Johann-Heinrich-Merck-Preis

STATUT

§ 1
Der Johann-Heinrich-Merck-Preis für literarische Kritik und Essay pflegt seit 1964 das für die Literatur unverzichtbare Gegenüber der herausragenden Literaturkritik und der essayistischen Erkundung intellektuellen Neulands.

Der Preis trägt den Namen von Johann Heinrich Merck als eines Verfassers vorbildlicher Kritiken und Essays.

Der Preis wird von der Merck KGAa gestiftet und ist aktuell mit 20.000 EUR dotiert. Er wird jährlich im Rahmen der Herbsttagung verliehen.

§ 2
Der Johann-Heinrich Merck-Preis wird vergeben für herausragende Leistungen auf dem Gebiet der Literaturkritik und der Essayistik.

§ 3
Das Vorschlagsrecht liegt in den Händen der Jury.

§ 4
Die Jury besteht aus dem Erweiterten Präsidium der Akademie.

Die Jury berät über die Kandidatinnen und Kandidaten in einem mehrstufigen Verfahren.

Beschlossen vom Erweiterten Präsidium am 18. Februar 2021

Werner Spies

Kunsthistoriker
Geboren 1.4.1937
Mitglied seit 1977

... der als Kritiker der bildenden Kunst neue und treffende Ausdrucksweisen für ihre Zerrissenheit wie für ihre Behauptung in unserem Jahrhundert gefunden hat.

Jurymitglieder
Juryvorsitz: Präsident Peter de Mendelssohn
Vizepräsidenten Dolf Sternberger, Eva Zeller, Beisitzer Karl Krolow, Horst Rüdiger, Bernhard Zeller, Ehrenpräsident Gerhard Storz

