Johann-Heinrich-Merck-Preis

The »Johann-Heinrich-Merck-Preis für literarische Kritik und Essay« (Prize for Literary Criticism and Essay Writing) has been awarded by the German Academy for Language and Literature since 1964, financed by the Darmstadt-based Merck pharmaceutical company.
It is awarded annually at the autumn conference of the German Academy in Darmstadt. The Johann Heinrich Merck Prize has been endowed with €20,000 since 2013.

Michael Maar

Literary scholar and Writer
Born 17/7/1960
Member since 2002

Michael Maar, dem ernsten Kritiker und Essayisten, der in einer Epoche des immer mehr verkommenden öffentlichen Sprechens die Tradition der großen Darlegungssprache fortführt...

Jury members
Juryvorsitz: Präsident Herbert Heckmann
Vizepräsidenten Elisabeth Borchers, Norbert Miller, Ivan Nagel, Beisitzer Iso Camartin, Eckhard Heftrich, Hans Wollschläger

Laudatory Address by Hans Wollschläger
Writer, Translator and Literary critic, born 1935

Nachrichten aus der Evolution

»Blutdurst« – wahrhaftig, meine Damen und Herren: »Blutdurst ist meiner Seele fremd ... aber dennoch, dennoch wollte ich die Verantwortung auf mich nehmen, Feuer zu kommandieren, wenn ich mich nur zuvor mit der ängstlichsten, gewissenhaftesten Sorgfalt vergewissert hätte, daß sich vor den Gewehrläufen kein einziger anderer Mensch, ja auch kein einziges anderes lebendes Wesen befände als – Journalisten!« Das hat, vor hundertfünfzig Jahren, und sogar »im Namen Gottes«, der sehr ernsthafte Kierkegaard bekannt, und auf halber Strecke inzwischen, vor fünfundsiebzig, hat Karl Kraus ihn als Eideshelfer aufgerufen gegen »die abgefeimteste Betrügerbranche dieses Landes«, »die Schleichhändler der öffentlichen Meinung«, das »Schandgewerbe« und »Weltübel« schlechthin –: wäre wieder einmal Termin für auch diese Wiederholung? Das Semper-idem liegt in der Nähe der Platitüde, und die Immer-Identischen profitieren davon, daß man die scheut; auch helfen selbst Pelotons nicht, aus vielen Gründen, gegen den seit Jesaja ewigen Typus Raubebald & Eilebeute warum komme ich, doch zum Laudator berufen, noch einmal auf die Wiederkehr dieses Gleichen zu sprechen, das doch genügend für sich selber sorgt? Will ich, jenen gar ähnlich, nur die Gelegenheit nehmen, mich meinerseits einzumischen in den Veitstanz der langen Kolumnen mit dem leider meist nur kurzen Verstand und der Selbstprüfung der Gegenwart etwa den Coverboy des »Spiegel« anzubefehlen, der das Zerreißen eines Buches aus der Metapher gesprengt und seinerseits weit unbedenklicher Feuer kommandiert hat, als es Kierkegaard möglich gewesen wäre, oder über den Friedenspreis, der nur als Kriegsschauplatz etwas wert ist, – will ich am Ende auf ein allgemeines Lamento hinaus über den Kulturstandort Deutschland überhaupt, der, parterre und souterrain, doch allen Augen zugänglich ist? Was hat die Akademie damit zu schaffen? Sie haben sich, jene, nie heimelig in ihr gefühlt, in die sie ja genau genommen auch nicht gehören, und es ist wohl wahr, daß unsere Gedanken nicht ihre Gedanken sind und unsere Wege nicht ihre Wege; das wäre ja noch schöner. Trotzdem stellen sie sich Jahr für Jahr wieder bei uns ein, und Sie alle, meine Damen und Herren, Zeitungsleser leider, haben die Berichterstattung gesehen und die alljährlichen Versuche, die Akademie in der Sphäre der Schmockerei mehr oder minder gemütlich abzutachteln, und haben, wenn