denn laut darf man dergleichen nicht sagen, wenn man als demokratisch gelten will.
Wie reimt sich eine so inhumane Distanziertheit auf Sätze wie: »Es war aber eine entsetzliche Leere in ihm, er fühlte keine Angst mehr, kein Verlangen, sein Dasein war ihm eine notwendige Last«? Sätze, mit denen nicht etwa ein klinischer Fall von Schizophrenie geschildert werden soll, denn dann wären sie höchstens interessant, würden uns aber nicht mehr direkt erreichen.
Büchner lebte zur Zeit des beginnenden bürgerlichen Optimismus. Ausgerechnet sein Bruder schrieb ein Jahrzehnt später das weit über die Grenzen hinaus vielgelesene Buch »Kraft und Stoff«. In demselben bürgerlichen Bett sind dann, ganz gleich ob legitim oder illegitim, »Das Kapital« von Marx und noch ein paar Jahrzehnte später »Die Welträtsel« von Haeckel gezeugt. Was wir technisch, sozial und wirtschaftlich erreicht haben, ist diesem bürgerlichen Nützlichkeitsdenken zu verdanken, dessen naive Kraft darin lag, daß ihm der Zweifel an sich selbst versagt war. Das hat zu zwei Weltkriegen geführt und man ist schon fleißig dabei, das Ergebnis eines dritten zu errechnen. Der bürgerlichen Herkunft schämt man sich zwar und versucht sie dialektisch fortzuzaubern, aber das Erbgut läßt sich nicht verleugnen, denn gerade die Dialektik ist eine bürgerliche Methode. Daher die Luftleere unseres Daseins, die grauenhafte Antiquiertheit aller Dogmen und sogenannter Ideologien, nach denen wir leben sollen, obwohl sie schon nicht mehr zu uns passen. Denn ein Rest von »Angst« und »Verlangen« hat sich immer noch nicht ausrotten lassen und kann jederzeit wieder virulent werden.
Auch die historisch-materialistische Erklärungsweise ist rein bürgerlicher Provenienz; Büchner gegenüber versagt sie völlig. Indem sie uns das oberflächlich Interessante geschichtlicher Umstände deutet, mit erhobenem Zeigefinger, verstellt sie uns den Blick auf das Menschliche. Man redet vom Sozialen, weil man das Tragische nicht wahr haben will, von der Gesellschaft, statt vom Leben; man vertauscht Mittel und Zweck. Und man bemerkt dabei nicht, daß man sich damit des Verhaltens schuldig macht, das Büchner im »Woyzeck« und musikalisch aufgelöst in »Leonce und Lena« persifliert und anprangert. Wäre »Woyzeck« nichts als eine soziale Anklage, würde uns das Stück nicht mehr wehtun; es wäre nur historisch oder literaturwissenschaftlich interessant wie etwa die Dramen von Ibsen, deren Problematik nicht mehr die unsere ist. »Woyzeck« ist aber eine höchst lästige Anklage gegen das Nützlichkeitsdenken, gegen das Gesellschaftliche als Endziel, gegen die Diktatur der Norm und des als praktisch propagierten Modells. »Woyzeck« ist die Tragödie der Kreatur, die an der Abstraktion zugrunde geht, die Tragödie des Menschen, dem es nicht gelingt, »alles zu tun, wie es die anderen tun«.
Unsere Tragödie, meine Damen und Herren. Nur daß das Wort ein wenig hochgegriffen ist und bescheidener von der Absurdität unseres Zustands gesprochen werden muß. Das erschreckend Hellsichtige bei Büchner – so erschreckend, daß man sich über seinen frühen Tod nicht wundert – ist, daß er den Zustand vorausahnte, der nach dem Sieg der Sache eintreten würde, für die er wie jeder anständige Intellektuelle auf die Barrikaden zu gehen bereit war: die Herrschaft des Funktionellen. Die beiden Hebel »materielles Elend« und »religiöser Fanatismus« sind inzwischen sattsam angesetzt worden. Das materielle Elend ist, zumindestens bei uns im Westen, weitgehend beseitigt. Des zweiten Hebels, wenn auch mit veränderlichen Vorzeichen, bedient man sich immer noch. Man könnte zum Beispiel von Fanatismus einer versicherbaren, verantwortungsfreien Wohlfahrt reden. Schon das Wort Hebel sollte uns eigentlich stutzig machen und zur Auflehnung veranlassen. Was liegt mir daran, brauchbar zu sein? Für wen bitte? Für was? Wenn wir nämlich die Menschheit einmal ganz grob in Christen und Marxisten einteilten, was natürlich nicht stimmt, ließe sich behaupten, daß eine Koexistenz kein Problem sein dürfte. Leider jedoch gibt es weder Christen noch Marxisten, und wenn sich noch welche finden sollten, wird man sie als Ketzer oder Neurotiker abtun. Stattdessen gibt es nur nach dem jeweiligen Hebel funktionierende Funktionäre. Überzeugungen werden stets einander achten, aber Klischees müssen sich gegenseitig totschlagen, aus Konkurrenzgründen und um ihre Daseinsberechtigung zu beweisen.
Das Revolutionäre an Büchner liegt darin, daß er über die soziale Revolution hinausging und von der Revolution sprach, die durchzuführen die Aufgabe der nächsten Jahrhunderte sein wird: Die Auflehnung des Menschen gegen die Abstraktion. Ich bekenne ganz offen, daß ich diese Revolution nicht für aussichtslos halte. Insofern bin ich Optimist. Um mich paradoxerweise eines materialistischen Arguments zu bedienen: ich glaube, daß der Rückfall ins Ameisenhafte einem biologischen Gesetz widerspricht. Ich glaube auch, daß die Revolution längst im Gange ist.
