Friedrich-Gundolf-Preis

STATUT

§ 1
Der 1964 begründete Friedrich­Gundolf-Preis für die Vermittlung deutscher Kultur im Ausland dokumentiert den Anspruch der Akademie, aktiv den Kulturaustausch zwischen den deutschsprachigen Ländern und anderen Nationen (insbesondere Europas) zu fördern und mitzugestalten.

Der Preis wird aus dem Jahreshaushalt der Akademie finanziert. Er ist mit 20.000 Euro dotiert und wird jährlich im Rahmen der Frühjahrstagung vergeben.

§ 2
Der Friedrich-Gundolf-Preis würdigt hervorragende Leistungen bei der Vermittlung deutscher Kultur, insbesondere der deutschen Sprache und Literatur in nicht deutschsprachigen Ländern. Dabei können auch Übersetzungsleistungen berücksichtigt werden, die der deutschen Literatur in anderen Sprachen Wirksamkeit verschafft haben.

§ 3
Der Preis darf nicht geteilt werden.

Kann der Preis aus zwingenden Gründen nicht ausgehändigt werden, so bleibt es dem Erweiterten Präsidium überlassen, die Verleihung des Preises auf das nächste Jahr zu verschieben.

§ 4
Eine Fachkommission der Akademie berät über Kandidatinnen und Kandidaten für den Friedrich-Gundolf-Preis. Sie besteht aus sieben sachkundigen Mitgliedern, die von der Mitgliederversammlung gewählt werden.

Auf der Grundlage des Vorschlags dieser Kommission für den Friedrich-Gundolf-Preis entscheidet das Erweiterte Präsidium über den Träger bzw. die Trägerin des Preises.

Eigenbewerbungen sind nicht möglich.

Beschlossen vom Erweiterten Präsidium am 24. März 2021

Helen Wolff

Publizistin
Geboren 27.7.1906
Gestorben 28.3.1994

... für mutiges und kundiges Engagement, mit dem sie die deutsche Literatur in Amerika bekannt gemacht hat.

Jurymitglieder
Kommission: François Bondy, Norbert Miller, Lea Ritter-Santini, Jean-Marie Valentin, Peter Wapnewski

