Georg-Büchner-Preis

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Literaturpreis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung

Satzung

Präambel

Der Georg-Büchner-Preis, im Jahre 1923 als Staatspreis des Volksstaates Hessen gegründet und nach vorübergehender Ausschaltung von 1933 bis 1945 im Jahre 1946 durch gemeinsame Vereinbarung der Stadt Darmstadt und des Regierungspräsidenten in Darmstadt wieder eingesetzt, wurde bis zum Jahr 1950 als allgemeiner Kulturpreis für hervorragende künstlerische Leistungen verliehen. Am 15. März 1951 wurde er auf Beschluss der bisherigen Beteiligten in einen Literaturpreis umgewandelt und wird seitdem von der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung vergeben.

§ 1

Der Literaturpreis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung trägt zum ehrenden Andenken an den bedeutenden Dichter den Namen Georg-Büchner-Preis.

§2

Für die Verleihung des Preises steht, vorbehaltlich der jeweiligen Zustimmung der Haushaltsgesetzgeber, ab dem Jahr 2013 jährlich ein Betrag in der Höhe von 50.000 Euro zur Verfügung. Die Bundesrepublik Deutschland, das Land Hessen und die Stadt Darmstadt tragen jeweils ein Drittel dieses Betrags.

§3

Der Georg-Büchner-Preis wird jährlich durch die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung an eine Schriftstellerin oder einen Schriftsteller vergeben. Für den Preis können von den Mitgliedern der Jury Schriftstellerinnen und Schriftsteller vorgeschlagen werden, die in deutscher Sprache schreiben, durch ihre Arbeit und Werke in besonderem Maße hervorgetreten sind und die an der Gestaltung des gegenwärtigen deutschen Kulturlebens wesentlichen Anteil haben.

Bewerbungen für den Preis sind nicht möglich.

§4

Über die Verleihung des Preises entscheidet eine Jury. Dieser gehören neben dem Erweiterten Präsidium der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung je ein Vertreter des/der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien, des Hessischen Ministeriums für Wissenschaft und Kunst und des Magistrats der Stadt Darmstadt mit beratender Stimme an.

Der Preis wird in Darmstadt in einer Feierstunde übergeben.

Die vorstehende Satzung wurde im Juli 2023 in Anlehnung an die Satzungen vom 15. März 1951, vom 15. Juli 2002 und vom September 2013 neu gefasst und von den Trägern des Preises gebilligt.

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Preisträger 2024

Georg-Büchner-Preis 2024 an Oswald Egger

Mit Oswald Egger zeichnet die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung einen Schriftsteller aus, der seit seiner ersten Veröffentlichung im Jahre 1993 die Grenzen der Literaturproduktion überschreitet und erweitert. Er arbeitet an einem Werkkontinuum, das Sprache als Bewegung, als Klang, als Textur, als Bild, als Performance begreift...

Der Preis wird am 2. November 2024 im Staatstheater Darmstadt verliehen. Die Veranstaltung ist öffentlich. Eintrittskarten können über das Staatstheater Darmstadt erworben werden. Der Vorverkauf beginnt circa 3 Wochen vorher. Wir informieren Sie gern über unseren Newsletter.

Mehr Informationen

Die Jury wird gebildet aus dem Erweiterten Präsidium der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung und je einem Vertreter, einer Vertreterin des/der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien, des Hessischen Ministeriums für Wissenschaft und Kunst und des Magistrats der Stadt Darmstadt mit beratender Stimme.

Aktuelle Besetzung des Erweiterten Präsidiums: Ingo Schulze, Rita Franceschini, Olga Martynova, Lothar Müller, Lukas Bärfuss, Maja Haderlap, Felicitas Hoppe, Joachim Kalka, Daniela Strigl, Michael Walter.

Friederike Mayröcker

Schriftstellerin
Geboren 20.12.1924
Gestorben 4.6.2021
Mitglied seit 1985

... deren aus vielen und vielfältigen Büchern bestehendes Werk mit seinen Sprachströmen, Worterfindungen, Assoziationsereignissen die deutsche Literatur auf ureigene Weise reicher gemacht hat...

