Johann-Heinrich-Merck-Preis

STATUT

§ 1
Der Johann-Heinrich-Merck-Preis für literarische Kritik und Essay pflegt seit 1964 das für die Literatur unverzichtbare Gegenüber der herausragenden Literaturkritik und der essayistischen Erkundung intellektuellen Neulands.

Der Preis trägt den Namen von Johann Heinrich Merck als eines Verfassers vorbildlicher Kritiken und Essays.

Der Preis wird von der Merck KGAa gestiftet und ist aktuell mit 20.000 EUR dotiert. Er wird jährlich im Rahmen der Herbsttagung verliehen.

§ 2
Der Johann-Heinrich Merck-Preis wird vergeben für herausragende Leistungen auf dem Gebiet der Literaturkritik und der Essayistik.

§ 3
Das Vorschlagsrecht liegt in den Händen der Jury.

§ 4
Die Jury besteht aus dem Erweiterten Präsidium der Akademie.

Die Jury berät über die Kandidatinnen und Kandidaten in einem mehrstufigen Verfahren.

Beschlossen vom Erweiterten Präsidium am 18. Februar 2021

Volker Klotz

Literaturwissenschaftler, Theaterkritiker und Dramaturg
Geboren 20.12.1930

... immer im Dienst einer Literatur, die von vielen Menschen erlebt, geliebt, gebraucht wird.

Jurymitglieder
Juryvorsitz: Präsident Christian Meier
Vizepräsidenten Peter Hamm, Ilma Rakusa, Klaus Reichert, Beisitzer Harald Hartung, Peter von Matt, Uwe Pörksen, Lea Ritter-Santini

Süchtiges Erzählen? Totschlagvokabeln? George und Dr. Oetker? Fragelitanei an poetische und ordinäre Sprachgebilde

Es ist schön, daß es so etwas gibt wie die Akademie für Sprache und Dichtung. Und daß sie so heißt, wie sie heißt. Denn das vielsinnige UND in ihrem Namen eröffnet einen großen Spielraum, herumzuüberlegen: was alles in der Sprache steckt, wenn Dichtung es ihr entlockt. Aber auch: wieviel mehr und Erquicklicheres wir aus unsrer eingeengten Welt machen könnten, wenn wir ernsthaft all das in Betracht zögen, was die Dichtung der Sprache entlockt.
Der Akademie, die zu solchen Überlegungen ermuntert, danke ich herzlich für den Johann-Heinrich-Merck-Preis. Zu danken ist aber auch noch einem anderen Adressaten. Der nämlich hat überhaupt erst ermöglicht, das zu machen, wofür ich den Preis erhalten habe. Es ist die Bevölkerung unsrer Sozietät, die − via Steuergelder − einen Literaturbeamten auf Lebenszeit in jeder Hinsicht aushält. Hinreichend und dauerhaft hat sie ihn ins Brot gesetzt sowie an den Schreibtisch, nebst Lehrstuhl einer staatlichen Universität. Allein dadurch konnte er tun, was im freiwirtschaftlichen Berufsleben ausgeschlossen wäre. Er konnte beinah unentfremdet arbeiten und dabei aufwendige wissenschaftliche Bücher hervorbringen − ganz nach eigenem Gutdünken. Jene Steuerzahler machten und machen möglich, daß er redend und schreibend Leuten hilft, das erstaunliche Vergnügungsvermögen der poetischen Künste zu erkennen, zu genießen und zu gebrauchen.
Seine entsprechenden Versuche dauern an. Deshalb will ich hier nicht von getanen Arbeiten sprechen. Vielmehr von ungetanen, von halbfertigen oder lediglich geplanten. Auch ihre Gegenstände aphrodisieren schon lang oder neuerdings meine lauernde Herauskriegelust. Ähnlich unabweisbar wie dermaleinst bei der berühmten Kurtisane Ninon de Lanclos. So jedenfalls behauptet es ein Chanson des großen Oscar Straus. In entwaffnendem, strikt antimilitaristischem Marschtakt verspricht der Refrain:

»Ninon, Ninon, / bei der gabs kein Pardon,
Sah die einen Mann, / da fragte sie : »Wann?«
Dann mußte er einfach ran.«