Mitglieder des Erweiterten Präsidiums

Laudatio von Günter Grass
Schriftsteller, geboren 1927

Nachruf auf Helen Wolff

Ihr Tod hat alles verändert, mehr als zu sagen ist. Und was gesagt werden kann, steht nun auf einem anderen Blatt; denn eigentlich hatte ich Helen Wolff heiter, mit einem alle Feierlichkeit wegräumenden Wort begrüßen wollen: Liebe Helene, wie gut, daß Du da bist.
Als mich die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung bat, zur Verleihung des Friedrich-Gundolf-Preises eine Laudatio zu halten, fiel mir zur Preisträgerin weit mehr ein, als eine kurze Rede bändigen könnte. Allenfalls bereitete mir der Nimbus des Namens Gundolf einen nicht gelinden, eher einen lähmenden Schrecken. Etwas Hohepriesterliches ging von ihm aus, etwas, das mir unwirklich und entrückt zu sein schien. Diese Distanz war nicht zu überbrücken, ich konnte nur, außer Unwissenheit, Respekt bezeugen; denn schnell Angelesenes wollte ich weder der Preisträgerin noch dem zur Feierstunde versammelten Publikum zumuten.
Dann holte mich die traurige Nachricht ein. Letzte Gewißheit. Der Verlust. Und doch ist mir immer noch so, als könnte ich zu Dir, liebe Helen, die in meinen geheimsten und monologischen Zwiegesprächen immer als Helene angerufen wird, direkt, von Freund zu Freundin, als Autor zur Verlegerin sprechen und so tun, als sei nichts geschehen, als dürfe weiterhin Rat eingeholt, der nächste Brief erhofft werden, als erlaube Dein ungeduldiges Warten aufs nächste Manuskript beliebig viele Vertröstungen.
Welch eine Verlegerin! Wo hat es das jemals gegeben: So viel episch andauernde Liebe zu Autoren, so viel Nachsicht mit chronisch egozentrischen Urhebern, so viel verläßliche Kritik, die nichts besser, aber manches genauer wissen wollte, so viel Gastlichkeit und wohnlich einladender Hintergrund, der den oft genug an der Bühnenrampe turnenden, sich selbst erschöpfenden Schriftstellern Zuflucht und mehr als einen Drink geboten hat.
Wenn ich in meinem Nachruf hier lobrede, ist mir bewußt, daß ich stellvertretend für viele Autoren spreche, unter ihnen zwei, denen Vergleichbares eingefallen wäre; denn Max Frisch und Uwe Johnson waren gleich mir Zöglinge der Wölfischen Zucht- und Pflegeanstalt. Sie kannte uns bis in letzte Verliese und Hinterhältlichkeiten hinein. Ihr war nichts vorzumachen. Bei ihr verlegt, das hieß, bei ihr aufgehoben zu sein, auch über Durststrecken hinweg.
Wir Autoren wußten und haben es uns oft genug bestätigt, daß wir − bei aller uns nachgesagten Eigenleistung − vor allem Helen Wolff unsere literarische Präsenz in Amerika zu verdanken hatten. Sie hat uns, dem Wortsinn nach, betreut. Vergleichbare Dankbarkeit mögen die Übersetzer empfunden haben, denen ihr kritischer Rat oder Einspruch bis hin zu den Fahnenkorrekturen gewiß blieb. Ralph Manheim, mein Übersetzer, konnte ein Lied davon singen, ein vielstrophiges, denn seit ›Grimms Märchen‹ − noch zu Kurt Wolffs Lebzeiten − ist er der strengsten Disziplinierung unterworfen gewesen.
Kurt Wolff. Welch ein Verleger! Und welch eine Verlegerin, die sich von seinem Schatten nie lösen wollte, die keine Eigenständigkeit betonen mußte, die vielmehr ihr Herkommen − und sei es beiseite gesprochen − durch rückversichernden Kommentar belegte. Ich erinnere Sätze wie: »Kurt hätte in diesem Fall so entschieden...« oder: »Kurt wäre hier anderer Meinung gewesen...«
›Helen and Kurt Wolff Books‹ über Jahrzehnte hinweg. Das war ein Gütesiegel. Diese Buchreihe ist ein Begriff. Wie Frisch und Johnson war ich stolz, mit meinen Büchern in diese Reihe aufgenommen zu sein. Dafür waren wir dankbar; denn bei allem Selbstbewußtsein der genannten Autoren soll festgehalten und daran erinnert werden: ohne die Verlegerin Helen Wolff hätte die erzählende deutschsprachige Literatur in Amerika nur minimale Chancen gehabt. Sie hat die Brücke gebaut. Sie hat keine Mühe gescheut, selbst schwierigste Texte − ich denke an Schädlichs Versuchte Nähe − den Lesern von New York bis San Francisco nahezubringen. Uwe Johnsons Jahrestage waren ihr jedes Risiko wert. Selbst wenn, was zu hoffen ist, ihre Arbeit fortgesetzt wird, bleibt sie ohne Nachfolge; denn nach Helen Wolffs Tod ist zu befürchten, daß auch in diesem literarischen Bereich die Zukunft entweder dem schnellen Geschäft oder dem amerikanischen Selbstgenügen gehören wird.