Jurymitglieder
Juryvorsitz: Christian Meier
Peter Hamm, Harald Hartung, Peter von Matt, Uwe Pörksen, Ilma Rakusa, Klaus Reichert, Lea Ritter-Santini, außerdem Peter Benz (Stadt Darmstadt), Dieter Betz (Hessisches Ministerium für Wissenschaft und Kunst)

Laudatio von Thomas Kling
Schriftsteller, geboren 1957

Friederike Mayröcker: Das Abscannen der Gesichtsdaten

1

Eine Journalistin, die sich in Friederike Mayröckers Wohnung im 5. Wiener Gemeindebezirk umsehen durfte, hat sich in eine »Müllplastik« versetzt gesehen. Daran ist immerhin richtig, daß auch für den geschulten Beobachter einige Minuten vergehen, um bei einem ersten Besuch den von Papieren zugestapelten, den von Stapeln zugedeckten, ja eigentlich verdeckten Flügel Marke Bösendorfer zu entdecken. Alles rundherum, alles ist von Schriftstücken, Packen, Aktendeckeln, von Zetteln, Zettelkörben und Zettelkörbchen, die ihrerseits beschriftet sind, belagert, die Schlafstatt selbstverständlich auch; kurz, die Wohnung ist über Jahrzehnte mit Schreibmaterialien zugewachsen. Einbrecher hätten hier nichts zu lachen – die waren gewissermaßen schon hier: in der Zentagasse 16, bei Mayröcker.
Dieser erste Blick ist ein trügerischer, natürlich, denn er übersieht zweierlei: die selbstverständlich vorhandene Systematik des Text-Bewohnens, und die In-Szene-Setzung einer solchen Schreibwerkstatt, die, mit der Panoramakamera aufgenommen und auf Plakat gebracht, schon vor zwanzig Jahren in den Szene-Lokalen Wiens darauf hinwies: Achtung, legendäres Dichterin-Habitat. Diese Wohnung ist oft beschrieben worden. Mit voyeuristischem, mit irritiertem Besucherblick, je nachdem. Vor allem ist die für Außenstehende so hoffnungslos unaufgeräumt wirkende Wohnung selbst häufig Schreibanlaß gewesen für ihre Bewohnerin und diente ihr als Emblem für Irrsal und Unüberschaubarkeit; als Allegorie einer labyrinthischen Seelenverfassung; als Bühne für ebenso genau und kompromißlos registrierte Körperzustände, die alle in so nicht vorher gelesenen Fügungen davon sprechen, wie es ist, wahrzunehmen. In dieser barocken Wunderkammer also startet die Dichterin ihre ekstatischen Reisen durch die Letternwelt.


2

Jean Paul, der Zettelkasten-Maniac, legt seinem abstürzenden Luftschiffer Gianozzo dieses Wort in den Mund: »Bis auf die letzte Schlagminute schreib ich, vielleicht wird mein Tagebuch nicht zerschmettert.« Ein hoffnungsvolltrotziger Satz, den Lebens-, den Schreibwillen ausdrückend. Der Satz hätte auch von Friederike Mayröcker gesagt werden können. Ihr Tagebuch besteht aus inzwischen etwa sieben Dutzend Büchern, deren vollständige Titel-Verlesung wir uns hier aus Zeitgründen sparen wollen, obgleich es im Handumdrehen vor Augen führen könnte, daß es sich bei Mayröcker schon einmal um die deutsche Titelmeisterin handelt.
Wir beschränken uns auf eine Auswahl: den Anfang machte in den fünfziger Jahren Larifari; es folgten: metaphorisch, Tod durch Musen, Sägespäne für mein Herzbluten, Minimonsters Traumlexikon, Fantom Fan, Fünf Mann Menschen, Arie auf tönernen Füßen, Blaue Erleuchtungen, je ein umwölkter gipfel, in langsamen Blitzen, Augen wie Schaljapin bevor er starb, Fast ein Frühling des Markus M., rot ist unten, heisze hunde, Heiligenanstalt, lütt’koch, Tochter der Bahn, Schwarmgesang, Die Abschiede, Bocca della Verita, Magische Blätter I (bis Magische Blätter 5), im Nervensaal, Das Anheben der Arme bei Feuersglut, Reise durch die Nacht, Rosengarten, Das Herzzerreiszende der Dinge, der Donner des Stillhaltens, Dekomposition, Das besessene Alter, Phobie der Wäsche, Verfaulbett oder DIE ALMLUNGE, Obsession, Lection, den Fliegenschrank aufgebrochen, Notizen auf einem Kamel und so weiter. Mayröckers Werk, eine Sehschule, ist dem »Erwachen von Augen« gewidmet; lustvoll favorisiert es das »euphorische Auge«, wobei die Autorin um das ständig drohende Zuschnappen der von ihr so genannten »Augenfalle« weiß – folgerichtig wird das retinale Sehen als »schwerer Wahn« diagnostiziert. Mayröckers Werk setzt ein unbegrenztes Vertrauen, ihr ganzes Vertrauen, in die dichterische Möglichkeit der Sprache, die auch nur eine Sekunde aus dem Auge zu lassen ihr verwehrt ist. Sie tut es im Sinn von Novalis, der gemeint hat: »Der Sitz der Seele ist da, wo sich Innenwelt und Außenwelt berühren. Wo sie sich durchdringen, ist er in jedem Punkte der Durchdringung.«


