Johann-Heinrich-Merck-Preis

STATUT

§ 1
Der Johann-Heinrich-Merck-Preis für literarische Kritik und Essay pflegt seit 1964 das für die Literatur unverzichtbare Gegenüber der herausragenden Literaturkritik und der essayistischen Erkundung intellektuellen Neulands.

Der Preis trägt den Namen von Johann Heinrich Merck als eines Verfassers vorbildlicher Kritiken und Essays.

Der Preis wird von der Merck KGAa gestiftet und ist aktuell mit 20.000 EUR dotiert. Er wird jährlich im Rahmen der Herbsttagung verliehen.

§ 2
Der Johann-Heinrich Merck-Preis wird vergeben für herausragende Leistungen auf dem Gebiet der Literaturkritik und der Essayistik.

§ 3
Das Vorschlagsrecht liegt in den Händen der Jury.

§ 4
Die Jury besteht aus dem Erweiterten Präsidium der Akademie.

Die Jury berät über die Kandidatinnen und Kandidaten in einem mehrstufigen Verfahren.

Beschlossen vom Erweiterten Präsidium am 18. Februar 2021

Reinhard Baumgart

Schriftsteller, Literaturkritiker und Theaterkritiker
Geboren 7.7.1929
Gestorben 2.7.2003
Mitglied seit 1983

Seine Rezensionen und Essays erreichen eine Luzidität, die das Handwerk des Kritikers zur Kunst bringt.

Jurymitglieder
Juryvorsitz: Präsident Herbert Heckmann,
Vizepräsidenten Ludwig Harig, Hans-Martin Gauger, Helmut Heißenbüttel, Beisitzer Beda Allemann, Günter Busch, Hans Paeschke, Lea Ritter-Santini, Bernhard Zeller, Ernst Zinn, Ehrenpräsident Dolf Sternberger

