Johann-Heinrich-Merck-Preis

STATUT

§ 1
Der Johann-Heinrich-Merck-Preis für literarische Kritik und Essay pflegt seit 1964 das für die Literatur unverzichtbare Gegenüber der herausragenden Literaturkritik und der essayistischen Erkundung intellektuellen Neulands.

Der Preis trägt den Namen von Johann Heinrich Merck als eines Verfassers vorbildlicher Kritiken und Essays.

Der Preis wird von der Merck KGAa gestiftet und ist aktuell mit 20.000 EUR dotiert. Er wird jährlich im Rahmen der Herbsttagung verliehen.

§ 2
Der Johann-Heinrich Merck-Preis wird vergeben für herausragende Leistungen auf dem Gebiet der Literaturkritik und der Essayistik.

§ 3
Das Vorschlagsrecht liegt in den Händen der Jury.

§ 4
Die Jury besteht aus dem Erweiterten Präsidium der Akademie.

Die Jury berät über die Kandidatinnen und Kandidaten in einem mehrstufigen Verfahren.

Beschlossen vom Erweiterten Präsidium am 18. Februar 2021

Peter Demetz

Germanist
Geboren 21.10.1922
Mitglied seit 1977

... dessen Bücher und Kritiken geprägt sind von der Freiheit des Essays, tragend, zweifelnd, neugierig, offen für Widerspruch und Revision.

Jurymitglieder
Juryvorsitz: Präsident Herbert Heckmann
Vizepräsidenten Elisabeth Borchers, Norbert Miller, Ivan Nagel, Beisitzer Iso Camartin, Eckhard Heftrich, Hans Wollschläger

Laudatio von Reinhard Baumgart
Schriftsteller, Literaturkritiker und Theaterkritiker, geboren 1929