wir dann wieder einmal hereinkamen, nachgeschaut, ob wir auch tatterig und tapert genug hereinkamen und genügend Rotspon und Marzipan im Kopf hatten, um dem Bericht gewachsen zu sein. Heute werden Sie besonders neugierig gespäht haben – nämlich nach dem zusätzlich abgefeimten Grinsen, das zu sehen sein muß, wenn korrupten Literatur-Amigos ein Insidergeschäft gelungen ist, nach dem schmierigen auch, mit dem die Männergesellschaft sich dem Jungmännerborn der Preisträger nähert, – und wie wir uns in unserem Bubenstück nun perfide gegenseitig loben, preisen und küssen würden und Schaden anrichten »in unserem literarischen Leben«, nämlich denen ihrem. Das Ganze heißt »diese überflüssige Akademie«: – was hat die unsere damit zu schaffen? Wo ist der Zusammenhang zwischen Sprache & Dichtung und diesem Wörter- & Gedankensumpf? Wo auch der zwischen dem Laudator und diesen Verächtern? Ist es nur wieder, unausweichlich und immerdar, ein Stück von jenem unheimlichen Kontext, der den Großen Thomas anhielt, den Untergangster des Abendlandes seinen Bruder zu nennen? Es ist diesmal, aus Neid und Niedertracht, auf eine Weise gegrinst und gehöhnt worden, die nicht mehr durch Charakter gedeckt ist und nicht mehr durch wie immer verstandenes kritisches Amt, und daß die Literatur dabei nur noch in verachtenden Nebensätzen vorkommt, scheint mir anzuzeigen, daß der Anschlag diesmal der Distanz selber gilt, die die gute Literaturkritik doch immer noch gegenüber dem real existierenden Journalismus hat wahren können. Das streicht auch dessen gewohnheitsmäßiges Anrecht, auf umgehende Verjährung, ja eigentlich Vertagung zu rechnen, und imponierend kann nicht einmal die Fähigkeit der Betreffenden sein, sich nach so vielen wörterreichen Versuchen diesmal mit einem einzigen Wort um alle Reputation zu bringen. Es ist, meine ich, in diesem Vorfall ein Tiefststand erreicht worden, von dem ich, mit Furcht und Zittern, nur hoffen kann, daß er es ist. Pelotons sind kein Mittel; auch Kierkegaard blieb, ohnmächtig vor dem Immergleichen, bei diesem Gesichtspunkt seiner schriftstellerischen Tätigkeit im Potentialis. Aber es ist, so lange nach ihm, noch einmal ein Entweder-Oder entstanden, und ich stehe hier, um den Immergleichen – nein, das muß nun an eine präzise Adresse: um Ihnen, Frau Auffermann, Ihnen, Herr Fuld, und Ihren bloßen Etcetera zu sagen, daß Sie entlassen sind – selbstbeseitigt aus dem Kreis der Kritiker, auf die diese Akademie noch zu hören bereit ist.
Halte ich eigentlich eine Laudatio, so garstig mit der Krise – oder einer Krise – beginnend? Meine Damen und Herren, ich bin bereits mittendrin, und die Lumperei mußte voran, damit leuchtend wird, was wir derweil dagegen getan haben. Wir haben mit der Preisverleihung an Michael Maar ein »Dennoch« gesetzt, wirksamer gewiß als die von Kierkegaard ins Auge gefaßte Maßnahme, und ich bin auch darum so weit nach unten gegangen, um augenfällig zu machen, aus wieviel Distanz an Respekt, Bewunderung und Genugtuung von dort aus hinaufzublicken ist zu diesem Autor und seinem Werk. Es ist ein Werk der Literaturkritik im obersten Sinn, und darin fließt vieles zusammen: mehrfach bedeutend Interpretation und Vermittlung, allbedeutend eine poetologische Grundkonfession – jenes sehr ernsthaften Verständnisses, das der große Autor, dem es gilt, ihm selber verpflichtend übererbt hat. Man könnte es zuletzt, ernsthaft