Worüber man schweigen muß, davon kann man schreiben

In mein zweites Buch, als damals noch junger Autor, habe ich oft eine Widmung hineingeschrieben, zum allgemeinen Erstaunen, mein eigenes eingeschlossen, die frei aus dem Lateinischen übersetzt lautete: »Die siegreiche Sache hat den Göttern gefallen, die verlorene gefällt dem Cato.« Niemand, wie gesagt, verstand offenbar den Sinn des Bekenntnisses in diesem Buch von diesem Autor, und auch der Autor stand, diese Widmung schreibend, wie unter einem inneren Diktat. Seitdem ist meine Lebensgeschichte fortgeschritten und mit ihr auch endlich meine Einsicht in sie. Ich ahne nun etwas genauer als damals, warum ich immer noch und immer stärker von Erfolgen und Karrieren mit großem Befremden höre oder lese, warum ich auf Geschichten von Verlusten und Untergängen reagiere mit einer unwillkürlichen Sympathie.
Das scheint zu passen zu diesem Preis, der den Namen Johann Heinrich Mercks trägt. Ihn halten wir zwar für einen Mann der Aufklärung, doch sein Leben ist merkwürdig verdunkelt, vor allem durch sein Ende: 1791, gerade fünfzig Jahre alt, hat Merck sich hier in Darmstadt erschossen. Der Kritiker Merck schoß sich ins Herz, der Dichter Kleist genau zwanzig Jahre später in den Kopf. Erschüttert zeigt sich die Literaturgeschichte nur durch einen dieser Todesfälle. Ein Kritiker weniger –, das scheint kein unersetzlicher Verlust.
Merck also muß damals, 1791, sein Leben für verloren gehalten haben, dieses sein flackerndes Leben zog sich plötzlich am toten Punkt zusammen zu einer Summe aus Nichts. Als Einzelposten wären zu nennen: unglückliche Ehe und unglückliche Geschäfte, Gram über die sich verdunkelnde Aufklärung und wohl auch über die in eine Wende taumelnde französische Revolution, dazu undeutliche Krankheit, somatisiert oder nicht, »Melancholie«. Literaturkritik hat ihn damals, 1791, kaum noch beschäftigt, doch hätte er wohl auch sie stillschweigend aufgenommen in die Verlustrechnung seines Lebens. Für uns wäre das fast eine Erleichterung, ein Trost, wenn schon vor zweihundert Jahren, als die große Zeit der Rezensenten noch kommen sollte, ein empfindlicher Kopf die Literaturkritik für eine verlorene Sache gehalten hätte.
Denn als solche gilt sie nun wieder. Gerade in diesem Jahr haben das altgediente, listige Auguren, aber auch junge, muntere Unkenrufe verkündet. »Er ist von der gesellschaftlichen Bühne abgetreten«, schreibt Hans Magnus Enzensberger über den Kritiker, »weil er nicht mehr gebraucht wird.« Kritiker könnte heute jeder Leser sein, behauptet Willi Winkler, deshalb müßte keiner mehr Kritiker spielen. Dann also betreiben wir unser Geschäft nur noch im schalltoten Raum.
Totgesagtes lebt besonders lange, heißt es. Auch die Literatur, schon vor zwanzig Jahren zur Mumie erklärt, hat uns das inzwischen bewiesen. Und sicher sind solche Untergangsorakel so ganz ernst nie gemeint, sondern auch als Köder, Spielzeug, Reizstoff: hier ist mein starkes, glänzendes Argument – wer bietet dagegen? Ich also biete nicht – nicht hier und heute. Lieber lasse ich mich wieder einmal ergreifen von meiner alteingesessenen Sympathie für eine – gesetzt den Fall – verlorene Sache und ergreifen vom Merck-Preis, der so etwas Vergängliches und Untergehendes auch noch fördern will. Den siegreichen Sachen wird ja ohnehin und triumphal geholfen, im Himmel und auf der Erde, von Göttern und Medien, Zeit- und Weltgeist.
Defätismus klingt heute immer brillant und Hoffnung töricht. Trotzdem möchte ich fragen: Könnte, wenn schon das Rezensionswesen dahinwelken sollte, die Kritik überwintern? Nun haben die Stifter dieses Preises ihn ja nicht vergeben wollen für schlicht Literaturkritik, sondern »für literarische Kritik und Essay«. Was mögen sie wohl gemeint haben mit »literarische Kritik«? Dreimal darfst du raten.
Sicher ließe sich – wozu mir sehr die Zeit fehlt und etwas auch die Lust – eine literarische Kritik sorgfältig abgrenzen gegen eine wissenschaftlich interpretierende und eine journalistisch vermittelnde, als eine Kritik also, die freigestellt wäre von Wahrheitsnormen und von Kundendienst. Es ließe sich auch schwärmen von der literarischen Kritik als einer Verwandten der tänzerischen, musikalischen, architektonischen, dramatischen usw. Kritik und schwärmen von der Verschmelzung aller dieser Kritiken zu einem kritischen Gesamtkunstwerk: denn sicher möchte jeder von uns einmal im Leben oder einmal im Jahrzehnt eine Prosa schreiben, die gut getanzt, gebaut, gedacht, gesungen, instrumentiert, inszeniert wäre, gewürzt mit je einem Hauch Lessing, Lenin, Zadek, Nietzsche, Gropius, Callas und natürlich Karl Kraus.
Ich könnte aber auch drittens – und nur diese freieste, windige Vermutung möchte ich einige Minuten verfolgen – literarische Kritik begreifen als einen Text, der unterwegs ist zum Essay. Ob das viel hilft?