Milde und Entschiedenheit

Von den vielen Preisen, die diese Akademie jährlich zu vergeben hat, hätte Peter Demetz mindestens drei verdient und die schon längst. Wer gut drei Jahrzehnte an der Yale University, einer Hochburg amerikanischer Literaturwissenschaft, Germanistik gelehrt und dazu noch einem amerikanischen Publikum in zwei umfänglichen Büchern alle Bewegungen und Zuckungen der deutschen Nachkriegsliteratur nahegebracht hat, der wäre längst ein idealer Kandidat für den Friedrich-Gundolf-Preis gewesen, sowohl in seiner alten engen wie in seiner neuen erweiterten Definition. Wer, zweitens, wie Peter Demetz Buch um Buch, Artikel, ja Satz um Satz gegen das weitverbreitete und keineswegs unbegründete Gerücht angeschrieben hat, Germanisten könnten von Berufs wegen kein Deutsch schreiben, dem hätte man dafür längst mit dem Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa danken müssen. Wer schließlich und drittens sich als Gelehrter nicht nur in fernen Jahrzehnten und Jahrhunderten der deutschen Literatur umgesehen, sondern sich die Neugierde für das Neue und Allerneueste bewahrt hat, um mit allem Risiko seine Urteilskraft daran kritisch zu erproben, der sollte dafür belohnt werden mit dem Johann-Heinrich-Merck-Preis, und das immerhin wird nun heute endlich geschehen.
Trösten wir uns mit der womöglich sogar zutreffenden Vorstellung, daß die Gremien dieser Akademie seit Jahr und Tag verzweifelt ringen mit der Frage, welcher von drei möglichen Preisen Peter Demetz denn vor allem zukommen müßte – eine verzweifelte, weil unlösbare Frage, denn keine Entscheidung und keine Unterscheidung könnte Peter Demetz je ganz gerecht werden, weil sich hinter diesem einem Namen eine Person verbirgt, die sich aus vielen Personen zusammensetzt. Geprägt durch katholische und jüdische Herkunft, politisch wohl am nachdrücklichsten durch die tschechische Republik unter Masaryk, erzogen auf deutschen und tschechischen Gymnasien, in Prag wie in Brünn, ist Peter Demetz aufgewachsen zwischen den Sprachen und Kulturen. Ja, von nahem besehen, ist gerade die deutsche Linie seiner Familie durchaus nicht eindeutig deutsch: die Eltern des Vaters waren aus dem ladinischen Südtirol nach Böhmen ausgewandert, und die Großmutter sprach in der Küche zu sich und den Töpfen immer noch – ladinisch.
Kein Wunder also, daß Peter Demetz jüngst noch bekannt hat, er hätte in seinem Leben genügend Nationalitäten ausprobiert und sie alle wieder an der Garderobe abgegeben. Ein Wunder eher schon, daß der in jungen Jahren zweifach Verfolgte, erst während der deutschen Okkupation der Tschechoslowakei, dann in der aufdämmernden kommunistischen Herrschaft nach dem Krieg, der er sich schon 1949 mit einer Flucht durch die böhmischen Wälder entzieht –, daß dieser früh Verletzte und Entsetzte nie erfahrene Aggression vergelten wollte mit Gegenaggressivität. Schimpfen sei doch kein Argument, sagt er, angesichts der gestauten und sich entladenden Wut anderer Zeugen und Opfer rechten oder linken Terrors. Tatsächlich wird Peter Demetz auch als Kritiker weder wüten noch jubeln, sondern immer argumentieren, leise und insistent. Daß andere »schimpfen« auch aus dem Drang nach gesunder oder ungesunder Triebabfuhr – ihm bleibt das wohl so fremd wie die wärmende Uniform einer Nationalität auf der nackten Haut.
Staunend und bewundernd also liest man heute noch die drei Bücher, mit denen der tschechisch-deutsch-jüdisch-katholisch-republikanisch geprägte Flüchtling seine Entfernung aus Prag und seinen Weg in Germanistik und Kritik Schritt um Schritt markiert. 1953 erscheinen René Rilkes Prager Jahre, eine fast lächelnd erzählte, präzis zweifelnde Biographie jenes René, den Rainer Maria später am liebsten aus seinem Leben getilgt hätte, eine modellhafte Studie zugleich über Rilkes lebenslanges Projekt, sich zu inszenieren als Dichter. Dann folgt Ende der fünfziger Jahre eine atemberaubend geduldige, kenntnisreich unterrichtende und unterscheidende Untersuchung über Marx, Engels und die Dichter. Kein Hauch von Wut und Rache, von Polemik trübt eine Auseinandersetzung, die sich doch insgeheim richtet gegen die damals noch mächtige Schimäre eines sozialistischen Realismus. Unterirdisch, fast unhörbar läuft dieser Streit noch mit in dem knappen, großen Fontanebuch, das sein Programm und damit ein Lebensprogramm des Forschers und Kritikers Demetz zusammenfaßt in dem Titel: Formen des Realismus.
Dieses Werk, genau dreißig Jahre alt, ein Buch »im besten Mannesalter«, wie Goethe sagen könnte, ist jung geblieben wie wenig aus dieser Zeit. Meisterhaft leicht geschrieben, das Unscheinbare, Schwerelose der Fontaneschen Kunst parierend mit einer vergleichbaren Anmut der Analyse, verzaubert diese Studie den Leser mit der Illusion, er selbst würde den gewichtigen ästhetischen, sozialen, historischen Problemstoff so leicht und licht über die Seiten bewegen. Am Ende konfrontiert Demetz seinen Fontane mit den Erzählgiganten des 19. Jahrhunderts, relativiert ihn also im weltliterarischen Maßstab, um doch mit dem Satz zu enden: »Dennoch kann ich mich nicht entschließen, meiner Zuneigung zu ihm zu entsagen.« Ein Peter-Demetz-Satz: passioniert und diskret, mit lächelndem Vorbehalt hingerissen.
Kann man entschiedener und leiser sich entfernen aus Prag als mit diesen drei Büchern, mit dem Abschied von einem rilkesch schwülen fin de siècle, der Absage an eine rot dogmatische Poetik und schließlich dem Bekenntnis zu einem literarischen Brandenburg, das sternenweit weg liegt von goldenem Barock oder Kabbala oder Kafka? Auf der akademischen Landkarte allerdings ist der Weg, den Peter Demetz zurückgelegt hat, der Weg von Prag nach New Haven, so weit nicht: dort führt er nur von den frühen Prager Strukturalisten zur Schule des New Criticism und damit auch zu René Wellek, dem Freund und Mentor, verbunden durch gleiche Herkunft und verwandte Interessen fur die Geschichte der literarischen Kritik und die Probleme literarischer Wertung.