verpflichtet, theologisch nennen und sein Geschäft Exegese: so sehr ist sein Blick auf das Ursprüngliche gerichtet, so sehr steht hinter den »Neuigkeiten aus dem Zauberberg« der Forschungsauftrag aus der ältesten Nachricht. Denn damals, sehr damals, bereschit, en arche, als der Anfangs-Logos knallend in seine tausend-hoch-tausend Stückwerke sprang und das Kontinuum auch der Literatur entstand, ist zugleich die Aufgabe entstanden, die grell gespalten versprengten Teilchen wiederzuvereinigen und jenen mächtigen Zusammenhang mit dem Lichtwerde-Kommando wiederzuerrichten und zu Gesicht zu bringen, den wir nicht sehen und aber metaphorisch doch glauben wollen. Sie heißt, diese Aufgabe, umfassend »Philologie«, und wo in ihren Taten die wörtliche Logos-Liebe voll erklingt, ist nicht nur der Rang ihrer Arbeit bezeichnet, sondern auch ihr Energiebedarf erklärt – und die wundersame Art der Beglückung, mit der sie sich und uns belohnt.
Was heißt das, wo sie so heißt? Als Methode, kritisches Handwerk, spirituelle Scheidekunstübung nichts geringeres als gleichsam eine subliterare Atomforschung: Aufklärung der Vernetztheit der so vielen schwirrenden Ich-Stimmen im Super-Ego-Raum Literatur. Aber es geht dabei nicht allein darum, daß auch die literarischen Figuren Ahnen haben und Verwandtschaft; es geht um die Wort-Partikel Wörter selbst und ihre genealogische Geschichte, die eine ganz andere ist als die der Tageswesen und meta-physisch noch immer. Denn nur ein Teil von ihnen hat sich ja bei jener Versprengung auf die Materieklümpchen gerettet und sich unabänderlich mit Sache aufgeladen und starrem Sinn; ein anderer blieb immer in der Schwebe, wandelbar, geschichtsfähig. Aus ihnen bestehen die sprechenden Werke wie aus jenen die faselnde Welt. Michael Maars Zauberberg-Werk zeigt paradigmatisch, an dem einzigen Autor Thomas Mann, wie die Evolution der Wörter und Werke funktioniert: wie ein Sinn ein Herkommen hat aus den Sinnen eines anderen Autors – wie er aufnimmt, was aus ihnen, ins Unvergeßliche beschrieben, abgegeben wurde – wie die Liebe-Beziehung des einen zum anderen schließlich zeugend wird und Fortpflanzung ermöglicht in die immer reichere Dauer. Daß durch philologische Kritik solchen Ranges das Lesen bereichert wird, der stumpfe Augen-Blick geschärft wird für das Wunderbare, ist nur das eine. Der Vorgang für sich, die von ihr sichtbar gemachte Erscheinung der Stadien im Fort-Lebens-Weg der Literatur, beschwört das werdende Licht selber, und daß ein Text über den »Zauberer« selber zu verzaubern vermag, macht den ursprünglichen, »logischen« Zusammenhang einmal mehr. Durchaus Magie, auch vom philologischen Pfad nicht zu entfernen, hebt da die so hinderlich abständigen Zwischen-Räume auf, zuletzt die fatalen der Zeit, läßt rückwärts wie vorwärts wirken, und daß nicht nur die Literaturen an Werken reicher werden dabei, sondern die Werke selber, aufnehmend, was doch nach ihnen kam, immerzu wachsend in ihrem eigenen Sprechen, ist das Schöpfungs-Schauspiel schlechthin –: die größten sind jene, deren Vergangenheit noch gar nicht abzusehen ist.