Ich werde Ihnen also, statt eines wohlgeformten Miniaturvortrags, eine holpernde Litanei zum Besten geben, die jene halbgaren Produkte aufzählt. Wozu aber sie überhaupt ausplaudern? Um durch ihr thematisches Vielerlei dem Gerede in unsrer Fachzunft lebhaft zu widersprechen: es sei ja alles schon erforscht. Die das irrig meinen, schauen eben nicht auf die Sachen, sondern nur auf den vorgeschriebenen Forschungsstand. Ähnlich kunterbunt wie die Themen ist meine Litanei, die sie aufsagt. Sie gleicht einem lückenhaften Rosenkranz mit unterschiedlich dicken Perlen.
Immerhin zwei der Vorhaben sind schon halbwegs fertig. Einerseits ein schmales Buch Zum Steckbrief von Lyrik. Es fahndet nach dem roten Faden in Gedichten; also danach, was sie zusammenhält ohne jeden Hergang, der sich episch nacherzählen oder szenisch vorführen ließe. Andrerseits ein breites Buch. Es bestaunt eine uralte, offenbar unstillbare Sucht menschlicher Geselligkeit, die Sucht nach Erzählen. Eben diese Tätigkeit, ihr jeweiliges Wie und Wozu, wird da an epischen Großkonstruktionen beobachtet: von Odyssee bis Decamerone, von Don Quijote bis zu Romanen Döblins und Fuentes’.
Nun zur eigentlichen Litanei der anstehenden Projekte, mal ohne, mal mit näherer Erläuterung.
− Eine Literaturgeschichte epochentypischer Werk-Schlüsse, aus denen sich beides ablesen ließe: die literarischen Bauprinzipien der jeweiligen Zeit, aber auch das gesellschaftliche summum bonum und summum malum, mit dem das zeitgenössische Lesepublikum am Schluß des Werks verabschiedet wird.
Ferner diverse Abhandlungen:
− über poetisch entkräftete Theodizee. Das heißt, über die Weise, wie die herkömmlichen theologisch spitzfindigen Rechtfertigungen Gottes für die Übel in der von ihm geschaffenen Welt gegenstandslos gemacht werden: weil nicht Gott, sondern der epische Dichter diese Übel strategisch einsetzt, um überhaupt zu erzählen und sie dabei erzählend zu überwinden.
− über die publizistische Verwandlung von fragwürdigen wissenschaftlichen Begriffen in politische, mehr oder minder buchstäbliche Totschlagvokabeln. Ergiebig wäre da ein Vergleich zwischen den Vokabeln »Totalitarismus« seit den fünfziger Jahren und der Vokabel »Terrorismus« heutzutage.
Und schließlich, gemeinsam mit Aiga Klotz:
− ein unredliches exegetisches Bilderbuch zur aberwitzigen Ikonographie von Straßenverkehrszeichen, im internationalen Vergleich. Arbeitstitel: Wahrhafte Verkehrsfibel für Kinder und Kirgisen.
Nun zu den näher erläuterten Projekten. Sie verfolgen, an diversen Gegenständen, das Widerspiel zwischen poetischen und außerpoetischen Verwendungsformen von Sprache. Rücksichtslos vergleichend, richten sie ein poetisch geschärftes Augen- und Ohrenmerk auf sprachliche Alltagsäußerungen und ein alltagsgeschultes Augen- und Ohrenmerk auf poetische Werke.


1. Wie geistlos ist das Alphabet?

Wieso hat es, durch Jahrtausende und viele Sprachen, das Grundmuster seiner Reihenfolge beibehalten? Wodurch entsteht der Eindruck, die Sequenz seiner Buchstaben − erst Alpha, dann Beta und so fort − sei nicht beliebig, sondern zwingend, folgerichtig, ja sogar sinnhaltig? So, daß die Flanken, der erste und der letzte Buchstabe, sowohl Vollständigkeit wie schlüssigen Zeitablauf suggerieren. Redewendungsreif: von Alpha bis Omega, von A bis Z. Aber: das Alphabet reiht nicht bloß sichtbare Schriftzeichen, es reiht zugleich hörbare Laute, jedenfalls dort, wo es überhaupt Vokale erfaßt. Was besagt nun das klingende Ensemble ihrer Nachbarschaft? Und wie ziehen Dichter ihren Nutzen daraus?