So will es mir, aus europäischer Sicht, Vorkommen, als sei Amerika ohne Helen verarmt. Plötzlich ist da nichts mehr. Der Brückenpfeiler ist weg. Gewiß spricht aus dieser Sicht panischer Schrecken, doch auch die Erkenntnis, wieviel die Autoren meiner Generation den deutschen Emigranten verdanken. Sie, die aus Deutschland vertrieben wurden, haben mehr für uns getan als zu erwarten, zu erhoffen war. Sie, die in Amerika blieben, bewahrten uns vor provinzieller Verengung, sie machten uns weltoffen. Diese Gewißheit habe ich seit meinen frühen Blechtrommel-Jahren. Im Januar 1960 wurde der junge Autor nach Zürich in ein Hotel gebeten, dessen großbürgerlicher Glanz beklemmend, womöglich bedrückend gewirkt hätte, wenn nicht Kurt und Helen Wolff mit souveräner Geste den geballten Pomp relativiert und alles ganz leichtgemacht hätten. Kaum war mein Drink bestellt − ich glaube, es war eine Bloody Mary überraschte mich das Ehepaar Wolff mit der von Kurt gestellten Frage: »Könnten Sie sich vorstellen, daß Ihr jüngst erschienener Roman Die Blechtrommel in Amerika Leser findet?« Ich antwortete wahrheitsgemäß mit nein, wollte aber mein Nein beweiskräftig untermauern und gab zu, daß mich die inzwischen erwiesene Tatsache, sogar in Bayern Leser gefunden zu haben, einigermaßen überrascht hätte. Um mich deutlicher zu machen, wies ich daraufhin, daß alles, was Oskar Matzerath angehe, in entlegener baltischer Region spiele, sich weitgehend und penetrant auf Danzig, genauer gesagt, auf einen unansehnlichen Vorort namens Langfuhr beschränke, daß man dort stubenwarm breit und bedrohlich gemütlich spreche und außerdem immerfort von Kaschuben, einer schwindenden Minderheit die Rede sei; dort rieche es nach Provinz.
Danach sprach Kurt Wolff als Autorität. Sein Beschluß stehe fest. Das Buch werde in Amerika erscheinen. Meine Erklärung habe überzeugend gewirkt, obgleich sie sich aufs Abraten versteift hätte. Er wisse, daß sich alle große Literatur auf die Provinz konzentriere, sich in ihr verkrieche, ohne dabei provinziell zu werden; und deshalb sei sie weltweit verständlich. Helen stimmte dem zu, indem sie zugleich Fragen zu Schwierigkeiten stellte, die sich beim Übertragen von Dialekt und Jargon ergeben könnten: »Sagen Sie mir bitte, was genau ist Glumse?«
So kam es, daß zwei Jahre später Die Blechtrommel in der Übersetzung von Ralph Manheim den amerikanischen Lesern zugemutet wurde; offenbar sind die kaschubischen Kartoffeläcker und der miefige Vorort Langfuhr den Texanern ähnlich zugänglich gewesen wie zuvor den Bayern. Der Sprung übers große Wasser war, dank verlegerischer Weitsicht, geglückt.
Bald danach wechselten Helen und Kurt Wolff von Random zu dem Verlagshaus Harcourt Brace Jovanovich. Ich ging mit ihnen. Als Kurt Wolff während eines Besuches in Deutschland tödlich verunglückte, setzte Helen Wolff ihres Mannes Arbeit fort. Ihre verlegerische Sorgfalt war schon zuvor Grundlage meines Vertrauens gewesen. Von Buch zu Buch haben wir uns begleitet. Ihrem prüfenden Blick mußte jede Übersetzung standhalten. Ihrer Beharrlichkeit und Autorität − zum Beispiel dem Verlagseigner Jovanovich gegenüber − konnte Uwe Johnson, wie schon gesagt, die Vermittlung seiner Bücher verdanken. Und sie hat dafür gesorgt, daß er vom Riverside Drive aus auf sein verlorengegangenes Mecklenburg zurückschauen konnte. In einem Brief an den Literaturwissenschaftler Roland Berbig schreibt sie aus Hanover / New Hampshire am 6. Juni 1991:

