Johann-Heinrich-Merck-Preis

STATUT

§ 1
Der Johann-Heinrich-Merck-Preis für literarische Kritik und Essay pflegt seit 1964 das für die Literatur unverzichtbare Gegenüber der herausragenden Literaturkritik und der essayistischen Erkundung intellektuellen Neulands.

Der Preis trägt den Namen von Johann Heinrich Merck als eines Verfassers vorbildlicher Kritiken und Essays.

Der Preis wird von der Merck KGAa gestiftet und ist aktuell mit 20.000 EUR dotiert. Er wird jährlich im Rahmen der Herbsttagung verliehen.

§ 2
Der Johann-Heinrich Merck-Preis wird vergeben für herausragende Leistungen auf dem Gebiet der Literaturkritik und der Essayistik.

§ 3
Das Vorschlagsrecht liegt in den Händen der Jury.

§ 4
Die Jury besteht aus dem Erweiterten Präsidium der Akademie.

Die Jury berät über die Kandidatinnen und Kandidaten in einem mehrstufigen Verfahren.

Beschlossen vom Erweiterten Präsidium am 18. Februar 2021

Volker Klotz

Literaturwissenschaftler, Theaterkritiker und Dramaturg
Geboren 20.12.1930

... immer im Dienst einer Literatur, die von vielen Menschen erlebt, geliebt, gebraucht wird.

Jurymitglieder
Juryvorsitz: Präsident Christian Meier
Vizepräsidenten Peter Hamm, Ilma Rakusa, Klaus Reichert, Beisitzer Harald Hartung, Peter von Matt, Uwe Pörksen, Lea Ritter-Santini