2. Worin trifft sich das Massenkochbuch von Dr. Oetker mit den elitären Versen von Stefan George?


Im herrischen Gestus des MAN NEHME. Wenige Jahre vor dem Gedichtband Das Jahr der Seele (1897) hatte Oetker seinen Nahrungsmittelkonzern gegründet und den Erzeugnissen die Gebrauchsanweisung als bebildertes Opus mitgeliefert. Im einen Fall erheischt das MAN NEHME die Arten und Mengen des Materials sowie die Handgriffe beim Verfertigen der Kuchen genauso gebieterisch wie im andern Fall die rituellen Verrichtungen beim lyrischen Umgang mit Natur und eigenem Innenleben. Etwa so:

»Dort nimm das tiefe gelb, das weiche grau
von birken und von buchs [...]
die späten rosen welkten noch nicht ganz,
erlese, küsse sie und flicht den kranz
vergiß auch diese späten astern nicht.«

Mein Vergleich soll nicht etwa, kabarettistisch, lyrisches Versmaß und Kochtopf in lachhaften Einklang bringen. Er fragt vielmehr danach, wieso der nämliche imperatorische Gestus sich zur nämlichen Zeit geltend macht. Vollends ließe sich, vergleichend, der grundsätzliche Unterschied verdeutlichen zwischen pragmatischem und lyrischem Sprechen. Einerseits der Sprechakt handfester Anweisung, deren Endzweck − vollendeter Kuchen − mit dessen Vertilgung erlischt. Freilich nur so lang bis zum von Oetker und Hausfrau erwünschten iterativen nächsten Mal. Andererseits die ähnlich strengen und genauen Winke in Georges Gedicht, die einem gleichermaßen einmaligen und überdauernden lyrischen Vorgang gelten.

3. Macht und Ohnmacht dunkler Metaphorik: dort in Góngoras Gedichten, hier im aktuellen politischen Jargon

Wie beim Projekt Oetker/George mag man einwenden, hier werde leichtfertig verglichen zwischen zwei allzu entlegenen, heterogenen Vergleichspartnern. Und es habe sich, der da vergleicht, vermutlich infizieren lassen vom Gegenstand selber, von der waghalsigen Sprachbildnerei des Don Luis de Góngora. Jenes barocken Lyrikers, von dessen Gedichten Garcia Lorcas Definition ausgeht: »Die Metapher verbindet zwei entgegengesetzte Welten mit einem Reitersprung der Bildimagination.« Nein, mit solcher Rittmeisterschaft will sich mein methodischer Vergleich durchaus nicht messen. Nein, er ist lediglich angeregt vom beachtlichen tertium comparationis zwischen der alten poetischen und der neuen politischen Metaphorik. Angeregt zu den Fragen: wie, wozu und mit welcher Wirkung werden da und dort verquere Sprachbilder entworfen, die prima vista kaum zu begreifen sind. Dabei sind es nicht nur vereinzelte Metaphern, sondern verschiedenartige, die einander kreuzen und überlappen. So daß, was sich da zusammenballt, den Lesern dunkel vorkommen muß.
Der Dichter Góngora nennt eine »Grotte das melancholische Gähnen der Erde«, nennt Inseln eines Flusses »dichtbelaubte Parenthesen in der Strömung.« Und den unsteten Flug einer nahrungsuchenden Biene lyrisiert er uns folgendermaßen vor die inneren Augen und Ohren:

»ein irres Goldkorn, von der Luft gewiegt,
bald Feuchte trinkend aus dem frischen Winde,
bald Schweiß des Himmels, wenn sie saugesüchtig
der stillen Sterne Speicheltau befliegt.«