»... Sehr stark empfand ich, bei ihm und bei seiner Frau, Heimweh nach der Landschaft der verlorenen Heimat, die er mit so viel geographischer Akribie beschreibt, Wind und Wellen eingeschlossen. Daß er sich, unwiederbringlich, exilieren mußte, als Unschuldiger den Kriminellen weichen, war ein ewiger Stachel.«

So zerbrechlich Helen Wolff wirkte, von ihr ging jene Kraft aus, die über Jahrzehnte hinweg, gepaart mit verlegerischem Mut, dafür gebürgt hat, daß die Reihe ›Helen and Kurt Wolff Books‹ kein Ende fand, selbst nicht in krisenhaften Zeiten, an denen es nicht gefehlt hat: überall verschwanden wohlbekannte Verlage, selbstredend nach den Regeln der Freien Marktwirtschaft.
Helen überstand alles. In Macédonien geboren, in Österreich aufgewachsen und dennoch mit preußischer Haltung, allerdings wie aus einer von Fontane geleiteten Schule, so hat sie, von fragiler Gestalt, leise, aber bestimmt den verlegerischen Kurs ihres Mannes, der ihr Kurs war, auch bei stürmischer Wetter- und Börsenlage bestimmt. Wer wie ich Gelegenheit gehabt hat, als Gast des Verlages bei jeder Veröffentlichung seiner Bücher dabei gewesen zu sein, der wurde einem zwar anstrengenden, doch merkwürdigerweise gleichwohl belebenden Programm unterworfen. Jedenfalls konnte er sicher sein, fachlich qualifizierten Kritikern konfrontiert zu werden; mir wurde wiederholt die Möglichkeit geboten, mich beim Umgang mit amerikanischer Literaturkritik von der deutschen zu erholen. Ich lernte professionelle Qualität und leidenschaftliche Sachlichkeit kennen, Verlagsmitarbeiter, die nicht nur eine schreibtischgebundene Existenz führten, den Wechsel von Tempo und Muße, und während zeitlich terminierter Gespräche saß ich Literaturkritikern gegenüber, die tatsächlich gelesen hatten und sich deshalb nicht in verquaster Rhetorik gefallen mußten.
Über all dem wachte anwesend oder per Distanz Helen Wolff. Sie sorgte dafür, daß der europäische Autor keiner die Moral untergrabenden Langeweile anheimfallen konnte und schützte ihn zugleich vor dem Geschwindigkeitsrausch des ihm ungewohnten amerikanischen Tempos. Bei ihr lernte ich Hannah Arendt kennen. Gespräche an ihrem Tisch verliefen nie beliebig. Nie blieb sie ihren Gästen, als Referenz oder Zugabe, eine gehörige Portion Bestätigung schuldig. Die Verlegerin Helen Wolff ist sich immer bewußt gewesen, daß es die Autoren sind, die die Substanz eines Verlages ausmachen. Sie wußte, daß ein noch so schönes und vielstöckig auf modernsten Stand gebrachtes Verlagshaus ein leeres Gehäuse ist, wenn sich der Verleger und seine Mitarbeiter nicht täglich der Priorität der Autoren versichern. So selbstbewußt nahm sie eine vermittelnd dienende Position ein. Manch deutscher
Verleger und manche Verlegerin könnten sich an Helen Wolff ein Beispiel nehmen; zumindest fänden sie Gelegenheit, des Ausmaßes ihrer Selbstherrlichkeit gewahr zu werden.
Die Büchermacherin und Briefstellerin. Über viele Jahre hinweg haben wir einander Nachricht gegeben. Ach, liebe Helene, wie wird mir das fehlen. Meinen langwierigen Arbeitsexzessen bist Du eine geduldige Zuhörerin gewesen. Meine Kinder in ihrer Vielzahl waren Dir oft übersichtlicher als mir. Gelegentlich und nur abschnittsweise erlaubten wir der amerikanischen und der deutschen Politik, unsere Briefe ein wenig einzutrüben; Du warst radikal und konservativ zugleich. Wir sorgten uns in Gesprächen wie in Briefen gemeinsam um Uwe Johnson, dem nicht mehr zu helfen war. Unser Briefwechsel überlebte diverse Präsidenten und Kanzler. Ironisch und aus hellwacher Erinnerung hast Du die deutschen Anfälligkeiten kommentiert. Und von Zeit zu Zeit sind uns dahergeplauderte Briefe gelungen; Fontane ließ grüßen.
Mein Nachruf, der eigentlich eine Laudatio sein sollte, schließt mit Dank. Als ich mir noch aus Anlaß einer gewünschten Lobpreisung Gedanken machte, wurde mir bewußt, daß Helen Wolffs Wiedersehen mit der Stadt Leipzig ein langes Stück Geschichte, eine sehr deutsche, also weitläufige Geschichte beschließen würde. Vor zwei Jahren erhielt ich von ihr einen Brief, in dem sie bedauerte, nicht zur Buchmesse kommen zu können − »Ich fühle mich dem Messe-Betrieb nicht gewachsen, besonders in einem mir unvertrauten Leipzig...«
Heute hätte Helen Wolff hier sein wollen, in einer Stadt, in der vor wenigen Jahren viele Tausend Menschen den damals Regierenden zugerufen haben: Wir sind das Volk! − Wenig später tauschte man ein Wörtchen aus, wohl in der Hoffnung, daß ›ein Volk‹ zu sein, mehr zähle und gewichtiger sei als nur ›das Volk‹. Wie gerne hätten wir Helen Wolff, über alle Eiertänze deutscher Selbstfindung hinweg, hier, in Leipzig begrüßt. Wie gerne hätte ich ihr gedankt, der Freundin, der Verlegerin. Sie fehlt mir.