Laudatio von Peter von Matt
Literaturwissenschaftler, geboren 1937

Der Blick aus der Mitte des Publikums heraus

Glücklich der Autor, der gleich zu Beginn seiner Laufbahn einen Klassiker in die Welt setzt! Glücklicher Goethe, glücklicher Klotz! Wem das gelingt, der hat seine Schäfchen im Trockenen, bevor sie erst richtig naß geworden sind. Jetzt kann er schreiben, wie ihm ums Herz ist, und braucht sich nicht zu kümmern um Kritiker, Kollegen, Kontrahenten und Konkurrenten. Zur Ruhe könnte er sich setzen bei lockigem Haar und zuschauen, wie die Auflagen klettern. Tut er aber nicht. Ist ihm zu langweilig. Er will mit seiner Freiheit etwas anfangen.
Was Goethe mit seiner Freiheit angefangen hat, darf als bekannt vorausgesetzt werden. Was Klotz mit seiner Freiheit angefangen hat, davon ist hier zu reden. Kaum dreißig Jahre war er alt, als er seine souveräne Theorie der Bühnenkunst vorlegte: Geschlossene und offene Form im Drama. Daran kam gleich keiner mehr vorbei, der über Bühne und Theater schreiben wollte. Von jetzt an sprach man von Klotz mit dem bestimmten Artikel. »Der Klotz«, das war dieses Buch; »der Klotz«, das war auch dieser Autor. Ein schöner, ein deutlicher, ein nützlicher Einsilber.
Dabei war das frühe Buch nicht einmal der Anfang. Vorangegangen war die erste deutsche Brecht-Monographie. Sie erschien zwei Jahre vor der Promotion des jungen Wissenschaftlers, als wollte er damit schon sagen: In mir habt ihr einen, der viele Gebräuche auf den Kopf stellt.
Ohne die vorgängige Arbeit an Brecht wäre das berühmte Dramenbuch wohl nicht geschrieben worden. Das Denken in zwei dramaturgischen Grundformen war für Brechts Theaterreflexion grundlegend. Auf der sauberen, der über-sauberen Unterscheidung zwischen aristotelischem und nichtaristotelischem Drama beruhte seine Theorie, durch sie gewann er die Sicherheit seiner Praxis. Was aber bei Brecht in einer Fülle wenig geordneter Thesen und Behauptungen vorlag, daraus machte Volker Klotz ein hoch differenziertes typologisches System, empirisch abgestützt auf die breite weltliterarische Tradition.
Dennoch ist der Anstoß zu diesem Buch nicht der Hauptgewinn seiner frühen Auseinandersetzung mit Brecht. Der fröhliche Materialismus des großen Dramatikers, der die Kunst nicht denken konnte ohne den Genuß und den Genuß nicht ohne die Kunst, infizierte Volker Klotz mit einer eigentümlichen Leidenschaft, die auf Jahrzehnte hinaus sein Forschen und Schreiben beflügeln sollte. Diese Leidenschaft wird augenfällig in seinem grundsätzlichen Verständnis von Literatur. Literatur ist für Volker Klotz ein Ereignis, das von vielen erlebt wird. Zu einem Roman gehört für ihn ein Heer von Lesern. Zu einem Theaterstück gehört für ihn die Menge der Zuschauer, ihr Klatschen, Pfeifen, Johlen und Jubeln, ihr Verstummen und Schluchzen dort, wo es ans Herz greift, ihr Herausplatzen dort, wo das Zwerchfell angegriffen wird. Dabei fragt er nicht, ob sich das Schluchzen ästhetisch rechtfertigen lasse oder etwa nur der Sentimentalität unkultivierter Seelen entspringe. Und er fragt ebenso wenig, ob der Anlaß des Gelächters geistvoll genug sei oder unter Umständen mit niedrigen Impulsen in Verbindung stehe. Volker Klotz ist der Mann, der immer im Publikum sitzt. Aus dieser Perspektive sieht er die Kunst, erfährt er die Kunst. Er kann ein Werk nicht ohne die Menschenmenge denken, in die es hineinwirkt. Er ist schlechthin nicht imstande, das Kunstwerk nur in sich selber schweben und scheinen zu sehen, erdenfern, ein Ereignis des reinen Geistes für den reinen Geist.
Diese Leidenschaft, die ihm einst unmittelbar in die Glieder gefahren sein muß, hat einen ganz eigenen Blick und eine ganz eigene Neugier entstehen lassen. Es ist der Blick aus der Mitte des Publikums heraus. Es ist die Neugier auf das, was die Kunst mit dem Publikum, was das Publikum mit der Kunst anstellt. Kein Gedicht, kein Roman, kein Theaterstück ist ja an sich real vorhanden. Real vorhanden sind nur Papier und Druckerschwärze. Zum Gedicht, zum Roman, zum Theaterstück wird die Verbindung von Papier und Druckerschwärze erst in den Köpfen der Leser und bei jedem von ihnen auf andere Weise. Das Publikum ist eine phantastische Hydra, in deren sich unentwegt multiplizierenden Gehirnen das angeblich einmalige Kunstwerk sich unentwegt multipliziert und tausendfache Gestalt gewinnt. Die Germanisten machen sich gerne vor, daß das singuläre Werk in ihrem singulären Gehirn zur singulären Wirklichkeit finde. Hier hat Volker Klotz stets protestiert, ist trotzig aufgefahren, aus der Mitte des Publikums heraus: Einspruch, meine Herren Kollegen! Geschätzte Kolleginnen, Einspruch! Die Wirklichkeit der Kunst steckt in den Köpfen der Hydra! Erst die Vielen schaffen das Einmalige!
Wenn man das Werk dieses Forschers und Autors überblickt, springen einen die Titel förmlich an, die solchem Blick und solcher Neugier entspringen. Bürgerliches Lachtheater heißt ein Buch, und es handelt von »Komödie, Posse, Schwank, Operette«, von jenen Formen also, die erfolgreich sind und vielbeliebt, aber als unfein gelten in akademischen Kreisen. Abenteuer-Romane ist ein anderer Titel. Da geht es um Sue und Dumas, um Karl May und Jules Verne, lauter Namen, die in den landläufigen Abhandlungen zum europäischen Roman vorwiegend in Anmerkungen erscheinen. Aber welches Leben haben sie geführt, führen sie immer noch in den wogenden Köpfen der Hydra! Und wem sonst als Klotz könnten wir ein Werk verdanken, einen Wurf verdanken mit dem bereits klassischen Titel: Dramaturgie des Publikums, dessen Zusatz alles ausspricht, was ich bisher gesagt habe, nur knapper und deutlicher: »Wie Bühne und Zuschauer aufeinander eingehen.« Und wenn einmal ein Buch ganz schlicht nur Operette heißt, so blitzt der provozierende Akzent ganz sicher im Untertitel auf: »Operette. Porträt und Handbuch einer unerhörten Kunst«.
Dennoch wäre es falsch, das weitläufige Werk von Volker Klotz allein auf den widerborstigen Gestus gegen den akademischen Mainstream festzulegen. Er hat viele Pfade gebahnt, die später von großen Scharen fleißig abgewandert wurden. So etwa, als er 1969 schon ein Buch herausbrachte mit dem Titel Die erzählte Stadt. Was hat das nicht alles nach sich gezogen an Studien und Untersuchungen − innerhalb und außerhalb der Kulturwissenschaft, von der damals zwar noch niemand sprach, die indessen von Volker Klotz bereits fröhlich betrieben wurde. Und wie wird auch sein jüngster Streich wieder Nachfolger zeugen, das turbulente Buch über die Dinge auf der Bühne, all die vielen Gegenstände, die in der Theaterhandlung zu eigentlichen Protagonisten werden können, zu Gegenspielern und Widersachern, diese tückischen Objekte, über die man stolpert, nach denen man hascht, die man sucht und wieder verliert, die einen verraten oder retten oder umbringen. Einmal mehr tut uns hier der Mann mit dem eigenen Blick und der eigenen Neugier die Augen auf für etwas, was wir immer schon gewußt und doch noch nie gesehen haben.
Jetzt bekommt er den Merck-Preis, endlich, der geborene Darmstädter, dessen besondere Liebe immer dem Datterich gehört hat, dem herrlichen Darmstädter Volksstück aus dem Vormärz. Da sitzt Falstaffs abgezehrter Bruder am Wirtshaustisch und schwatzt daher in breitem Hessisch, und wenn die Tür aufgeht, kommen Knieriem, Leim und Zwirn herein, Nestroys Vagabunden, und bringen Grüße aus Wien. Auch hier steckt Klotz im Publikum, mitten unter den lachenden Darmstädtern von 1841, so wie er mitten unter den Athenern sitzt, wenn sie über den neuen Aristophanes lachen, wie er im Parterre des Globe-Theatre steht, das dröhnt vom Gelächter über den Sommernachtstraum, wie er sich unter die Höflinge im Palais-Royal mischt, wo Molière persönlich den Eingebildeten Kranken spielt. So, mitten im Publikum, studiert er die Literatur. Und dann schreibt er darüber, präzis, beweglich, elegant, ohne ein überflüssiges Wort und gänzlich unbelastet von der Tatsache, daß ihn jedermann versteht.