Wer dies liest, mag zunächst befremdet stutzen: über die Erde, die melancholisch gähnt; übers syntaktische Element der Parenthese, das dichtbelaubt die Flußströmung staut und teilt; über die Verknotung disparater Erfahrungsbereiche − kosmische, agrarische, physiologische −, die jenen Bienenflug poetisch heraufbeschwört. Jedoch, die anfangs stutzenden Leser − ihrerseits immer schon vollgesogen mit ebenso vielerlei sinnlichen Weltwahrnehmungen − fühlen sich angestachelt, das vorläufige Dunkel der Bildersprache zu belichten. Lassen sie sich darauf ein, können sie unversehens nie gehabte Einsichten gewinnen in den Reichtum an Lebensregungen, der sie umgibt und der in ihnen selber sich regt.
Nicht solchermaßen befreiend und erhellend, sondern erstickend und verfinsternd wirkt hingegen die Metaphernhäufung im politischen Jargon. Hier nur zwei Beispiele:
− »Weltgipfel endet mit Eklat.« Untertitel: Kanzler: in vielen Punkten Schneise geschlagen. (Stuttgarter Zeitung)
− »Noch sind nicht alle Punkte des Konjunkturpakets abgesegnet worden« (ORF, Nachrichten)
Solche Bildersprache entwendet unsrer wahrnehmbaren Welt sogar die Grundkategorien von Raum und Zeit, samt der lebendigen Vielfalt dessen, was darinnen leibhaftig und tatsächlich geschieht. Gipfel, auch ohne Welt, ist seit Jahrzehnten eine Lieblingsfloskel im politischen Jargon. Unabsichtlich verrät sie die Selbsteinschätzung jener Staaten, die auf alle anderen Staaten herabsehen, die sie drunten wissen und halten. Insofern stimmt die betonte Vertikale. Da aber die Floskel keinesfalls ein derart kritisches Selbstporträt anstrebt, ist sie ansonsten als Metapher sinnentleert. Verhohlenes Machtbewußtsein ersetzt den gekappten Bezug zur sinnlich faßbaren Welt. Erst recht das Avancement des Gipfels zum »Weltgipfel« hätte nur dann einleuchtende Bildkraft, wäre da eine triftige Parallele zur weltweit höchsten geographischen Erhebung des Erdballs. Die aber fehlt. Stattdessen »endet« der »Weltgipfel« weder räumlich noch zeitlich an irgend einem Endpunkt. Er endet vielmehr überhaupt nicht. Denn ein Eklat ist ja ein weiterreichendes Ereignis. Auch in unsrem zweiten Beispiel ist der mögliche Bezug zur sinnlichen Erfahrungswelt gelöscht. Nie hatte das »abgesegnete« »Paket der Konjunktur« etwas zu tun mit der Paketpost oder gar mit einer segnenden Priesterschaft. Und ebenso bodenlos unzugänglich für unsre Sinne und Verstandeskräfte sind die »Punkte«, in die oder in denen der Kanzler seine »Schneise schlägt«.
»Nur kein Gelächter!« So beginnt der Prolog von Wedekinds tragikomischem Schauspiel König Nicolo. »Nur kein Gelächter! Toren seid auch ihr, / So blind wie ich.« Auch die Beispiele meines letzten hier angedeuteten Untersuchungsprojekts sind nicht zum Lachen da. Erschreckend sind sie. Zumal in einem Gemeinwesen, das sich demokratisch nennt. International und schon lang, aber immer emsiger betreiben diese sprachliche Verfinsterung Politiker jeder Couleur. Verstärkt und vervielfältigt durch Presse und Elektromedien machen sie nun auch die Augen und Ohren ihres lesenden und gaffenden Publikums arbeitslos. Unentwegt erzeugt wird da eine Bildersprache von Kurzsichtigen für Blinde, denen außerm Sehen auch das Hören vergangen ist. Völker aller Länder sind es, die solches Sprachblendwerk dümmlich vereint. In jedem Land ein selber verstummtes Publikum, das man alle paar Jahre wieder zur Stimmabgabe lockt. Und zwar mit lauter gegenstandslosen Bildern und Tönen. Zur Wahl zwischen Was und Was? Eine deutliche Alternative verschwindet − auch − hinter jener obskuren, schlechtweg verdunkelnden Metaphernsprache. Denn die bringt mit der sichtbaren Welt zugleich die treffenden Wörter und Sätze zum Verschwinden.
Auch solche unschönen Mißstände treiben einen Literaturwissenschaftler um, der sich lieber ganz und gar den schönen Sprachkunststücken verschreiben würde. Sie schubsen ihn brachial zum Schreibtisch, um etwas gründlicher darüber nachzudenken und darzulegen als es jetzt eben hier möglich war in dieser Litanei von nichts als antippenden Aproposʼ. Genauer, materialreicher und schlüssiger argumentierend hätte es zu geschehen. Aber allemal auch cum ira et studio.