Ihre Wirkung, soweit schon davon die Rede sein kann, läßt sich freilich noch nicht feststellen, höchstens an einer gewissen Ratlosigkeit der Nützlichkeitsdenker und den sich immer rascher überschlagenden Systemänderungen, mit denen gewaltsam technisiert werden soll, was sich nicht technisieren läßt. Denn seien wir uns darüber klar: es handelt sich um keine laute, propagandistische Revolution, sondern um eine sehr leise und einsame. Man kann das Funktionelle nicht durch Funktionelles bekämpfen. Man muß die Lautsprecher ins Leere schreien lassen. Bedenken wir doch einmal folgendes: sämtliche Parteidoktrinen, Glaubenslehren, Soziologien, Handelskammern und Gesundheitsämter sind sich komischerweise trotz aller Todfeindschaft von jeher in einem Punkte einig: daß es nichts Verbietenswerteres gibt als das Alleinsein-Wollen. Welch eine revolutionierende Kraft muß also darin liegen, wenn alle Welt sich bemüht, sie dem Menschen auszureden oder zu verschweigen.
Doch wir befinden uns hier in einer literarischen Akademie, und ich bin Literat. Beschränken wir uns also auf Literatur. Das furchtbare Wort: »Er tat alles, wie es die anderen taten« wird auf keinen Fall eine Aufforderung sein, es um jeden Preis anders zu tun als alle. Das würde nur zu jenem gewollten Avantgardismus führen, von dem es längst kein Geheimnis mehr ist, daß es sich um einen amüsanten Purzelbaum des Konformismus handelt, um einen luxuriösen Zeitvertreib, den sich das Kollektiv nach Feierabend leisten darf, eine kunstgewerbliche Vortäuschung von Auflehnung. Von allen Machthabern wohlwollend geduldet und sogar gefördert, weil es dem So-hin-Leben der Masse dient. Taktlose Grenzüberschreitungen lassen sich jederzeit leicht regulieren. Sollte sich wirklich einmal eine Stimme vernehmen lassen, die zu sagen wagt: »In mir ist eine entsetzliche Leere«, kann man sie durch mittelalterliche Maßnahmen zum Schweigen bringen, z. B. durch einen Gotteslästerungsprozeß. Doch beleidigen wir das Mittelalter nicht. Was den Menschen damals selbstverständlich und Voraussetzung des Lebens war, verlangen wir von sinnentleerten Vorschriften.
Die tiefe Verachtung, in der die Literatur heute steht, indem man sie entweder als ungefährlichen Zeitvertreib betrachtet oder sie mit hohen Lobesworten bedenkt, wenn sie sich für machtpolitische Zwecke mißbrauchen läßt, ist so kränkend, daß jeder Literat sich fragen muß, ob das Schreiben überhaupt noch Sinn hat. Die Frage ist natürlich falsch gestellt. Auch die Literatur ist einer dialektischen Begriffsvertauschung zum Opfer gefallen. Was ich damit meine, hat Alfred Wolfenstein, ein Expressionist, schon 1915 am besten ausgedrückt, als er schrieb: »Als Gespenster standen auf solcher Tribüne alle, deren Technik in den Büchern glänzt; die heute so zahlreichen, die, von allen Kanälen gespeist, mehr können als sie sind.« Das Können ist heute so groß, daß jede Kritik davor verstummen muß. Aber das Können ist für den Künstler nie etwas anderes gewesen als Mittel und Voraussetzung der Darstellung. Das Können als Zweck jedoch führt zur Perfektion und Perfektion ist ein Abstraktum und etwas völlig Inhumanes. Es gibt kein perfektionistisches Kunstwerk, das wäre eine leblose Konstruktion. Ein Musikstück, das perfektionistisch wiedergegeben wird, hört auf Musik zu sein. Denn das Lebendige und Fortzeugende eines Kunstwerkes erreicht uns nur über die Interferenzen, über die mühsam beherrschten Abweichungen, über die winzigen menschlichen Atempausen.
Trotzdem: wir brauchen uns keinem Pessimismus hinzugeben. Meine Hoffnung gründet sich auf den monologischen Charakter der heutigen Literatur. Ich sehe darin einen Versuch, das gesprochene oder geschriebene Wort wieder zu vermenschlichen, indem es für den, der es spricht, verbindlich wird, für ihn allein. In dem Verzicht auf Wahrheiten, die sich für den Tagesbedarf verwenden lassen, sehe ich ein Bemühen um die eigene Wahrheit, mit der sich nicht »so hin« leben läßt. Den Funktionalisten paßt das nicht und sie nennen es Kontaktarmut. Lassen wir uns nicht dadurch beirren. Denken wir realistisch. Die eigene Wahrheit ist im heutigen Weltzustand die einzige Wirklichkeit. Sich zu ihr zu bekennen ist eine revolutionäre Tat. Was von der Literatur unserer Tage übrig bleiben wird, kann nur Monolog sein. Weil der Monolog genau der Situation des im Dickicht abstrakter Wahrheiten verlorenen Menschen entspricht. Aber ist das nicht immer so gewesen? Ist nicht alles, was über die Zeiten hinweg lebendig an unser Ohr dringt, Monolog? Sollte die Größe des Menschen in seiner Einsamkeit liegen?
Mögen das Berufenere entscheiden. Wir haben hier in der Akademie ein in Deutschland fast einzigartiges Forum, wo man den Versuch wagen darf, die eigene Wahrheit preiszugeben, wo man monologisieren darf. Dafür müssen wir dankbar sein. Ihnen aber, meine Damen und Herren, danke ich, daß Sie meinem Monolog zugehört haben. Und der Stadt Darmstadt und dem Lande Hessen habe ich dafür zu danken, daß sie mich in die Lage versetzen, weiter nach meiner Wahrheit zu suchen.