3

Den brennenden Dornbusch Sprache durchdringen; das Wunderliche zu Gesicht zu bekommen, das Pfingstwunderliche der Sprache, die Überraschung der Zungenrede erzeugen – all dies ist durchzuhören, zu beobachten im Werk der Autorin. In einem unüberschaubaren, sich weiter vermehrenden Arsenal von Augen-Bildern, von Metaphern des Sehens, wie es in der neueren Dichtung in dieser intensiven und auffälligen Fülle nur bei Paul Celan zu lesen steht, hat Friederike Mayröcker die Voraussetzung für ihr dichterisches Arbeiten – das Abscannen von Gesichtsdaten der Welt – programmatisch immer wieder aufs neue mitbenannt.
Dieses »Abscannen der Gesichtsdaten« findet auch in dem Gedicht »Poem auf den Änderungsschneider Aslan Gültekin« statt. Dessen erste fünf Verse lauten so: »und hatten einander gesehen ich meine / zugeworfen den Blick und die Blicke bodenloses / Terrain, uns angeblickt einen Blick zwei Blicke lang angeblickt / im Vorübergehen an seiner Ladentür also mit je einem / Auge einander berührt im Vorüberstreifen mit Nachdenken, dann...« Im Vorüberstreifen; mit Nachdenken, wohlverstanden, das zum Flanieren ja dazugehört. So geschieht, ausgehend vom allerflüchtigsten Hinschauen, teilnehmendes, sogleich registrierend-abcheckendes (hier: gegenseitiges) Beobachten. In dieser (sprachlosen) Szene findet ein Ausfiltern von Welt statt. Es wird der Versuch unternommen, eine sekundenkurze Allerwelts-Flüchtigkeit, die im Vorübergehen einer städtischen Nicht-Begegnung stattfindet, festzuhalten. Schon dieses Allerknappste an Kommunikation, die allein über das Auge passiert, wird als prekär, wenn nicht als beängstigend, empfunden: »die Blicke bodenloses / Terrain«. Es wird kein Wort gewechselt, nicht einmal ein Gruß wird ausgetauscht – das Gedicht fängt auf beklemmende Weise eine urbane Situation ein, die jedem bekannt ist. Ein kurzer Streßauslöser auf der Straße, – hier: gerade einmal die Augenberührung zweier Menschen – Adrenalinausschüttung.
Hier fährt das Gedicht folgendermaßen fort: »ins Fluszknie der Mann gleichsam profilhaft / solch Raptus-Szene, während ein Tropfen Schweiß / langsam aus meiner Achselhöhle den Arm hinab rinnt...« Aus der Banalität des Sehgeschehens wird für das lyrische Ich unversehens eine peinigende, dem Grotesken nahe Situation: es leidet unter »Fluszknie« und bekommt einen Schweißausbruch. Das dichterische Sehen zaubert daraus Poesie. Und das geht so: »ein Buchstabe plötzlich aus meinem Namen / fällt zu Boden ich sehe ihn fallen, verschwinden – ...« Und schon steht die Verflüchtigung, gewissermaßen die Verflüssigung der Begegnung mit dem Ladenbesitzer fest. Worauf das Gedicht endet. Der letzte Vers ist surrealistisch zu nennen. Er lautet: »mit FARNKRAUT AUGEN, Breton.« Sehen wir nun die »FARNKRAUT AUGEN« als Metapher fur den gleichsam undomestiziert-wildwuchernden poetischen Blick, und erinnern daran, daß dem Farnsamen im Volksglauben die Gabe der Unsichtbarmachung zugesprochen wurde, verstärkt durch appellative Nennung des Oberhaupts der französischen Surrealisten, André Breton, dem das letzte Wort gewidmet ist, dann werden wir feststellen, daß der Blickkontakt zwischen den beiden (oder etwa den drei?) Protagonisten, deren einer der Änderungsschneider Aslan Gültekin ist, eine höchst überraschende Rasanz in sich birgt. Dies ist ein Beispiel für das Sehen, für die dichterische Sehweise der Mayröcker – ein Sehen, das sich seinen Teil nimmt.
Von dieser poetischen Sprachmöglichkeit, der des Teil-Nehmens, sprechen die Prosatexte, die Gedichte und Hörspiele. Sie sprechen von dem kompromißlosen Projekt der Selbstverschriftlichung, das ein durchaus gewalttätiges ist, indem das Sprachvermögen der Probandin ständig ausgetestet wird: »So daß das Wortmaterial auf mich losgeht und mich angeht und anzieht, nicht umgekehrt, meine Sprache pausenlos herausfordert.«
Ihre proteushaften Texte folgen einer Jean Paul verwandten Ästhetik der Abschweifung, einer Ästhetik der Unvorhersagbarkeit des Würfelwurfs und des aleatorischen Springens, die durch eine ausgefeilte Schnittechnik erzielt wird. Sie lassen sich lesen als unmittelbare und paradoxe, dem Barock, der sprachüberschäumenden spanischen Ausformung des Barock, dem Gongorismus, nahe Protokolle des in jedem Moment gefährdeten Glanzes der Welt; als Kommentar zu Schöpfung und Abbruch. Ein Werk, das sich der Schilderung von Übergangsstadien verschrieben hat, gespickt voll mit Zitaten aus dem Schrifttum toter und lebender Autoren, aus Briefstellen von Menschen, mit denen die Dichterin in Verbindung steht. Zum Medienmanagement der Dichterin – Stichwort »euphorisches Auge« – gehört ebenfalls die Photographie: Privatphotos als Ausgangspunkt für die Textproduktion. Ebenso wie Werke der bildenden Kunst, insbesondere der Malerei, und hier vorzüglich die flackernden Bilder irritierender Wirklichkeits-Verwandler wie die der Maler-Stars der Iberischen Halbinsel Goya, Picasso, Dali oder Arbeiten des Monteurs Max Ernst oder die des britischen Sezierers Francis Bacon oder von Marcel Duchamp, dem Urvater des Konzepts.
Sprachalchemistisch transformiert in einen »sprühenden Funkenregen« aus bewegenden Bildern, der niedergeht auf uns. Das Material aufgenommen von einer Sprach-Hochgeschwindigkeitskamera – Mayröcker-Kino! Eines der schnellen Schnitte und Gegenschnitte.