Doch strikt akademisch, als Lust eines Theoretikers auf die Praxis, kann ich mir den lebenslangen Impuls eines Gelehrten, sich kritisch einzulassen auf die neueste Literatur, nicht erklären. Hier liest und schreibt eine Neugier mit, die Peter Demetz auch auf durchaus unakademischen Gebieten nachgesagt wird, als Lust zu reisen, klammheimlich fremd in der Fremde, oder als eine offenbar fast lasterhafte Sucht auf Kino. Ja, ich vermute, daß auch seine frühe Erfahrung, nirgends ganz zu Hause und mit sich selbst nicht ganz und gar identisch zu sein, diese Lesereisen ins Unbekannte und Unerwartete wesentlich motiviert hat. Lesend überprüft dieser Kritiker – wie jeder, der mehr sein möchte als ein Gutachter – seine eigenen Erfahrungen mit den fremden, den imaginierten. Woraus schon folgt, daß für Peter Demetz nicht nur die jeweiligen Werke in Frage stehen, die Glaubwürdigkeit, ja Wahrheit ihrer ästhetischen Struktur, sondern immer auch die Autorenpersonen, deren Lebensgeschichte hineinverflochten ist in die Geschichte dieses Jahrhunderts. Eine autorenlose, eine aus der Geschichte herausgefallene Literatur der namenlosen, nur noch mit sich selbst murmelnden Diskurse – sie würde diesen Neugierigen wohl kaum interessieren.
Das alles verraten andeutend schon die Titel Die süße Anarchie und Fette Jahre, magere Jahre, unter denen diese Erkundungen unserer Gegenwartsliteratur 1970 und 1988 zusammengefaßt wurden. Sie verraten den freundlich befremdeten Blick, die Sympathie wie die Distanz, mit der hier operiert wird. Denn die Bücher wie die Autoren geraten in eine doppelte Perspektive, in eine zarte Zangenbewegung. Überprüft werden sie einmal im Licht (oder im Schatten) der frühen östlichen Erfahrungen des Kritikers, der Erfahrungen mit zwei Glaubens- und Schreckenssystemen, und gemustert werden sie zugleich aus transatlantischer Entfernung, im Maßstab amerikanischer Lese- und Lebenserfahrungen. Wer das nachliest, dem lösen sich die gewohnten, die bundesrepublikanisch geprägten Lesemuster auf. Er staunt, wie unbefangen bei Peter Demetz Autoren wie Enzensberger und Wilhelm Lehmann, Grass und Doderer, Botho Strauß und Heiner Müller zusammen und gegeneinander geführt werden, wie Ideologie zwar wahrgenommen, aber nie ganz ernstgenommen wird, wie der Autor nicht nur uns, sondern auch sich überrascht, mit dem Wechsel seines Pro und Contra.
Man möchte, man könnte zitieren, unendlich, und läßt es dann doch lieber sein. Denn jedes Zitat einer geglückten Formulierung, gar eines Bonmots würde nur täuschen. Es unterschlägt den geduldigen Prozeß der Urteilsfindung, das Hin- und Herwenden der Argumente und Gegenargumente, das Zögern noch in der Entschiedenheit, die Milde auch in der Strenge – kurz: .das Fontanesche Temperament dieses Kritikers. Er bleibt höflich, auch wenn seine Zweifel einmal ausschlagen zu anmutigem Hohn. Höflich heißt: nie werden wir überredet oder gar agitiert. Das letzte Urteil bleibt immer dem Leser überlassen: möge der nachprüfen und notfalls widersprechen.
Peter Demetz, der Kritiker, beteiligt uns an einem Gespräch, das er mit einem Werk, mit einem Autor, aber auch mit sich selbst führt. Das Gespräch bleibt offen, orientiert an der Offenheit des Essays, der auch zu nichts so entschlossen ist wie zu seiner Unendgültigkeit. Populisten mögen das für ein Zeichen von Schwäche und Unentschiedenheit halten. Ich würde es lieber mit Peter Demetz, der diese Formel für den wahrhaft streitbaren Gutzkow geprägt hat, »liberale Energie« nennen.
Solche Zurückhaltung auf festem Standpunkt ist heute selten geworden. Sie wird leicht übersehen, überhört – zu leise, zu altmodisch. So kommt es, daß Peter Demetz zwar scheinbar unermüdlich noch immer in der Jury des Klagenfurter Sängerkriegs und sogar als deren Vorsitzender fungiert, aber doch in dieser Runde erkennbar wird als ein Außenseiter unter lauter Insidern. Da sah ich ihn sitzen, in einem Fernsehbild Ende Juni, als man sich rings um ihn begeisterte über einen Text im kühnsten Design der Saison: gläsern wäre der, schneidend und zerrissen, souverän noch in der Metaebene, eine Collage empfindungslosen Schmerzes – so hörte ich und hörte Peter Demetz eine Suada eilfertiger verbaler Betroffenheit sich entladen.
Dann aber, leise, zögernd, wendete er die Sätze dieses Textes und die der Kollegen um und um und fand zu beiden und zu ihrem Zusammenhang, je mehr er suchte, keinen vertrauenswürdigen Zugang. Nicht einmal sadistisch konnte er das bejubelte Bravourstück finden – »Das Schöne an der sadistischen Literatur ist doch die Phantasie des Lesers,« hörte und sah ich ihn lächelnd murmeln – und dann endlich mußte er seinen Befund aussprechen, noch immer lächelnd und zögernd: »Ich glaube, ich bin entsetzt.«
Ich glaube, ich war entzückt – und in diesem Moment auch überzeugt: allein ein solcher Satz, diese demütig entschlossene Geste des »I beg to differ« wäre heutzutage des Johann-Heinrich-Merck-Preises würdig. Wenn ich mehr Gründe dafür habe andeuten können, umso besser. Doch den Grund dafür, warum ich heute hier rede und warum dieser Versuch eines Porträts vielleicht in einigen Strichen verrutscht ist zum Selbstporträt, möchte ich zum Abschluß nicht verheimlichen. Peter Demetz und ich, wir kennen uns nur wenig und am genausten wohl vom Lesen. Trotzdem – als ich vor einigen Jahren diesen Preis für literarische Kritik erhalten sollte, habe ich mir als Laudator gewünscht: Peter Demetz. Es hat sich damals nicht gefügt. Als nun endlich er an der Reihe war, wollte er als Preisredner: niemand Bestimmten – doch bestimmt wurde ich. Das mag man eine glückliche Fügung nennen oder eine Wiedergutmachung oder gar eine Rache des Schicksals. Sollte es letztere sein, dann erkenne ich endlich einen Sinn in dem eigentlich widerwärtigen Satz: Rache ist süß.
Denn ich freue mich, daß ich nun als erster Peter Demetz beglückwünschen darf zu dieser, ihm so lange vorenthaltenen Ehrung.