Laudatio von Carl Linfert
Kulturhistoriker und Journalist, geboren 1900

Der zu Lobende schreibt einfach und ohne Umstände, scheut auch die banalen Fakten nicht. Anders gesagt: er ist Kunsthistoriker und hat als kritischer Kenner mit Einzelheiten so sehr zu schaffen, daß sie sein Wort bisweilen ins Geschäftige drängen. Vor diesem Hintergrund aber zeigt er seine Haupteigenschaft: in den mehreren großen, mit Atem und Ausdauer verfaßten Schriften kehren oft und oft die Stellen wieder, an denen er etwas herausbringt, eine Eröffnung, ja sogar Offenbarung, die vor seiner Wortbemühung nicht da war. Dies ist die Kraft, in der der Preisträger, Werner Spies, seit Jahren zunimmt. Daß »literarische Kritik« durch den Preis gelohnt wird, gilt weiterhin; es gibt eben auch die Kunstliteratur. Und der Namengeber, der viel zu einsilbig bekannte Johann Heinrich Merck, hat um 1780 herum gern und mit Scharfsinn in Wielands »Teutschem Merkur« zu bildender Kunst geschrieben. So hat der Preis diesmal eine neue Pointe.
Was ist wichtig genommen worden am bildkünstlerischen Lauf dieses Jahrhunderts? Es begann, nachdem der Jugendstil ausgelaufen war, mit dem Kubismus, den verschiedenen Strömungen, die man als Expressionismus sehen kann; es folgen »Neue Sachlichkeit«, Konstruktivismus, Tachismus, Pop Art und schließlich die Objektkunst. Dazwischen lag, meist als einigermaßen exklusiv angesehen, der Surrealismus und als dessen Vorstufe der Dadaismus. Dies beides ist die Domäne von Werner Spies. Eine der Hauptfiguren, Max Ernst, hat er in einem großen und tiefgründigen Buch beschrieben und verständlich gemacht, das, als bezöge es sich nur auf einen Teil seines Werks, »Collagen« heißt, – versehen mit dem Untertitel »Inventar und Widerspruch«. Was der Autor so rätselhaft ankündigt, ist eine Entdeckung. Gefunden nämlich hat er, daß der Maler, den man meist auf seine Phantastik hin ansieht, eben aus der Collage, aus dem Kombinieren von fremden Bildern und Bildstücken seine so ungeheure Phantasie erst gewonnen und gebildet hat. Das gilt nicht nur für die frühen Übermalungen und gestückten Graphiken, sondern weiterhin für die immer mehr ineinander überfließenden und dennoch kollidierenden fremden Formen, aus denen er schließlich ganze »Collageromane« gemacht hat. Doch nicht nur dies, es gilt ebenso für jedes seiner gemalten Bilder, in denen die Kombinatorik nicht aus Kleben und Stückeln, vielmehr aus dem Auge selber kam. Der Anfang von alledem war eine Scheu und Skepsis des Zwanzigjährigen, der nichts als das schon Gesehene gelten ließ. So sehr zweifelte der in jeder Form Virtuose, ob Kunst noch möglich sei; ebendies war der Sinn des Dadaismus. Wie nahe diesem Sinn der Bilder Werner Spies geschrieben hat, wird jeder aus folgenden Sätzen hören: »Max Ernsts Neigung, alle Erscheinungen zu lesen, mit bereits Gesehenem in Beziehung zu setzen, versetzt ihn in die Unmöglichkeit, einen Flekken, eine Wolke, eine Narbung oder eine Maserung einfach hinzunehmen. Deshalb kann es für Max Ernst keine gegenstandslose Malerei geben, deshalb enthalten auch die Bilder, die scheinbar nur noch die Freude am Sensualismus von Formen und Farben auszudrücken scheinen, immer eine merkliche Spur von Wirklichkeit.«
Was ist nun das Inventar, aus dem Max Ernst seit je geschöpft hat? Es ist eine Ansammlung von zufälligen, alltäglichen Sachen, wie sie sich gerade gefunden haben in Warenkatalogen, in bebilderten Natur- und Technikheftchen, in Zeitschriften für »Unterhaltsame Wissenschaft«, meist hergestellt in jenem illustrierenden »Holzstich«, der seit Mitte des 19. Jahrhunderts üblich wurde. Was dann der Maler damit tat, war die Entstellung, Verstellung, Verrätselung in ungeahnte Phantastik hinein, die noch jeden mit Schrecken erfüllt, der sie sieht. Dieser Schrecken stand auch am Anfang der ganzen Imagination. Denn was ins Auge fiel, war das Veraltete, Verbrauchte, Verkommene und doch noch Vorhandene. Dies zudem noch verwandelt in die Benachbarung des Unzusammengehörigen (wie bei allen Surrealisten); damit war der geheime, gesellschaftskritische Unterton angestimmt. Die Zerrissenheit, die damit zutage kam, haben wir in unseren Jahrzehnten in aller Kunst auch jenseits von Max Ernst bemerkt. Daß er aber auch dieses Zerrissene noch festgehalten und souverän beherrscht hat, das ist sein Ruhm und seine Potenz. Der nie aussetzende Widerspruch gegen diese Überbleibsel wurde sein Werk.
Trotzdem kann das Ausgangsmaterial nichts zur Erklärung des Endbildes beitragen. Durch Verarbeitung ist etwas Neues geworden. Es ist sein; er zeigt es uns. Eingestanden, daß es in sich, in seinem Gehaben zwar plausibel ist, aber – das hat Max Ernst stets betont – nie inhaltlich entschlüsselt werden kann. Wie unverwirrt sich Werner Spies in dieser Welt von Rätseln bewegt, ist bewundernswert. Nie läßt er sich selbst verrätseln oder in dem hier nötigen Vermutungsdenken undeutlich werden. Nie verfällt er subjektivem Irrationalismus. Wohl zwar gibt es objektive Irrationalität. Doch die läßt sich nicht durch Freuds »Traumdeutung« abtragen. Was in solchen Bildern traumartig aussieht, ist »simulierter, erfundener, umgearbeiteter Traum«. Sonst hört man fast überall, die Psychoanalyse werde helfen, Surrealismus zu verstehen. Glaubt man wirklich, Max Ernst habe seine Collagen als Randbemerkungen zur psychologischen Literatur gemeint?