4

Novalis arbeitete mit »Blüthenstaub«; bei Mayröcker blühen in einer »halben Flora« »aggressive Blumen«. Überhaupt finden sich genaue und reichhaltige, wiewohl die Idylle verweigernde artifizielle Natur-Bilder, oft von einem brüchigen Pathos unterfüttert, eingearbeitet in ihren Gedichtbänden wie den Prosabüchern. Wir stoßen auf Stellen wie diese: »der schwimmende Mond, ach lieber Valerian, ich schreibe viel, als führten Sie mir die Hand, ich trage Kinderkleider wie Flügel Holunder Jasmin die Pfingstrosen Tulpen und in Entzückung die blumenähnlichen Tiere ich esse von Ihrem Teller der mit halberhabenen Blumen und Früchten bunt verziert ist und welchen Sie beim ersten Mal mit einer gewissen Scheu verwendeten, die Iris und in der Farbe der Freunde, der Himmel...« Oder diese: »ach! Scheinlandschaft, ich phantasiere dann eine Scheinlandschaft, ein leuchtendes Wolkengebirge, seine durchsichtigen Flanken von gläsernen Strähnen durchzogen, die Mitte des unteren Randes in der Art altertümlicher Pergamentrollen ein wenig geschürzt oder gestülpt – etwas Landläufiges, rufe ich, Wiedehopf, Donner und Blitz, und während Sie stundenweise ein Licht anzünden –«
Die Konglomerate von Naturmetaphern sind auffällig für eine Großstädterin. Mayröcker hat jedoch früh ihren Blick schulen können: sie verlebte Kindheits-Sommer auf dem Land in Niederösterreich. In einem Gespräch mit dem Laudator erinnerte sich die Schriftstellerin an die Wirkung der ersten Dichterlesung, die sie 1939 in Wien erlebte. Ein unnahbarer Star betrat da die Bühne; es war Josef Weinheber: »Einmal hab ich ihn lesen hören, im Großen Saal der Urania. Mit fünfzehn. Da ist er gekommen, ohne zu grüßen, hat ein Buch aufgeschlagen und zu lesen angefangen; er hat eineinhalb Stunden gelesen, hat das Buch zugeschlagen und ist gegangen. Das hat mich sehr beeindruckt. Ich hab mir die Wortfolge gemerkt: Bleib ferne Stern.«
Aus dem vordem so genannten Backfisch, den die Dichterlesung faszinierte, ist die Dichterin geworden, deren tatsächlich beinahe unüberschaubares Werk zu faszinieren weiß. Ging Mayröckers Stern aber hellstrahlend, ging er blendend auf?
Friederike Mayröckers Karriere begann langsam. Und erst eigentlich als sie schon fünfundvierzig Jahre alt war. Bis dahin hatte sie Volksschüler in Englisch unterrichtet. Sie ist nicht freiwillig Lehrerin geworden; sie mußte nach dem Krieg, als der Vater, ein Lehrer, nach schwerer Krankheit als Ernährer ausfiel, die Eltern mit über die Runden bringen. Schon während des Dritten Reiches hatte sie an der Universität inskribiert, Germanistik und Kunstgeschichte – aus ihrem Studium wurde nichts: Mayröcker wurde »dienstverpflichtet«. So fand sich die junge Frau beim Reichsgauluftkommando Wien I in der Operngasse wieder, wo sie Listen tippen mußte von russischen Kriegsgefangenen.