Das Buch, für die Tagesnachricht eine bloße Dissertation, ist ein wissenschaftlicher Essay und darum von vollendeter Subjektivität. Denn wo die Erkenntnis nicht nur in die Schöpfung, sondern in das Schaffen vordringt, um dort das Wörter-Werden zu belauschen, gibt es methodisch nur den einen Weg: nicht nur den eigenen Text dem anderen zu verschreiben, sondern auch das eigene Ich dem anderen. Ein Name des Pakts ist Identifizierung, und er heißt viel, und teuflisch Schweres; sie löst, erlöst sich erst durch Gelingen. Bei Maar zeigt es sich in der Leichtigkeit an, mit der seine Funde als Text am Ende auf uns zukommen: er ist, dieser Text, wie es theologischen Botschaften ansteht, gelassen und guter Dinge – und, da er Licht macht, vollendet heiter, – spielerisch elegant auch, manchmal bis hin zum ironischen Dandytum, – und überhaupt immer Inbegriff jener halblauten Ironie, mit der nur die ernstesten Dinge von der Welt sich selbst belächeln dürfen. Thomas Mann war ihr Meister, und Michael Maar läßt sich, ernsthaft verpflichtet, auch auf diese Meisterschaft ein, zu der sonst Nach-Schriften wahrlich selten gelangen. Daß darin nur stärker gemacht hat, was nicht umbringen konnte, stehe beiseite; es ist Mühe-und-Arbeit in sicher jedem Sinn; wir lesen die Summe von Jahren. Aber meine Lobrede wäre unvollständig, bliebe ungesagt, daß so denn ein Werk auch des Dia- und Monologs von der Meisterschaft entstanden ist, ein glanzvolles Kunst-Stück Prosa –: lesen Sie, wie er beschreibt, was geschrieben steht, wie er sogar Synonyme noch bilden kann für das schon endgültig Benannte, wie seine Exegese wie ein Zitat zu klingen fähig ist – und das Zitat wie ein bloßer Kommentar zur sich mächtig emanzipierenden Erklärung. Sehr stark stehen Selbstbehauptung und Identifizierung darin nebeneinander: so weiß er nicht nur mehr, als »man« weiß – so darf er auch, manchmal, mehr wissen, als man wissen kann, und das Schöpfergeschäft direkt übernehmen. Sind – auch Thomas Manns poetologisches Credo – die Dichter Amtsnachfolger des kommandierenden Creator Spiritus und die Werke Nachdichtungen des Grundwerks Welt, so auch die Interpreten Nachbildner der Werke noch einmal; sind jene Autobiographen immer, so mögen auch diese Selberlebensbeschreiber sein. Nur so gelingt die wahre Rekonstruktion – nur so auf alle weiteren Zeiten der gewaltige Fortsetzungsroman, dessen Autor viele Pseudonyme hat und am Ende »der Geist« ist. Daß er sich fortsetzt, unabgebrochen von der entgeisternden Zeit, beglückt uns.
Ich habe, in ein paar Metaphern skizzierend, philosophischen Brocken lediglich, ein Stückchen »Dennoch« von Sprache und Dichtung beschrieben und ein Stückchen von dem, was in der Preisdefinition »Kritik und Essay« heißt. Ein physiognomisches Fragment nur, nicht die vollen Züge. Michael Maars Zauber-Bergwerk hat viele Stollen und Quergänge, und eine Minuten-Führung kann es nicht geben. Am Ausgang steht man im Licht; man darf auch, wie der Autor selber, ein bißchen benommen dort stehen. Wohin wäre noch zu blicken, was von dort aus zu sehen? Als Lavater, der seltsamste der Aufklärer, das Porträt des Namensgebers unseres Preises, Johann Heinrich Merck, betrachtete, notierte er sich, unter anderem, der da werde noch »viel Gutes thun«. Die Akademie liest die Bücher und ihre Verfasser sehr genau, vorwärts und rückwärts, auch im übertragenen Sinn; zu den Mühen, die sie sich macht, gehört zuletzt: auch mitzulesen, was in der Evolution der Literatur einer sein wird, der geworden ist, was er ist. Ich gebe zum Schluß nur weiter, was gelesen wurde: Michael Maar, der – wie man so redet – noch »junge Mann«, der sehr gute Kritiker, bereits geschmäht von den Schlechten –: er wird noch viel Gutes tun.