Statt dessen ist Wirklichkeit beschwören das Ziel. Die aber liegt nicht schon im Inventar, im Ausgangsmaterial, sie erscheint erst in der Verwandlung, im Widerspruch der Collage. Ein Gemälde ist das unheimliche Beispiel dafür: »Die Horde«, ein Motiv, das er zwischen 1927 und 1937 öfters variiert hat – ein Vorbeizug von rüden Kerlen, die aussehen wie losgeflatterte Baumrinden in widrigem Braun. Kleinteilig sind tausend Mikroskopien gemengt. Hier zeigt sich: das Absurde ist real, nicht nur in der Seele, auch in der Welt. Unvermittelt, aber zwingend verweist Werner Spies auf das noch reine Gegenbild, auf die »Große Enzyklopädie«, deren Illustrationen zwischen 1760 und 1780 Diderot anzuordnen und zu überwachen hatte. Da waren, hoffend und aufklärend – noch ohne Collage –, die Produkte der Manufakturperiode zu sehen; und die wenigstens zum Teil noch von Hand gemacht. Die ein Jahrhundert späteren Populärschriften bieten, anders als Diderot, Industrieprodukte, die, heute nun selbst verschollen, aber, weil nachwirkend, für Max Ernst so anziehend wurden. Ein makabres und kurioses Inventar: zur Collage verwandelt, enthielt es Ahnung und Zukunft.
Je mehr Technik, desto öfter die gewaltsame Begegnung von Leben und Maschine. Verletzung, Blendung, Gefangensetzung sind die Motive. Werner Spies vermerkt sie an Collagen, die die Zerstörung wie die Schärfung des Sehens zugleich enthalten. In einem damit hilft er uns, die von so vielen Rätseln verwirrt sind, zu einem klareren Gefühl davon. Trotzdem hilft auch dieses Gefühl nicht, das Absurde einfach aufzulösen. Wir wühlen weiter in der Zahllosigkeit der Widersprüche, die immer minutiöser werden. Am Ende staunen wir vor der Dichtigkeit, die sich ergibt; und da wir dann nicht mehr benommen sind, erfahren wir, daß das vordem Absurde die Fülle selbst ist. Dazu nenne ich Ihnen zwei Bilder aus den dreißiger und vierziger Jahren, an die sich vielleicht manche erinnern werden: »Die ganze Stadt« das eine und »Europa nach dem Regen« das andere. In wuchernd hingewaschenen Farben haben wir – aus Elementen, die keiner kennt – das absolut Fremde vor uns. Landschaft, Dschungel, Wüste, wer weiß. Das ist die Zukunft – auf diese Weise, gemengt mit Erinnerung, sah sie Max Ernst.
Genug berichtet von dem, was Werner Spies getan hat. Ein paar Worte noch zu einigem, was sich ihm zeigt – jenseits von Fleiß –, was er im Auge hat, was er wahrnimmt. An Max Ernst hat er beobachtet, wie wirksam in allem, was er produziert, die Gebärde, die Geste ist. Eben dies Gebärdenhafte konnte sich verselbständigen, aus dem Bild heraustreten. Längst ist inzwischen die Prozeßkunst entstanden, das Bildhafte in Happenings, in Vorgänge übergewechselt, hinter denen das Werk unwichtig wurde. Max Ernst hatte viel von solchem Aktionismus, behielt aber trotzdem das Ergebnis, das Werk bei. Anders Joseph Beuys. Verschwärmt oder unsicher sind die Äußerungen über ihn. Wie anders Werner Spies 1976, als Beuys in der Biennale seine kurios verkommene »Straßenbahnhaltestelle« hergestellt hatte. Hier seien – lese ich in seiner Kritik – »einige auf wenige plastisch fühlbare Emotionen beschränkte Elemente zu sehen. Alles, was er heranzieht, spielt auf die Sickerzonen des Gemüts an, in denen Aufklärung, bewußt erlebte Geschichte verschwinden. Eine Regression, die ihrerseits Luzidität und Aufklärung zu sein beansprucht...«. Zu lesen ist es neuerdings neben achtzig seiner kritischen Essays in einem Buch, das sich »Das Auge am Tatort« nennt. Ich nenne daraus nur noch die fulminante Polemik gegen Henry Moores Ruhm. Was da so scharf gesehen wird, ist eine gefährliche Selbstbeschädigung des Bildhauers, die sich der ja unbestrittenen Potenz aufgepreßt hat. Die liegt in der verhüllten, vermummten Form. Diese Polemik ist kein bloßes Anstürmen, kein Auslöschen, wohl aber deckt sie auf, was an Grundzügen einer nicht abbildenden Skulptur verletzt ist. Es bleibt dagegen nur ein Bedenken: Moores Formen sind niemandes Imitation, wenn auch maßlos im Volumen und dessen Absolutheitsanspruch. Dafür aber bringt der Polemiker keine Milde auf.
Hier wie in den meisten dieser Essays erweist Werner Spies seine Besonderheit: er kann herausbringen, etwas aufschließen, das nicht offen sichtbar war. Das große Ganze eines Phänomens war wohl da, aber nicht gesehen. Es war, wie es der puren, auch der historischen Kennerschaft genügt, mit dumpfem Sinn zur Kenntnis genommen. So war verhindert, daß man in Formen Einsicht nahm, aus ihnen finden konnte, was sie hergaben. An den Kern kommen, fordert das Auge doch strenger. Werner Spies fordert sich stets; er gehört zu den Kunsthistorikern, die aus der gegenwärtigen Kunst ihren Sinn für das historische Schicksal von Kunst stärken, nicht umgekehrt. So weiß er, was im Gang ist, nicht nur, was war. Ebendies ist es, was mehr Lob verdient als noch so viele Einzelheiten, wie kostbar sie seien.