Daß der jungen Mayröcker als Angehöriger der Generation, die den Zweiten Weltkrieg überlebt hat, das Studium versagt blieb, ist heute unser Glück: schließlich ist uns eine schlecht dichtende Germanistin erspart geblieben! Es erklärt aber auch, warum es von der Dichterin kaum theoretische Äußerungen gibt. Das ist bei H.C. Artmann übrigens ähnlich gewesen, der im Nachkriegs-Wien zum Kopf der Wiener Gruppe avancierte, zu der unter anderen Autoren wie Konrad Bayer und Oswald Wiener gehörten. Die Wiener Gruppe nun, als Speerspitze der poetischen Avantgarde, gab in Österreich den Ton an – Friederike Mayröcker und Ernst Jandl, ihr Lebensgefährte seit Mitte der fünfziger Jahre, standen beiseite: sie mußten beide unterrichten, während die Dichter-Bohemiens die Nächte durchmachten. 1956 veröffentlicht Mayröcker – sie ist nun über Dreißig – ihr erstes Buch. Danach hat sie zehn Jahre keine Möglichkeit zur Buchveröffentlichung, was nicht zuletzt dem bekannten restaurativen kulturpolitischen Klima im Österreich der Nachkriegsjahre geschuldet ist. 1969, in der Lebensmitte schon, unternimmt Mayröcker zusammen mit Jandl den Schritt in die Selbständigkeit; sie beide lassen sich aus dem Schuldienst beurlauben und frühpensionieren. Danach steigt die Produktivität der Dichterin steil an, um in den Achtzigern und Neunzigern einen Höhepunkt an Kreativität zu erreichen.
Schon vor dreißig Jahren hat Friederike Mayröcker Hörspielgeschichte geschrieben, mit Ernst Jandl gemeinsam. Und ihr Gedichtbuch »Winterglück«, 1986 erschienen, wurde von einer jungen Dichtergeneration als der vielleicht wichtigste Gedichtband der achtziger Jahre erkannt. Es sind Mayröckers Gedichte, die in der deutschen Literatur der Gegenwart deutlich lesbare Spuren hinterlassen haben.

5

Eine Frage, die wir eben zum – rezeptionsgeschichtlichen – Teil beantwortet haben, lautet: welches Echo kann ein Werk haben? Mayröcker ist da gelassen, sie hat geschrieben: »Name kommt ins Besitzlose.« Sie, die ihre hochmusikalische Weltmitschrift nicht zuletzt auf Exzerpierungsmaßnahmen stützt, gelegentlich auch Telephonate mitstenographiert, die ihr Interesse anzuzünden verstehen – unsere Dichterin dürfte sehr einverstanden sein, wenn sie dieses hier vernimmt: »Es ist das Sonderbare«, sagt Jean Paul, über das Echo nachsinnend, »daß ein Sänger da nur seine Stimme [vernimmt], Zuhörer aber seine nicht, sondern nur den Widerhall derselben, oft zwei Stimmen, und alle sie anders, bald näher, bald weiter vernehmen.« Wir haben Grund, anzunehmen, daß ebenjener Autor, der gern hämisch die schreibende Kollegin als »Dichtin« denunzierte, es sich bei Friederike Mayröcker anders überlegt hätte. Und da zu den hervorstechendsten Berufskrankheiten der Dichter gehört, daß sie sich über ihre Echolosigkeit beklagen – Mayröcker: »Ich bekomme immer nur die Trostpreise!« –, kann heute aus vollster Überzeugung, und freudig, gesagt werden:

Liebe Friederike Mayröcker! Ich möchte dir von Herzen gratulieren zum Georg-Büchner-Preis!