Denn vom Essay wissen wir, seit Montaigne ihn im weiten Feld zwischen Wissenschaft und Alltagserfahrung begründet oder vielmehr ausgesetzt hat, mit Sicherheit nur eines: wer genau sagen könnte, was das ist, ein Essay, der würde kaum noch einen schreiben. Gerade diese selbstbewußte Unsicherheit, eine Neugierde immer auch auf sich selbst, das hält ihn in Gang. Schon davon könnte eine Kritik lernen. Lernen zum Beispiel, daß sie sich nicht bedingungslos steuern lassen sollte von einem klipp und klaren Urteil und Ergebnis, dem Jaja oder Neinnein zu einem Buch, einem Autor, womöglich noch idiotensicher ablesbar als entweder Kaufempfehlung oder Boykottaufruf. Denn der Essay – und also auch eine Kritik, die bei ihm in die Schule geht – er scheut vor allem eines: das Fixundfertige, jede Endgültigkeit. Er wird nie einen Gegenstand »erledigen«. Dazu fehlt es ihm an beidem, an Haß wie an Pedanterie. Was nicht etwa heißt, daß er immer nur mit Zartgefühl, Schonung, einer nachsichtigen Liebe operiert. Im Gegenteil: Passion ist das Klima, in dem er gedeiht. Er »verfolgt« seine Gegenstände und das auch im aggressiven Sinn des Wortes, er kann und soll sie beuteln, sie aufbrechen und ausweiden, auf Herz und Nieren prüfen. Und er »bekniet« sie – was für ein herrliches Wort, wenn man es wieder einmal wortwörtlich nimmt. Wer etwas »bekniet«, demonstriert ja dreierlei: Hingabe, Zudringlichkeit, aber auch eine Haltung, die nicht so leicht umzuwerfen ist. So hingerissen und so fest wünsche ich mir Literatur, aber auch ihre Kritik. Denn aus alldem geht schon hervor, daß der Essay, und also auch eine ihm nachschreibende literarische Kritik, daß beide Aktionen sind oder sein wollen, Sprachhandlungen, Sprachtätigkeiten wie die Literatur auch, Argumentationserzählungen, Argumentationsdramen.
Das mag schwärmerisch klingen, hochfahrend und entsprechend ungenau. Zwar läßt sich, was ich meine, auch bescheidener, demütiger ausdrücken, aber eine Arbeitsanweisung für den Rezensentenalltag wird trotzdem nicht daraus. Denn ich wünsche mir, subjektiv und für mich, tatsächlich ein kritisches Lesen und Schreiben, das sich auf immer weniger Bücher immer geduldiger, genauer, neugieriger einlassen könnte, mit immer mehr Zeit für ein Aufschauen vom Buch und Blatt, um aufmerksam zu bleiben für die Bewegung des fremden Textes im eigenen Kopf, für die von ihm aufgereizte, bewegte eigene Lebens- und Lesererfahrung.
Ein solcher langsamer und passionierter Leser und Kritiker muß sich Zutrauen, auch einen scheinbar ganz und gar festgeschriebenen Text immer wieder und sei es nur ahnungsweise zum Schmelzen zu bringen. Er muß versuchen, hinter den Text zu kommen, in jene flirrende, nie ganz aufklärbare Zone, in der das Gedichtete entsteht. Dann kann er auch das eigentlich Vorlaute und Riskanteste wagen, nämlich nicht nur über einen Text, sondern auch von und mit einem Autor reden. Und ich gestehe, daß Textsorten, hinter denen ein Autor und seine Erfahrungen mit der Welt nicht mehr auffindbar sind, daß mich solche kühnen Sprachstilleben wenig und immer weniger reizen, so aufregend, intelligent und zeitgemäß sie gerade wegen dieser hermetischen Qualität auch arrangiert sein mögen.
Ich hänge am Subjekt jeder Rede – womöglich, weil auch diese Subjektivität schon zu einer verlorenen Sache erklärt worden ist – aber ich hänge daran vor allem, weil gerade die literarische Rede alles roh und unmitteilbar Subjektive verwandelt in etwas Verbindliches und Soziales. Wie diese Alchemie wirkt, die private Fakten zu literarischen Fiktionen verwandelt, das beschäftigt mich immer mehr. Ich vermute, für diesen Prozeß gilt Wittgensteins berühmter Satz auf den Kopf gestellt: Worüber man schweigen muß, davon kann man schreiben.
Das ist, ich weiß, eher ein Bekenntnis als ein Programm. Stillschweigend ist damit auch schon bekannt, woran ich nicht hänge, aber ich sollte es deutlicher sagen. Die Götterdämmerung des Großrezensententums etwa erlebe ich ohne Wehmut. Wer diese herrliche und herrische Rolle immer noch spielen will, der wird, ob er will oder nicht – und wahrscheinlich will er ja – unweigerlich zum Animateur, der also das Publikum bei Laune und Stimmung hält, der für Bewegung sorgt, im Publikum, kaum in der Literatur.
Aber ich traue auch nicht den kritischen Konventionen, die sich in dem von der alten Rezensentenherrlichkeit hinterlassenen Machtvakuum ausbreiten. Mich schreckt der Ernst einer akademisch inspirierten bzw. uninspirierten Kritik, die jedes an einem Dienstag erschienene Buch schon am folgenden Samstag zu einem Stück Literaturgeschichte oder zum Exempel für eine gerade tonangebende Literaturtheorie zurechtpräpariert. Und mich reizt und langweilt der Journalismus der Neuen Munterkeit, der auch die Literaturkritik längst überschwemmt hat mit seinen blendenden Launen, seiner Kontaktfreudigkeit und seinem Narzißmus. So gelehrt, gebildet einerseits, so superfrisch und konsumgeil andererseits ist auf deutsch wohl noch nie über Bücher geschrieben worden, aber auch selten so unverbindlich.
Niemand sollte sich einbilden, er könnte sich vor solchen Zeittendenzen ganz und gar retten, in Sicherheit bringen. Aber zu hoffen wäre, daß der eine oder andere von uns sich etwas öfter etwas mehr in Unsicherheit bringen wollte. Auch auf die Gefahr hin, daß alles Abseitsstehen sich immer sehr geschont, kostbar, luxuriös ausnimmt. Aber Kunst und erst recht ein Nachdenken über sie sind ohnehin Luxus. Selbst Brecht hat das am Ende zugegeben, aber hinzugefügt, »daß man für den Überfluß ja lebt«. Sicher käme die Welt ohne Literatur und erst recht ohne Literaturkritik aus, aber noch besser, so Sartre, könnte die Erde ohne den Menschen auskommen. Die Neutronenbombe ist der vollkommene Defätist. Mit ihr sollte niemand konkurrieren wollen.
Ein Wort noch: zur Danksagung gehört rituell die Demutsformel, wie überraschend, wie unverdient das alles wäre. Aber Preise – das macht fast ihre Definition aus – sind natürlich immer unverdient, nämlich mehr als gerechter Lohn, also Zugabe, Überfluß und Luxus. Außerdem erinnert mich das Demutsritual an eine meiner schlesischen Tanten, die gern mehr als ein Gläschen trank, aber das nicht zugeben wollte, also hielt sie über das nachzufüllende Glas Mittel- und Zeigefinger gespreizt zum V-Zeichen, so daß man gut da zwischendurch gießen konnte, aber dazu sagte sie leise und bestimmt: Bitte nein. Ich dagegen möchte schließen mit: Ja danke. Ja zur literarischen Kritik und zum Essay. Danke für den Preis.